TE Vfgh Erkenntnis 1987/11/27 B1207/86

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Veröffentlicht am 27.11.1987
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Index

22 Zivilprozeß, außerstreitiges Verfahren
22/02 Zivilprozeßordnung

Norm

ZPO §146 Abs1

Leitsatz

Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist; nur minderer Grad des Versehens seitens eines Mitarbeiters des Beschwerdevertreters; Stattgebung des Antrags einem Anlaßfall gleichzuhaltender Fall; Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (nach Aufhebung des §1 Abs1 Z1 GrEStG als verfassungswidrig) - offenkundig nachteilige Gesetzesanawendung

Spruch

I. Dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Erhebung der Beschwerde wird stattgegeben.

II. Die bf. Gesellschaft ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, der bf. Gesellschaft zuhanden des Beschwerdevertreters die mit 11.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit ihrem am 11. Dezember 1986 beim VfGH eingelangten Schriftsatz beantragte die bf. Gesellschaft die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist und erhob gleichzeitig Beschwerde gegen einen Bescheid der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland vom 2. Oktober 1986, mit dem ihr für den Kauf einer Liegenschaft Grunderwerbsteuer gemäß §1 Abs1 Z1 GrEStG in Anwendung des §4 Abs2 GrEStG vorgeschrieben wurde. Die Zustellung des bekämpften Bescheides erfolgte am 22. Oktober 1986.

II. Zum (rechtzeitig eingebrachten) Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird vorgebracht, daß durch ein Versehen der äußerst gewissenhaften und seit Jahren fehlerfrei arbeitenden Angestellten des Beschwerdevertreters im Vormerkkalender der Rechtsanwaltskanzlei als Ende der sechswöchigen Frist für die Einbringung einer Beschwerde an den VfGH bzw. VwGH der 4. Dezember 1986 anstatt richtig der 3. Dezember 1986 vorgemerkt worden sei. In der Kanzlei des Beschwerdevertreters finde überdies eine zweite Terminkontrolle durch den Kanzleileiter statt, der früher Rechtspfleger im Exekutionsgericht Wien und anschließend mehrere Jahre Grundbuchsführer war. Aufgrund seiner qualifizierten Ausbildung genieße er das volle Vertrauen des Beschwerdevertreters im Rahmen der Überwachung des Kanzleipersonals. Er übe diese Tätigkeit in der Kanzlei des Beschwerdevertreters bereits seit 10 Jahren aus, ohne daß ihm bisher ein derartiger Fehler unterlaufen wäre.

Der den beiden Angestellten unterlaufene Irrtum sei vom Beschwerdevertreter anläßlich der Korrektur der bereits früher diktierten Beschwerde am 4. Dezember 1986 festgestellt worden.

2. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist ist begründet.

Da das VerfGG 1953 in seinem §33 die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht selbst regelt, sind nach §35 dieses Gesetzes die entsprechenden Bestimmungen des §146 Abs1 ZPO idF der Zivilverfahrens-Nov. 1983, BGBl. 135/1983, sinngemäß anzuwenden: Danach ist einer Partei, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein "unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis" an der rechtzeitigen Vornahme einer befristeten Prozeßhandlung verhindert wurde und die dadurch verursachte Versäumung für sie den Rechtsnachteil des Ausschlusses von der vorzunehmenden Prozeßhandlung zur Folge hatte. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.

Unter "minderem Grad des Versehens" ist nach der Rechtsprechung des VfGH leichte Fahrlässigkeit zu verstehen, die dann vorliegt, wenn ein Fehler unterläuft, den gelegentlich auch ein sorgfältiger Mensch begeht (vgl. VfSlg. 9817/1983).

Nach dem vom VfGH als glaubhaft angenommenen Vorbringen des Beschwerdevertreters kann das Verschulden der Kanzleikraft, für die die Verschuldensregelung des §146 Abs1 ZPO gleichfalls gilt (§39 ZPO; vgl. VfGH 23. 2. 1985, B783/84 = VfSlg. 10345/1985), bei der Vormerkung des Endes der Beschwerdefrist - unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Falles - nur als leichte Fahrlässigkeit angesehen werden. Unter den vorliegenden Umständen kann nicht davon gesprochen werden, daß nicht auch einem sorgfältig arbeitenden Menschen eine derartige Fehlleistung gelegentlich unterlaufen kann (vgl. VfSlg. 10771/1986).

Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist daher zu bewilligen.

III. 1. Infolge der bewilligten Wiedereinsetzung sind die Rechtsfolgen der Säumnis der bf. Gesellschaft beseitigt. Durch die Bewilligung tritt nämlich der Rechtsstreit in die Lage zurück, in welcher er sich vor dem Eintritt der Versäumung befunden hat (§150 Abs1 ZPO). Die - gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag gesetzte - Prozeßhandlung ist als rechtzeitig gesetzt anzusehen (vgl. Fasching, Lehrbuch des Österreichischen Zivilprozeßrechts, 1984, 273). Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, daß die Beschwerde als innerhalb der am 3. Dezember 1986 endenden sechswöchigen Beschwerdefrist eingebracht anzusehen ist (vgl. VfGH v. 3. 10. 1987, B 1193,1194/86).

2. Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 10. Dezember 1986, G167/86 (und Folgezahlen) = VfSlg. 11190/1986, §1 Abs1 Z1 des Grunderwerbsteuergesetzes, BGBl. 140/1955, als verfassungswidrig aufgehoben.

Gemäß Art140 Abs7 B-VG ist ein vom VfGH aufgehobenes Gesetz im Anlaßfall nicht mehr anzuwenden. Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH sind einem Anlaßfall (im engeren Sinne) jene Fälle gleichzuhalten, die im Zeitpunkt des Beginns der mündlichen Verhandlung über eine für das anhängige Verfahren präjudizielle Gesetzesstelle bereits beim VfGH anhängig sind (vgl. zB VfSlg. 10616/1985 und VfSlg. 11190/1986).

Die mündliche Verhandlung vor dem VfGH im Verfahren G167/86 ua hat am 5. Dezember 1986 stattgefunden.

Für die Qualifikation der Rechtssache als Anlaßfall im Sinn der wiedergegebenen Judikatur bewirkt die bewilligte Wiedereinsetzung, daß die Beschwerde als am letzten Tag der sechswöchigen Beschwerdefrist, das war nach der Aktenlage in concreto der 3. Dezember 1986, eingebracht anzusehen ist. Es wirkt die Gesetzesaufhebung daher auch für diese Rechtssache (vgl. VfGH v. 3. 10. 1987, B 1193,1194/86).

3. Der angefochtene Bescheid ist in Anwendung der als verfassungswidrig aufgehobenen Bestimmung ergangen und vermag sich ausschließlich auf diese Bestimmung zu stützen. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, daß sich diese Gesetzesanwendung für die bf. Gesellschaft als nachteilig erweist. Die bf. Gesellschaft ist demnach durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden. Der Bescheid war daher aufzuheben.

IV. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z3 und §33 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000 S enthalten.

Schlagworte

VfGH / Wiedereinsetzung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:B1207.1986

Dokumentnummer

JFT_10128873_86B01207_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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