TE Vfgh Erkenntnis 2021/11/29 E3669/2021

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Veröffentlicht am 29.11.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art2, Art3
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Leben und im Recht, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden durch die Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten an einen Staatsangehörigen von Afghanistan; Verkennung der spätestens seit 20.07.2021 erkennbaren extremen Volatilität der Sicherheitslage begründet eine reale Gefahr der Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte durch die später ergangene Entscheidung

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie im Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Er wurde im Iran geboren und reiste im Alter von circa fünf Jahren mit seiner Familie nach Mazar-e Sharif, wo er bis zu seiner Ausreise lebte. Der Beschwerdeführer stellte in Österreich am 26. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 2. Februar 2016 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung, die seither einmal verlängert wurde. Am 22. Jänner 2019 stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung.

1.1. Mit Bescheid vom 22. Februar 2019 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, wies den Antrag auf Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung, erklärte die Abschiebung nach Afghanistan für zulässig und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

1.2. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. Mit Erkenntnis vom 31. Juli 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers als unbegründet ab.

1.3. Mit Erkenntnis vom 17. November 2020, Ra 2020/19/0233, hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. Juli 2019 wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf.

2. Im zweiten Rechtsgang wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Beschwerdeführers mit dem nun vor dem Verfassungsgerichtshof angefochtenen Erkenntnis vom 11. August 2021 erneut als unbegründet ab.

Hinsichtlich der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führte das Bundesverwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in die Provinzhauptstadt Bamyan oder nach Mazar-e Sharif kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohe. Die Städte Kabul und Mazar-e Sharif seien über den Luftweg sicher erreichbar. Die Provinzhauptstadt Bamyan könne von Kabul aus über die Provinz Parwan erreicht werden. Aus den Länderinformationen ergebe sich, dass die Stadt Mazar-e Sharif noch als ausreichend sicher gelte und unter der Kontrolle der Regierung stehe. In der Stadt Mazar-e Sharif habe sich zwar die Sicherheitslage in abgelegenen Distrikten verschlechtert, die Stadt sei jedoch nach wie vor sicher, auch wenn Medienberichten zufolge bereits Truppen der Taliban an den Stadttoren Mazar-e Sharifs gesehen worden seien. Zudem zielten die Anschläge in den afghanischen Städten im Wesentlichen nach wie vor darauf ab, internationale Aufmerksamkeit zu erlangen. Sie richteten sich hauptsächlich gegen Regierungsinstitutionen oder ausländische Organisationen. Der Beschwerdeführer sei daher davon nicht überproportional betroffen. Hinsichtlich der Provinzhauptstadt Bamyan ergebe sich überdies, dass die Provinz nach wie vor sicher sei und dort nur wenige Anschläge stattfänden.

3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung näher bezeichneter verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

4. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Gerichtsakten und die Verwaltungsakten der belangten Behörde vor und sah von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

II. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde entspricht hinsichtlich der Gründe für die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in allen entscheidungswesentlichen Belangen dem Sachverhalt und der Beschwerde, welche dem Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 30. September 2021, E3445/2021, zugrunde lagen.

2. Der Verfassungsgerichtshof kann sich daher darauf beschränken, insbesondere auf Rz 17 ff. der Entscheidungsgründe seines zu E3445/2021 am 30. September 2021 gefällten Erkenntnisses hinzuweisen. Daraus ergibt sich auch für den vorliegenden Fall, dass das Bundesverwaltungsgericht im Zeitpunkt seiner Entscheidung das aktuellste, die jüngsten Entwicklungen – auf Grund derer der Verfassungsgerichtshof davon ausgeht, dass sich spätestens mit 12. Juni 2021 (s dazu VfGH 24.9.2021, E3047/2021) sowie mit 20. Juli 2021 wesentliche Veränderungen der Sachlage abgezeichnet haben – berücksichtigende Berichtsmaterial zur Sicherheitslage in Afghanistan heranziehen und würdigen hätte müssen (vgl in der Folge auch die Kurzinformation der Staatendokumentation vom 2. August 2021). Da dies im vorliegenden Fall nicht geschehen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes gegen das Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK sowie das Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, und ist daher aufzuheben.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK und in seinem Recht gemäß Art3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Asylrecht, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E3669.2021

Zuletzt aktualisiert am

02.02.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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