TE OGH 2021/9/22 18OCg2/21z

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Veröffentlicht am 22.09.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie den Senatspräsidenten Dr. Veith, die Hofräte Hon.-Prof. PD Dr. Rassi und Mag. Painsi und die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei *, Mexiko, vertreten durch die Oblin Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen die beklagte Partei *, wegen Aufhebung eines Schiedsspruchs (Streitwert 41.835.685,80 EUR), in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Klage wird als nicht zur Bestimmung einer Tagsatzung für die mündliche Verhandlung geeignet zurückgewiesen.

Der Antrag der klagenden Partei auf Bewilligung der Verfahrenshilfe wird abgewiesen.

Text

Begründung:

[1]       Zwischen den Parteien war bei der war bei der Internationalen Schiedsinstitution der Wirtschaftskammer Österreich (Vienna International Arbitral Centre, „VIAC“ ) zu Fall Nr *, ein Schiedsverfahren mit Schiedsort Wien anhängig.

[2]       Gegenstand dieses Schiedsverfahrens sind Ansprüche aus einem von der mexikanischen Schiedsklägerin (nun Aufhebungsklägerin) als Kreditnehmerin und der (im Schiedsverfahren wie im Aufhebungsverfahren) beklagten österreichischen Bank abgeschlossenen Kreditvertrag.

[3]       Im Schiedsverfahren machte die Klägerin (als Schiedsklägerin/-widerbeklagte) gegenüber der Beklagten (als Schiedsbeklagte/-widerklägerin) 41.835.685,80 EUR an Schadenersatzansprüchen wegen rechtswidriger Vertragsbeendigung geltend. Die Beklagte brachte eine Schiedswiderklage auf 3.075.192,72 EUR an offenem Kreditsaldo ein (Schiedsspruch Beilage ./N).

[4]       Mit Schiedsspruch vom * wies das Schiedsgericht (Einzelschiedsrichter *) das Schiedsklagebegehren ab, gab dem Schiedswiderklagebegehren Folge und verpflichtete die Klägerin zum Kostenersatz ( ./N).

[5]       Die Klägerin begehrt die Aufhebung dieses Schiedsspruchs. Zugleich beantragt sie die Bewilligung der Verfahrenshilfe in vollem Umfang (ON 1).

I. Zur Schiedsklage:

Rechtliche Beurteilung

[6]             1. Die Aufhebungsklage ist schon aufgrund des Vorbringens als nicht zur Bestimmung einer Tagsatzung für die mündliche Verhandlung geeignet zurückzuweisen.

[7]             1.1. Bei Aufhebungsklagen findet in Analogie zu § 538 ZPO ein Vorprüfungsverfahren statt (RS0132276). Wenn der Kläger keinen tauglichen Aufhebungsgrund behauptet, ist die Klage ohne Durchführung eines Verbesserungsverfahrens zurückzuweisen (18 Ocg 1/20a; 18 Ocg 5/20i).

[8]             1.2. Die Aufhebungsklägerin macht im vorliegenden Fall schwerwiegende Verfahrensverstöße, insbesondere die Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Gebots der fairen Behandlung sowie einen Verstoß des Schiedsspruchs gegen den ordre public geltend. Die beanstandeten Tatsachen subsumiert sie für sich genommen und/oder in der Zusammenschau mit jeweils anderen Umständen unter einen oder mehrere der Aufhebungsgründe des § 611 Abs 2 Z 2, Z 6 und Z 8 ZPO.

[9]       Selbst wenn sich die Sachverhaltsbehauptungen in der Aufhebungsklage als richtig erweisen sollten, wären die Tatbestandsvoraussetzungen der geltend gemachten Aufhebungsgründe nicht erfüllt. Dazu werden die Vorwürfe im Folgenden einzeln dargestellt.

[10]            2. Die Klägerin behauptet zunächst mehrere schwere Verfahrensmängel und qualifiziert diese als Verletzung des rechtlichen Gehörs iSd § 611 Abs 2 Z 2 ZPO.

[11]            2.1. Vorauszuschicken ist, dass ein Schiedsspruch gemäß § 611 Abs 2 Z 2 ZPO dann aufzuheben ist, wenn eine Partei von der Bestellung eines Schiedsrichters oder vom Schiedsverfahren nicht gehörig in Kenntnis gesetzt wurde oder sie aus einem anderen Grund ihre Angriffs- oder Verteidigungsmittel nicht geltend machen konnte. Die Judikatur des Obersten Gerichtshofs zu § 611 Abs 2 Z 2 ZPO ist insofern restriktiv, als grundsätzlich keine Verletzung des rechtlichen Gehörs anzunehmen ist, wenn das Schiedsgericht Beweisanträge ignoriert oder zurückweist oder sonst den Sachverhalt unvollständig ermittelt hat. Nur im Fall einer willkürlich lücken- oder mangelhaften Sachverhaltsermittlung oder -feststellung sowie einer lückenhaften Erörterung rechtserheblicher Tatsachen bzw eines willkürlichen Übergehens, Ignorierens oder Zurückweisens von Beweisanträgen kann ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs bejaht werden (18 Ocg 1/19z mwN; 18 Ocg 5/20i; vgl auch RS0045092).

[12]            2.2. Die Klägerin wirft dem Schiedsgericht konkret vor, ihr das „Aussagerecht verweigert“ zu haben (ON 1 Rz 11). Das Schiedsgericht habe nämlich jene Zeugenaussagen völlig außer Acht gelassen, die die Klägerin statt der vom Schiedsgericht aufgetragenen Urkundenvorlage vorgelegt habe (ON 1 Rz 19).

[13]     Gemäß Art 28 Abs 1 Satz 1 der hier maßgeblichen Wiener Regeln 2018 hat das Schiedsgericht das Verfahren unter Beachtung der Wiener Regeln und der Vereinbarungen der Parteien, im Übrigen jedoch in Übereinstimmung mit § 594 Abs 1 ZPO nach seinem freien Ermessen durchzuführen, wobei es an den fundamentalen Grundsatz der fairen Behandlung der Parteien gebunden ist (§ 594 Abs 2 ZPO; 18 ONc 1/17t; 18 ONc 3/20s mwN). Es ist gemäß Art 28 Abs 2 Wiener Regeln 2018 nach Vorankündigung unter anderem berechtigt, Vorbringen der Parteien, die Vorlage von Beweismitteln und Anträge auf Aufnahme von Beweisen nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt des Verfahrens zuzulassen.

[14]     Insbesondere unter Berücksichtigung dieses weiten Ermessensspielraums in dieser Schiedsordnung legt das Vorbringen in der Aufhebungsklage keine willkürliche Zurückweisung von Beweismitteln dar. Vielmehr ergibt sich bereits aus dem Vorbringen der Klägerin selbst, dass sie dem Schiedsgericht nicht die aufgetragenen Urkunden, sondern andere Beweismittel vorlegte. Weitere Umstände, aus denen sich eine Unsachlichkeit dieses Aktes der Prozessleitung durch das Schiedsgericht ableiten ließe, zeigt die Klägerin nicht auf.

[15]            2.3. Die Klägerin wirft dem Schiedsgericht weiters vor, dass sie zu einer schriftlichen Stellungnahme der Beklagten zu einem Beweisstück der Klägerin nicht ebenfalls schriftlich, sondern erst in der Verhandlung replizieren habe dürfen (ON 1 Rz 20–22).

[16]     Die Klägerin gesteht damit selbst zu, dass sie sich im Schiedsverfahren zu dem Beweisstück äußern konnte – wenn auch in anderer Form als die Beklagte. Damit stellt auch dieser Vorwurf nicht schlüssig eine Verletzung des rechtlichen Gehörs iSd § 611 Abs 2 Z 2 ZPO dar (vgl RS0045092 [T4]).

[17]            2.4. Das Hauptaugenmerk der Aufhebungsklage im Hinblick auf § 611 Abs 2 Z 2 ZPO liegt auf einer vom Schiedsgericht nicht zugelassenen Änderung des Schiedsklagebegehrens. Neue Tatsachen hätten Auswirkungen auf den Rechtsstreit gehabt. Trotzdem habe das Schiedsgericht den Antrag abgewiesen und die damit vorgelegten Beilagen zurückgewiesen. Es hätte der Klägerin nur eine Klageeinschränkung gestattet (ON 1 Rz 24–28, 34–44).

[18]     Die Klägerin vertritt die Rechtsansicht, dass es einen Aufhebungsgrund wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs bilde, wenn das Schiedsgericht ein Vorbringen wegen Verspätung zurückweise. Dafür führt sie deutsche Literatur ins Treffen (VoitinMusielak/Voit, ZPO18 § 1059 Rz 13), die im vorliegenden Fall jedoch nicht einschlägig ist.

[19]     In diesem Zusammenhang ist nämlich zu beachten, dass nach der (im Übrigen nur dispositiven) Regelung in der deutschen ZPO ein Schiedsgericht die Änderung der Schiedsklage nur dann als verspätet zurückweisen darf, wenn sie nicht genügend entschuldigt ist. § 1046 Abs 2 dZPO lautet: „Haben die Parteien nichts anderes vereinbart, so kann jede Partei im Laufe des schiedsrichterlichen Verfahrens ihre Klage oder ihre Angriffs- und Verteidigungsmittel ändern oder ergänzen, es sei denn, das Schiedsgericht lässt dies wegen Verspätung, die nicht genügend entschuldigt wird, nicht zu.

[20]     Schon in dem sonst wortgleichen österreichischen Pendant dieser Regelung in § 597 Abs 2 ZPO fehlt die Passage zur genügenden Entschuldigung. Der österreichische Gesetzgeber sah – einer Empfehlung der Arbeitsgruppe des Ludwig Boltzmann Instituts für Rechtsvorsorge und Urkundenwesen folgend – bewusst von ihr ab, weil sie als unpassend empfunden wurde (ErläutRV 1158 BlgNR 22. GP 19). Die Zulässigkeit einer Klageänderung bzw -ergänzung oder ergänzenden Vorbringens ist daher nicht mit Blick auf subjektive Kriterien der Schiedsparteien, sondern ausschließlich unter Bedachtnahme auf den bisherigen Stand und Gegenstand des Verfahrens zu beurteilen. In der Literatur wird darauf hingewiesen, dass in diesem Zusammenhang auch das schutzwürdige Interesse der Schiedsrichter zu beachten ist, insbesondere bei Klageänderungen nicht in ein Verfahren hineingezogen zu werden, dessen Durchführung sie im ursprünglichen Schiedsrichtervertrag nicht bzw nicht zu denselben Bedingungen zugestimmt hätten (Hausmaninger in Fasching/Konecny3 IV/2 § 597 ZPO Rz 54 mwN). Schon das österreichische dispositive Recht räumt dem Schiedsgericht damit einen großen Ermessensspielraum bei Klageänderungen ein (Hausmaninger in Fasching/Konecny3 § 597 ZPO Rz 54; Nueber in Höllwerth/Ziehensack, ZPO § 597 Rz 7; Zeiler, Schiedsverfahren² § 597 Rz 4a). Dabei wird insbesondere ein Verstoß gegen das vom Schiedsgericht festgelegte Verfahrensprogramm und die damit verbundene Erhöhung der Schiedsverfahrenskosten ein Grund sein, eine Änderung oder Ergänzung des Parteienvorbringens zu versagen (Nueber in Höllwerth/Ziehensack, § 597 ZPO Rz 7; Aschauer/Neumayr, Austrian Arbitration Law in Motion [2020] Rz 279).

[21]     Die Wiener Regeln 2018 enthalten keine gesonderte Regelung für eine Klageänderung, sodass das Schiedsgericht nach der Generalklausel des Art 28 WR 2018 auch über deren Zulassung nach seinem Ermessen entscheiden kann.

[22]     Ein Ermessensmissbrauch durch Willkür wird in der Aufhebungsklage nicht nachvollziehbar behauptet. Aus der Aufhebungsklage ergibt sich auch nicht, wieso die Klägerin ihren Antrag auf Klageänderung erst neun Monate nach Einbringung der Schiedsklage und nur eine Woche vor Beginn der mündlichen Verhandlung einbrachte (./N Rz 103, 118). Damit stellt die Aufhebungsklage den Aufhebungsgrund nicht einmal nach dem Maßstab der klageänderungsfreundlichsten Regelung in der deutschen ZPO schlüssig dar.

[23]            2.5. Schließlich argumentiert die Klägerin einerseits, dass die Erwähnung des Antrags auf Klageänderung im Schiedsspruch belege, dass das Schiedsgericht die neuen Tatsachen dem Schiedsspruch zugrunde gelegt habe, obwohl sich die Parteien dazu nicht äußern hätten dürfen (ON 1 Rz 48–49). Andererseits bringt sie vor, dass das Schiedsgericht das Vorbringen zu den neuen Tatsachen übersehen habe. Hätte es dieses berücksichtigt, wäre der Ausgang des Rechtsstreits ein anderer gewesen (ON 1 Rz 52).

[24]     Wie von der Klägerin in der Aufhebungsklage vorgebracht (ON 1 Rz 34) und auch aus dem Schiedsspruch eindeutig erkennbar (./N Rz 103–114, insb 114), ließ das Schiedsgericht die von der Klägerin angestrebte Änderung ihres Schiedsklagebegehrens nicht zu.

[25]     Die Aufhebungsklage bringt nicht nachvollziehbar zum Ausdruck, wieso die Erwähnung dieses Umstands im Schiedsspruch – konkret nur in Kapitel 3, also der Zusammenfassung des Ablaufs des Schiedsverfahrens – das Gehör der Parteien verletzen soll.

[26]     Noch weniger lässt sich aus der Aufhebungsklage erkennen, wieso die Klägerin in der Nichtbeachtung des zurückgewiesenen Vorbringens ein Übersehen des Schiedsgerichts vermutet.

[27]            2.6. Die Klägerin stellt daher mit keinem der behaupteten Verfahrensmängel schlüssig eine Gehörverletzung iSd § 611 Abs 2 Z 2 ZPO dar.

[28]            3. Die Klägerin subsumiert die angeblichen Verfahrensverstöße zwar nur unter den Aufhebungsgrund des § 611 Abs 2 Z 2 ZPO (rechtliches Gehör). Sie lässt dabei jedoch wiederholt anklingen, dass das Schiedsgericht die Parteien unterschiedlich behandelt habe, was einen Verstoß gegen den verfahrensrechtlichen ordre public iSd § 611 Abs 1 Z 5 ZPO verwirklichen könnte. Aus diesem Grund wird auch geprüft, ob sich dieser Aufhebungsgrund schlüssig aus dem Klagevorbringen ableiten lässt.

[29]            3.1. Gemäß § 611 Abs 2 Z 5 ZPO ist ein Schiedsspruch dann aufzuheben, wenn das Schiedsverfahren in einer Weise durchgeführt wurde, die Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung (ordre public) widerspricht. Dieser Aufhebungstatbestand erfasst nur Verfahrensfehler, die so krass sind, dass sie von der Rechtsordnung nicht mehr hingenommen werden sollten (vgl RS0133251). Der Aufhebungstatbestand des § 611 Abs 2 Z 5 ZPO ist daher grundsätzlich restriktiv auszulegen (18 Ocg 6/18h). Nur ein Mangel des Schiedsverfahrens, der einem Nichtigkeitsgrund der ZPO gleichkommt, kann zur Aufhebung führen (18 Ocg 1/20a mwN; kritisch zur Bezugnahme auf die Nichtigkeitsgründe im staatlichen Gerichtsverfahren Auernig, Neue Wege bei der Beurteilung von Gehörsverstößen in Schiedsverfahren, JBl 2018, 221 [222 ff]).

[30]     Gemäß § 594 Abs 2 erster Satz ZPO sind die Parteien fair zu behandeln. Bei diesem Gebot handelt es sich um eines der bedeutsamsten Verfahrensprinzipien, das während des gesamten Schiedsverfahrens zwingend zu beachten ist. Es umfasst als Teilaspekt die Gleichbehandlung der Parteien und ist Teil des verfahrensrechtlichen ordre public (§ 611 Abs 2 Z 5 ZPO). Die Bezugnahme auf „Fairness“ anstelle auf „Gleichheit“ in § 594 Abs 2 ZPO macht deutlich, dass nicht lediglich auf eine „formale Gleichheit“ abgestellt werden soll. Faire Behandlung bedeutet außerdem nicht, dass beide Parteien tatsächlich im gleichen Maße an dem Verfahren beteiligt waren. Entscheidend ist, dass einer Partei eine faire Möglichkeit zur Teilnahme am Verfahren eröffnet wurde (18 ONc 3/20s mwN; 18 OC  5/20i).

[31]            3.2. Die Klägerin stellt in ihrer Aufhebungsklage einzelne prozessleitende Verfügungen des Schiedsgerichts isoliert dar, die sie als für sich nachteilig empfand. Aus diesem Vorbringen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass das Schiedsgericht der Klägerin eine faire Möglichkeit zur Teilnahme am Verfahren vorenthielt (vgl dazu 18 ONc 3/20s mwN; 18 Ocg 5/20i) oder bei der Verfahrensgestaltung willkürlich vorging (vgl dazu 18 Ocg 9/19a; 18 Ocg 5/20i [Rz 42]).

[32]     Aus dem Klagevorbringen zu den behaupteten schwerwiegenden Verfahrensverstößen ist daher auch kein (sonstiger) Verstoß gegen den verfahrensrechtlichen ordre public nach § 611 Abs 2 Z 5 ZPO abzuleiten.

[33]            4. Die Klägerin stützt sich außerdem auf den Aufhebungsgrund iSd § 611 Abs 2 Z 6 ZPO, der bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Wiederaufnahmeklage gegeben ist.

[34]            4.1. In diesem Zusammenhang releviert die Klägerin erneut die Nichtzulassung der Klageänderung (siehe oben Pkt 2.4.). Die Klägerin sei daher iSd § 530 Abs 1 Z 7 ZPO ohne ihr Verschulden außerstande gewesen, die neuen Tatsachen und Beweismittel im Schiedsverfahren vor Schluss der mündlichen Verhandlung geltend zu machen (ON 1 Rz 57).

[35]     Ein Aufhebungsgrund iSd § 611 Abs 2 Z 6 ZPO liegt nur vor, wenn Voraussetzungen vorhanden sind, unter denen nach § 530 Abs 1 Z 1 bis 5 ZPO ein gerichtliches Urteil mittels Wiederaufnahmeklage angefochten werden kann („strafrechtliche Wiederaufnahmegründe“). Der (in § 611 Abs 2 Z 6 ZPO nicht, sondern nur – für Verbrauchersachen – in § 617 Abs 6 Z 2 und – für Arbeitsrechtssachen – in § 618 ZPO erwähnte) Wiederaufnahmegrund nach § 530 Abs 1 Z 7 ZPO liegt vor, wenn die Partei in Kenntnis von neuen Tatsachen gelangt oder Beweismittel auffindet oder zu benützen in den Stand gesetzt wird, deren Vorbringen und Benützung im früheren Verfahren eine ihr günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. An dem hier zu beurteilenden Schiedsverfahren war aber weder ein Verbraucher noch ein Arbeitnehmer beteiligt.

[36]     Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass die Rechtsprechung für das staatliche Gerichtsverfahren betont, dass sich neue Tatsachen, die gegenüber dem Vorbringen im Hauptverfahren nur unter dem Gesichtspunkt einer Klageänderung erheblich sein können, nicht als Wiederaufnahmegrund eignen (RS0044825). In solchen Fällen fehlt es an der Notwendigkeit und damit an der Voraussetzung einer Wiederaufnahmeklage, weil die Rechtskraft des im wiederaufzunehmenden Verfahren ergangenen Urteils einer neuen Klage nicht entgegensteht und daher auch nicht beseitigt werden muss (4 Ob 51/11w [Punkt 3.3]).

[37]            4.2. Zum anderen beruft sich die Klägerin auf die Falschaussage eines Zeugen. * habe das Schiedsgericht in die Irre geführt und bei der mündlichen Einvernahme seiner schriftlichen Zeugenaussage direkt widersprochen, sodass der Wiederaufnahmegrund gemäß § 530 Abs 1 Z 2 ZPO vorliege (ON 1 Rz 56–61).

[38]     Ein Aufhebungsgrund iSd § 611 Abs 2 Z 6 iVm § 530 Abs 1 Z 2 ZPO liegt vor, wenn sich ein Zeuge, ein Sachverständiger oder der Gegner bei seiner Vernehmung einer falschen Beweisaussage (§ 288 StGB) schuldig gemacht hat und die Entscheidung auf diese Aussage gegründet ist.

[39]     Institutionelle und private Schiedsgerichte sind Sondergerichte des Privatrechts. Schiedsrichter dürfen zwar Beweisaufnahmen durchführen, sie sind aber keine Richter iSd Art 82 ff B-VG. Vor ihnen abgelegte Aussagen und in Schiedsgerichtsverfahren erstattete Gutachten (§ 601 ZPO) unterliegen daher nicht der Strafsanktion des § 288 StGB (Plöchl/Seidl in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 288 Rz 4). Eine Falschaussage vor einem Schiedsgericht ist deshalb keine falsche Zeugenaussage iSd § 288 StGB und bildet auch keinen Aufhebungsgrund nach § 611 Abs 2 Z 6 ZPO (RS0045128 zu den Vorgängerbestimmungen § 199 StG und § 595 Z 8 ZPO idF vor dem SchiedsRÄG 2006; 3 Ob 689, 690/54; Hausmaninger in Fasching/Konecny3 § 611 ZPO Rz 150; Zeiler, Schiedsverfahren² § 611 Rz 30a).

[40]            5. Schließlich macht die Klägerin einen Verstoß gegen den materiellen ordre public iSd § 611 Abs 2 Z 8 ZPO geltend. Es erschüttere die Grundwerte der österreichischen Rechtsordnung, wenn das Schiedsgericht Zusagen der beklagten Bank per Telefon und E-Mails der Mitarbeiter der beklagten Bank wegen eines Schriftformvorbehalts als nicht bindend ansehe (ON 1 Rz 68–74).

[41]            5.1. Gemäß § 611 Abs 2 Z 8 ZPO ist ein Schiedsspruch dann aufzuheben, wenn dieser Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung (ordre public) widerspricht. Unter den Grundwertungen der Rechtsordnung werden vor allem die Grundsätze der Bundesverfassung, die Grundsätze der EMRK, des Strafrechts, des Privatrechts, des Prozessrechts und des öffentlichen Rechts verstanden. Bei den Grundwertungen handelt es sich um unverzichtbare Wertvorstellungen, die das österreichische Recht prägen. Schutzobjekt sind nicht die subjektiven Rechtspositionen der Verfahrensparteien, sondern die inländische Rechtsordnung, die vor dem Eindringen mit ihr vollkommen unvereinbarer Rechtsgedanken und vor der unerträglichen Verletzung tragender Grundwertungen geschützt werden soll (RS0110743; RS0110125; Hausmaninger in Fasching/Konecny³ § 611 ZPO Rz 160). Maßgebend ist dabei das Ergebnis des Schiedsspruchs und nicht seine Begründung (RS0110743 [T19]; RS0110125 [T5]). Dieser Aufhebungsgrund bietet also keine Handhabe für die Prüfung der Frage, ob und wie weit das Schiedsgericht die im Schiedsverfahren aufgeworfenen Tatfragen und Rechtsfragen richtig gelöst hat (RS0045124). Die Prüfung, ob eine ordre- public-Widrigkeit vorliegt, darf also nicht zu einer (Gesamt-)Überprüfung des Schiedsspruchs in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht führen (Unzulässigkeit einer révision au fond). Fehlentscheidungen müssen deshalb grundsätzlich hingenommen werden (18 OCg 3/15p ua). Nur im Falle willkürlicher Rechtsanwendung durch das Schiedsgericht wird eine Ausnahme für allenfalls möglich gehalten (18 Ocg 1/19z; 18 Ocg 12/19t).

[42]     Die Argumentation der Klägerin ist ein solcher unzulässiger Versuch, eine Überprüfung der Richtigkeit der Entscheidung des Schiedsgerichts zu bewirken. Dass das Ergebnis des Schiedsspruchs Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung, insbesondere den Grundsätzen des Schadenersatzrechts, widersprechen könnte, zeigt sie nicht auf. Vielmehr kennt auch die österreichische Rechtsordnung sowohl den gewillkürten Schriftformvorbehalt als auch das formfreie Abgehen von diesem Formerfordernis (RS0014378), wobei die Voraussetzungen dafür immer nur anhand der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden können (RS0042936 [T9]).

[43]            6. Im Ergebnis gelingt es der Klägerin daher nicht, das Vorliegen eines Aufhebungsgrundes schlüssig zu behaupten. Die Unschlüssigkeit des Vorbringens zu einem bestimmten Aufhebungsgrund ist kein Fall für eine Verbesserung. Die Klage ist deshalb in analoger Anwendung von § 538 ZPO zurückzuweisen (18 Ocg 1/20a mwN; RS0036173 [T18]).

II. Zum Verfahrenshilfeantrag:

[44]     Der Verfahrenshilfeantrag ist wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung nach § 63 Abs 1 ZPO abzuweisen.

[45]     Gemäß § 63 Abs 1 ZPO ist einer Partei Verfahrenshilfe so weit zu bewilligen als sie außerstande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts zu bestreiten, und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint.

[46]     Bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten ist hier die besondere Gestaltung des Verfahrens zur Aufhebung eines Schiedsspruchs zu beachten: Der Oberste Gerichtshof entscheidet über die Klage in erster und letzter Instanz, und das Geltendmachen weiterer Aufhebungsgründe ist nach Ablauf der Klagefrist nach § 611 Abs 4 ZPO unzulässig (18 OC 5/19p mwN). Damit ist Aussichtslosigkeit iSv § 63 Abs 1 ZPO schon dann anzunehmen, wenn die geltend gemachten Aufhebungsgründe nach Auffassung des Senats zu keiner stattgebenden Entscheidung führen werden (18 Ocg 7/19g).

[47]     Da die Klage im vorliegenden Fall bereits im Vorprüfungsverfahren aus den unter I. dargestellten Gründen zurückzuweisen ist, ist die Rechtsverfolgung der Klägerin von vornherein aussichtslos.

Textnummer

E136911

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:018OCG00002.21Z.0922.000

Im RIS seit

04.01.2023

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2023
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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