TE Vfgh Erkenntnis 2022/2/28 E233/2021

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Veröffentlicht am 28.02.2022
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz betreffend einen Staatsangehörigen von Afghanistan wegen mangelhafter Auseinandersetzung mit dem vorgebrachten Fluchtvorbringen zur Tätigkeit für die amerikanischen Streitkräfte (bzw als Familienangehöriger einer solchen Person)

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist ein afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er ist in Kabul geboren und aufgewachsen.

2. Am 16. Juli 2015 stellte der Beschwerdeführer in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 5. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist und setzte eine Frist von zwei Wochen für die freiwillige Ausreise. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14. Dezember 2020 mit Erkenntnis vom 7. Jänner 2021 als unbegründet ab.

3. Der Beschwerdeführer begründete seinen Antrag auf internationalen Schutz damit, von den Taliban bedroht worden zu sein, weil sein Bruder als Dolmetscher und als Projektmanager für die internationalen Streitkräfte gearbeitet habe. Auch er habe für eine Firma gearbeitet, die für die US-Streitkräfte tätig gewesen sei. Vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt zusammengefasst an, dass er und sein Bruder wegen ihrer Tätigkeiten für die Amerikaner bedroht worden seien. In einem Drohbrief sei sein Bruder wegen seiner Tätigkeit als Dolmetscher bedroht und auch er selbst sei namentlich genannt worden. Dieser Drohbrief sei in der Nacht in den Hof des Hauses seiner Eltern in Kabul geworfen worden. Seine Schwester hätte den Brief am nächsten Morgen seiner Mutter (die Analphabetin sei) vorgelesen, woraufhin diese den Brief aus Angst zerrissen habe. Er kenne den Inhalt des Briefes aus ihren Erzählungen.

4. Das Bundesverwaltungsgericht erachtet die Tätigkeit des Bruders des Beschwerdeführers als Dolmetscher für die US-Streitkräfte sowie als Projektmanager auf der Air Base in Bagram und die Tätigkeit des Beschwerdeführers als Installateur für eine Firma, die für die US-Streitkräfte arbeitete, als glaubwürdig. Es hält aber die vorgebrachte Bedrohungssituation für unglaubwürdig und verneint daher eine asylrelevante Verfolgung. In seiner Beweiswürdigung führt das Bundesverwaltungsgericht aus, dass es dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers an jedweder Stringenz und Plausibilität fehle. Es sei davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer einer konstruierten Fluchtgeschichte bediene, die in keiner Weise die Mindestanforderungen eines glaubhaften Fluchtvorbringens erfülle. So sei es etwa nicht nachvollziehbar, weswegen der Beschwerdeführer und sein Bruder auf Grund eines Briefes, den sie nie gesehen hätten, das Leben in Afghanistan aufgeben, wenn sie einfach auch die Arbeit niederlegen hätten können, um dem Druck der Taliban nachzugeben. Auch sei der Bruder des Beschwerdeführers nur ein halbes Jahr lang Dolmetscher gewesen. Zu dem Zeitpunkt, als die Taliban den Brief übermittelt hätten, habe er zwar als Projektmanager für die US-Streitkräfte gearbeitet, aber jedenfalls nicht mehr als Dolmetscher. Nachdem er nur ein halbes Jahr lang als Dolmetscher gearbeitet habe, habe er nicht so eine besondere Stellung einnehmen können, dass die Taliban ihm noch nach drei Jahren einen Drohbrief zukommen lassen. Der Beschwerdeführer selbst sei lediglich Installateur für eine Firma gewesen, die für die US-Streitkräfte (Shindand Airbase Afghanistan) gearbeitet habe. Auch er hätte keine besondere Stellung gehabt. Alleine, dass er dort gearbeitet habe, erfülle noch nicht den Fluchttatbestand nach der Genfer Flüchtlingskonvention.

5. Gegen die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen und auf die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses verwiesen.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

3. Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass der Beschwerdeführer als Installateur für eine Firma, die für die US-Streitkräfte arbeitete, tätig war. Zudem sei sein Bruder von Dezember 2011 bis Juni 2012 als Dolmetscher und von Juni 2012 bis März 2015 als Projektmanager auf der Air Base Bagram tätig gewesen. Eine Bedrohung des Beschwerdeführers auf Grund seiner Tätigkeit in einer Firma, die für die US-Streitkräfte arbeitete, oder auf Grund der Tätigkeiten seines Bruders hält das Bundesverwaltungsgericht für unglaubwürdig. Begründend führt es dazu insbesondere aus, dass für das Bundesverwaltungsgericht nicht nachvollziehbar sei, warum die beiden Brüder nicht einfach die Arbeit niedergelegt hätten, um der Bedrohung zu entgehen. Auch sei der Bruder des Beschwerdeführers nur ein halbes Jahr lang als Dolmetscher, zum Zeitpunkt der Übersendung des Drohbriefs aber als Projektmanager für die US-Streitkräfte tätig gewesen. Im Übrigen habe der Beschwerdeführer in seiner Firma keine besondere Stellung gehabt und alleine der Umstand, dass er dort gearbeitet habe, erfülle nicht den Fluchttatbestand nach der Genfer Flüchtlingskonvention.

4. Zur Beurteilung, ob dem Beschwerdeführer angesichts der Sicherheitslage vor Ort und seiner persönlichen Situation eine Rückkehr nach Kabul möglich und zumutbar ist, zieht das Bundesverwaltungsgericht zwar die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 und die "Country Guidance: Afghanistan – Guidance note and common analysis" des EASO vom Juni 2019 heran. Es übersieht jedoch, dass beide herangezogenen Entscheidungshilfen für Personen, die mit internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen, sowie auch für deren Familienmitglieder von einem erhöhten Risikoprofil ausgehen.

So führen die UNHCR-Richtlinien zur Situation von "Zivilisten, die mit den internationalen Streitkräften verbunden sind oder diese vermeintlich unterstützen" Folgendes aus (Seite 49):

"Regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) haben Berichten zufolge afghanische Zivilisten, die für die internationalen Streitkräfte als Dolmetscher oder in anderen zivilen Funktionen arbeiteten, bedroht und angegriffen.[…] Aus Berichten geht auch hervor, dass regierungsfeindliche Kräfte (AGEs) gegen ehemalige Mitarbeiter der internationalen Streitkräfte und der Regierung vorgehen.[…]"

Aus der EASO Country Guidance vom Juni 2019 geht hervor, dass das Personal ausländischer Truppen, insbesondere Dolmetscher und Sicherheitskräfte, von den Taliban als vorrangiges Ziel betrachtet werde. Personen, die nicht auf der Gehaltsliste ausländischer Streitkräfte stünden, jedoch allgemeine Wartungsarbeiten durchführten, würden nicht systematisch angegriffen, Angriffe fänden jedoch statt. Bei Dolmetschern und Sicherheitskräften sei von einer begründeten Furcht vor Verfolgung auszugehen, bei anderen Personen, die unter dieses Profil fallen, sei die Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung im Einzelfall unter Berücksichtigung bestimmter risikorelevanter Umstände – wie etwa ihrer spezifischen Rolle und Sichtbarkeit, des Umstandes, ob sie auf der Gehaltsliste ausländischer Truppen stehen, ihrer Herkunft aus einem umkämpften Gebiet oder aus Gebieten mit aufständischer Präsenz – zu beurteilen. Die Familienangehörigen von Personen, die unter dieses Profil fallen, könnten ebenfalls dem Risiko einer Behandlung ausgesetzt sein, die einer Verfolgung gleichkommt (Seite 51).

Entsprechende Passagen finden sich auch in der – im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes bereits vorliegenden – aktuelleren Fassung der EASO Country Guidance vom Dezember 2020 (Seite 15, 60 f.).

5. Die Annahmen des Bundesverwaltungsgerichtes, dass der Bruder des Beschwerdeführers trotz seiner Tätigkeit als Dolmetscher sowie als Projektmanager für die US-Streitkräfte einer allfälligen Bedrohung durch die Einstellung seiner Tätigkeit entgehen hätte können (s dazu VfGH 28.2.2022, E232/2021), sowie, dass der Beschwerdeführer selbst per se keiner Bedrohung ausgesetzt sein könne, weil er lediglich als Installateur für eine Firma tätig war, die für die US-Streitkräfte gearbeitet habe und er keine besondere Stellung gehabt habe, findet in diesen Länderberichten keine Deckung. Zudem unterlässt das Bundesverwaltungsgericht eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob für den Beschwerdeführer als Familienangehöriger einer Person, die (ua als Dolmetscher) zum Personal ausländischer Streitkräfte gehörte, ein erhöhtes Risikoprofil besteht. Indem das Bundesverwaltungsgericht somit die als glaubhaft festgestellten Tätigkeiten des Beschwerdeführers und seines Bruders nicht mit den von ihm herangezogenen Länderberichten in Beziehung gesetzt hat, hat es seine Entscheidung mit Willkür belastet (vgl VfGH 25.2.2020, E315/2019 mwN; 9.6.2020, E460/2020; 22.9.2021, E1357/2021; 15.12.2021, E3796/2020).

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Ermittlungsverfahren, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2022:E233.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.05.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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