Index
L8 Boden- und VerkehrsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / AnlaßfallLeitsatz
Rechtsverletzung Anlaßfallwirkung der Aufhebung der Wortfolge "oder die Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfes" in §21 Abs5 Z2 NÖ ROG 1976, LGBl. 8000-5, mit Ev 01.03.90, G319/89.Spruch
Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Niederösterreich ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres Vertreters die mit 30.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Mit Beschluß vom 25. Februar 1988 änderte der Gemeinderat der Stadtgemeinde Gänserndorf das örtliche Raumordnungsprogramm ua. insofern ab, als a) im Bereich des Grundstücks Nr. 1267 der Katastralgemeinde Gänserndorf die Widmungs- und Nutzungsart "Bauland-Einkaufszentrum" (anstelle von "Grünland-Landwirtschaft") und b) für den anschließenden Bereich zwischen der Bundesstraße 8 und den Landeshauptstraßen 9 und 11 die Widmungs- und Nutzungsart "Bauland-Betriebsgebiet" (anstelle "Grünland-Landwirtschaft") festgelegt wurden.
1.1.2. Die Niederösterreichische Landesregierung versagte dieser Verordnung mit Bescheid vom 21. Februar 1989, Z R/1-R-111/16, gemäß §21 Abs5 Z2 und Abs7 iVm §22 Abs3 des Niederösterreichischen Raumordnungsgesetzes 1976 (NÖ ROG 1976) die aufsichtsbehördliche Genehmigung, und zwar im wesentlichen mit folgender Begründung:
" . . . Durch den Sachverständigen wurden . . . Anfang Februar 1988 in Gänserndorf und in den angrenzenden Gemeinden lokale Erhebungen und Beobachtungen zur Situation der Nahversorgung durchgeführt. Der äußere (optische) Eindruck der Geschäfte und die Beobachtung des Geschäftslebens (Befragungen wurden nicht durchgeführt) bestätigten im Großen und Ganzen die Untersuchung der Standort- und Marktberatungsges.m.b.H sowie auch die Befürchtungen und massiven Einsprüche gegen die Errichtung eines Einkaufszentrums in Gänserndorf.
Die große Zahl, die Branchenvielfalt und der Spezialisierungsgrad der Geschäfte von Gänserndorf, die im Ortszentrum Bahnstraße-Hauptstraße vorhanden sind, weisen auf die große übergemeindliche Bedeutung von Gänserndorf als Einkaufsort hin.
Derzeit bestehen vier Supermärkte, welche mit Sicherheit in die Nahversorgung der umgebenden Gemeinden eingreifen. Sie haben übergemeindliche Bedeutung und sind zum Teil erst in jüngster Zeit errichtet worden. Das Nahversorgungsgefüge in den umgebenden Gemeinden befindet sich derzeit anscheinend . . . in einer schwierigen 'Reaktionsphase' auf diese gravierende Strukturveränderung im Distributionsbereich wie auch im Konsumverhalten der Bevölkerung. Die Supermärkte der Firmen K und B sind in den Hauptgeschäftsstraßen situiert, jener der Firma L zentrumsnahe gegen den Bahnhof und der Markt der Firma H hat seinen Standort außerhalb des Zentrums an der B8 am östlichen Ortseingang von Gänserndorf. Der letztgenannte Standort ist aus übergemeindlicher Sicht besonders verkehrsgünstig und in hohem Maße an Kunden orientiert, die mit Kraftfahrzeugen diesen Markt besuchen. Dies wurde durch eine halbstündige Beobachtung des Käuferverhaltens bestätigt. Der Standort des geplanten Einkaufszentrums ist aus überörtlicher Sicht besonders verkehrsgünstig und sind daher jedenfalls größere Auswirkungen auf die durch die B8, LH 9 und LH 10 angebundenen Gemeinden zu erwarten als sie etwa derzeit von dem im Zentrum gelegenen K ausgehen.
Bei der Besichtigung der Nahversorgungssituation in den Gemeinden der Umgebung von Gänserndorf wurde festgestellt, daß fast alle Siedlungen wenigstens noch ein Lebensmittelgeschäft aufweisen, es sich aber um kleine und kleinste Betriebe handelt. Dies und die meist relativ niedrigen Einwohnerzahlen der zuzuordnenden Siedlungen (oft nur knapp 300 Einwohner) deuten darauf hin, daß es sich um 'Minderbetriebe' handelt bzw. diese Lebensmittel- und Gemischtwarengeschäfte keine ausreichende oder alleinige Existenzbasis bieten. Diese reagieren auf Strukturveränderungen im Handel besonders sensibel und sind für Geschäftsschließungen besonders anfällig. Wissenschaftlichen, schon vor einigen Jahren durchgeführten Berechnungen zufolge . . . (sind) für einen modernen, rentablen Lebensmittel- und Gemischtwarenbetrieb, der einen der allgemeinen Einkommenslage und dem erforderlichen Zeitund Müheaufwand entsprechenden Ertrag abwirft, rund 1000 Einwohner im Einzugsbereich erforderlich. Nach empirischen Untersuchungen dürfte in Niederösterreich dieser Einwohnerwert einstweilen noch niedriger anzusetzen sein, jedoch nicht unter 500 bis 600 Einwohnern. Aus der Relation der Einwohnerzahl in den Siedlungen zu den Lebensmittel- und Gemischtwarengeschäften erscheinen die Betriebe in Stripfing, Zwerndorf, Baumgarten, Oberweiden, Schönfeld, Mannersdorf/March, Stillfried und Grub stark gefährdet und können den Betriebsinhabern nicht die alleinige ausreichende Existenzgrundlage bieten. Jeder weitere Kaufkraftabfluß könnte dort zu Geschäftsschließungen führen. Außerdem sind als Folge der Ansiedlung von Supermärkten in Gänserndorf in der jüngsten Zeit in diesen kleinen, aber auch in den anderen größeren Siedlungen des Gänserndorfer Umlandes Strukturveränderungen zu erwarten. Die Errichtung eines zusätzlichen Einkaufszentrums könnte aber bei der schon derzeit angespannten Situation unkontrollierbar und lawinenartig eine negative Entwicklung in der Nahversorgung der Umgebung von Gänserndorf auslösen, sodaß die Errichtung eines Einkaufszentrums in Gänserndorf aus überörtlicher Sicht in die bisherige geordnete wirtschaftliche Entwicklung eingreift und die Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfes anderer Gemeinden wesentlich beeinträchtigt.
Nach dem verkehrstechnischen Gutachten vom 19. Jänner 1988 erscheint die vorgesehene Erschließung des geplanten Einkaufszentrumsbereiches aus verkehrstechnischer Sicht im wesentlichen unbedenklich. Einer (gemeint wohl: Bei) Realisierung des Vorhabens sind jedoch verschiedene verkehrsplanerische und verkehrstechnische Aspekte zu berücksichtigen.
Für die erforderlichen Infrastrukturmaßnahmen (Verkehrserschließung, Kanal- und Wasserversorgung) liegt nur teilweise ein Kostenrahmen vor.
Da es sich hiebei um umfangreiche und kostenintensive Maßnahmen handelt, kann nicht ausgeschlossen werden, daß diese einen finanziellen Aufwand zur Folge hätten, durch den die Erfüllung der gesetzlichen oder vertraglichen Verpflichtungen der Gemeinde gefährdet wäre.
Abschließend kommt der Amtssachverständige daher in seinem Gutachten zum Ergebnis, daß zu den beantragten Änderungen nach den Bestimmungen des NÖ ROG 1976 mehrfach Tatbestände vorliegen, welche im Widerspruch zu den Bestimmungen dieses Gesetzes stehen.
Dieses Ergebnis der Begutachtung wurde der Stadtgemeinde Gänserndorf . . . bekanntgegeben, gleichzeitig mitgeteilt, daß deshalb den geplanten Änderungen des örtlichen Raumordnungsprogrammes die aufsichtsbehördliche Genehmigung versagt werden müßte.
Gemäß §21 Abs6 dieses Gesetzes wurde dem Gemeinderat die Gelegenheit eingeräumt, hiezu innerhalb einer Frist von acht Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.
Der Gemeinderat der Stadtgemeinde Gänserndorf hat sich in seiner Sitzung vom 19. August 1988 mit dem Gutachten des Amtssachverständigen bzw. den durch die Abteilung R/1 daraus gezogenen Schlußfolgerungen eingehend befaßt und stimmenmehrheitlich beschlossen, auf den geplanten Änderungen zu beharren.
Hiezu hat der Amtssachverständige der Abteilung R/2 in seinem Gutachten vom 9. Dezember 1988 festgestellt, daß dieser Gemeinderatsbeschluß die entwicklungsbedingten Veränderungen seit der Erlassung des örtlichen Raumordnungsprogrammes klarstellt und auch näher auf die Erschließung, die technische Infrastruktur sowie auch auf die finanziellen Auswirkungen eingeht.
Die Aussagen dieses Gemeinderatsbeschlusses zur Frage der
Nahversorgungsverträglichkeit des geplanten Einkaufszentrums
bestätigen die bereits vorhandene schwierige Situation der
Nahversorgung und der Kaufkraftabflüsse im Umgebungsbereich des
Einkaufszentrums. Sie liefern jedoch keinerlei weitere Unterlagen
dafür, daß durch die zusätzliche Errichtung eines Einkaufszentrums
mit einer geplanten Verkaufsfläche von rund 2000 m2 keine
wesentliche Gefährdung der Nahversorgung anderer Gemeinden gegeben
ist. Sie entkräften daher nicht die Feststellungen des Gutachtens
. . . , wonach augenscheinlich ist, daß die vorhandenen
Nahversorger bereits an der Untergrenze einer Weiterführung der Betriebe angelangt sind und daher jede zusätzliche Gefährdung durch attraktive Einkaufsmöglichkeiten die Aufgabe dieser Betriebe in greifbare Nähe rückt.
Die Abteilung R/1 ist auf Grund dieser durchaus schlüssigen
Feststellungen des Amtssachverständigen der Ansicht, daß durch die
geplante Festlegung der Widmungs- und Nutzungsart
Bauland-Einkaufszentrum für das Grundstück Nr. 1267, KG Gänserndorf,
und die damit mögliche Errichtung eines Einkaufszentrums die
Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfes anderer Gemeinden
wesentlich beeinträchtigt wird. . . "
1.2.1. Gegen den Bescheid der Landesregierung erhob die Stadtgemeinde Gänserndorf die vorliegende, auf Art144 (Abs1) B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der sie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung eines gegen die Kompetenznorm des Art10 Abs1 Z8 B-VG verstoßenden und darum verfassungswidrigen Landesgesetzes (nämlich des §21 Abs5 Z2 NÖ ROG 1976) sowie im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Selbstverwaltung (Art116 Abs1, 118 Abs4, 119a Abs8 iVm Abs9 B-VG) behauptete und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes, hilfsweise die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof begehrte.
1.2.2. Die Niederösterreichische Landesregierung als belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift und trat darin für die Abweisung der Beschwerde ein.
2.1.1. Aus Anlaß dieser - zulässigen (s. VfGH 1.3.1990 G319/89) - Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof von Amts wegen mit Beschluß vom 28. September 1989, B419/89-10, ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Wortfolge "oder die Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfes" in §21 Abs5 Z 2 NÖ ROG 1976, LGBl. 8000-5, ein.
2.1.2. Mit Erkenntnis vom 1. März 1990, G319/89, wurde die in Prüfung gezogene Bestimmung des NÖ ROG 1976 als verfassungswidrig aufgehoben und zugleich verfügt, daß diese Aufhebung mit Ablauf des 28. Februar 1991 in Kraft tritt. Ferner erging die Anordnung, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit zu treten haben.
2.2. Gemäß Art140 Abs7 Satz 2 B-VG ist die als verfassungswidrig aufgehobene Wortfolge in §21 Abs5 Z2 NÖ ROG 1976, auf die sich der hier angefochtene Bescheid ua. gestützt hatte, im vorliegenden Verfahren nicht (mehr) anzuwenden. Es ist nun nach Lage des Falles nicht von vornherein ausgeschlossen, daß die Anwendung dieser Gesetzesvorschrift im Administrativverfahren für die Rechtsposition der Beschwerdeführerin nachteilig war (s. auch: VfGH 24.9.1987 B785/86).
Demgemäß hatte der Verfassungsgerichtshof auszusprechen, daß die Beschwerdeführerin durch den angefochtenen Bescheid wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt wurde.
Der Bescheid ist somit aufzuheben.
2.3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 5000 S enthalten.
2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z3 VerfGG 1953 idF BGBl. 297/1984 in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
Schlagworte
VfGH / AnlaßfallEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1990:B419.1989Dokumentnummer
JFT_10099699_89B00419_00