TE Bvwg Beschluss 2021/12/6 L519 2245673-1

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Veröffentlicht am 06.12.2021
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Entscheidungsdatum

06.12.2021

Norm

B-VG Art133 Abs4
FPG §52
FPG §53
VwGVG §28 Abs3 Satz2
VwGVG §8a

Spruch


L519 2245673-1/6E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch die BBU GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.7.2021, Zl. 226092305-200778489, beschlossen:

A)

1. Der angefochtene Bescheid wird gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung einer neuen Entscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.

2. Der Antrag auf Gewährung von Verfahrenshilfe wird gem. § 8a VwGVG abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.


Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (BF) reiste im Jahr 2001 illegal in das Bundesgebiet ein und brachte am 27.12.2001 einen Antrag auf internationalen Schutz ein. Das Asylverfahren wurde mit 11.5.2002 erstinstanzlich rechtskräftig negativ abgeschlossen.

2. In weiterer Folge wurde dem BF eine quotenfreie Erstniederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck „begünstigter Drittstaatsangehöriger“ bis 17.7.2004 erteilt, da sein Vater als privilegierter und begünstigter Drittstaatsangehöriger über eine Niederlassungsbewilligung in Österreich verfügte.

3. Aufgrund seines Antrages vom 6.8.2004 wurde dem BF ein Aufenthaltstitel für den Aufenthaltszweck „jeglicher Aufenthaltszweck, § 13 FrG“ mit der Gültigkeit von 31.1.2005 bis 29.1.2007 erteilt.

4. Mit Bescheid vom 16.1.2008 wurde von der BPD Graz wegen der mehrfachen Straffälligkeit des BF ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen, welches aufgrund einer vom BF eingebrachten Beschwerde vom UVS Steiermark am 26.8.2008 auf die Dauer von 10 Jahren herabgesetzt wurde.

5. 2014 ehelichte der BF die österreichische Staatsangehörige XXXX . Aufgrund dessen wurde ihm 2015 ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ erteilt. Dieser Ehe entstammt eine gemeinsame mj. Tochter.

6. Am 9.4.2015 stellte der BF den Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes, welchem stattgegeben wurde.

7. Nach der Scheidung im April 2017 wurde dem BF von der BH XXXX am 16.5.2017 eine Rot-Weiß-Rot-Karte plus ausgestellt, welche bis zum 16.5.2021 immer wieder verlängert wurde. Der letzte Verlängerungsantrag wurde am 16.4.2021 eingebracht.

8. Der BF weist im Bundesgebiet nachstehende Verurteilungen auf:

- LG für Strafsachen XXXX 13 Hv XXXX vom 9.3.2005 § 83/1, 107/1 und 2 StGB, Geldstrafe von 80 TS zu je 4,- Euro im NEF 40 Tage Ersatzfreiheitsstrafe;

- BG XXXX 74 U XXXX vom 10.8.2006 § 83/1 StGB Geldstrafe von 90 TS zu je 10,- Euro im NEF 45 Tage Ersatzfreiheitsstrafe;

- LG für Strafsachen XXXX 6 HV XXXX vom 7.5.2007 § 28/2 (4.Fall) 28/3 (1.Fall) 27/1 (6.Fall) 27 Abs.2/2 (1.Fall) 27/1 (1.2.Fall) SMG, Freiheitsstrafe 30 Monate;

- LG XXXX 009 HV XXXX vom 4.11.2016 § 83 (1) StGB, § 107 (1) StGB Freiheitsstrafe 5 Monate bedingt auf 3 Jahre;

- LG für Strafsachen XXXX 008 HV XXXX vom 8.2.2021, § 125 StGB, § 28 (1) 1. Fall SMG, § 83 (1) StGB, § 30 (1) 8. Fall SMG, § 28a (1) 5. Fall SMG, §§ 127, 129 (1) Z.1 StGB, Freiheitsstrafe 20 Monate;

- BG XXXX 115 U XXXX vom 11.3.2021 § 83 (1) StGB; keine Zusatzstrafe unter Bedachtnahme auf LG für Strafsachen Graz 008 HV XXXX ;

9. Mit Schreiben der belangten Behörde vom 22.10.2020 wurde der BF verständigt, dass beabsichtigt ist, eine Rückkehrentscheidung in Verbindung mit einem Einreiseverbot auszusprechen. Gleichzeitig wurden 9 Fragen – überwiegend zu seinem Privat- und Familienleben – an ihn gerichtet und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen 2 Wochen schriftlich Stellung zu nehmen. Davon machte der BF keinen Gebrauch.

10. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 20.7.2021 hat das belangte Bundesamt gem. § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung des BF in die Türkei gem. § 46 FPG zulässig ist. Gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z. 1 FPG wurde ein auf die Dauer von 8 Jahren befristetes Einreiseverbot verhängt. Gem. § 55 Abs. 4 FPG wurde eine Frist für eine freiwillige Ausreise nicht gewährt und gem. § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Begründend wurde zur Rückkehrentscheidung im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF seit 2001 im Bundesgebiet aufhältig sei und bis 16.5.2021 über Rot-Weiß-Rot plus-Karte verfügte. Über den Verlängerungsantrag sei noch nicht entschieden. Der BF gehe keiner legalen Erwerbstätigkeit nach und befinde sich derzeit in Strafhaft. Er sei seit 2017 von einer österr. StA. geschieden und habe mit dieser ein 2015 geborenenes Kind. Aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilungen sei von einem Überwiegen der öffenlichen Interessen an der Außerlandesbringung des BF gegenüber seinen privaten Interessen auszugehen sein.

Zum Einreiseverbot führte das belangte Bundesamt im Wesentlichen aus, dass der BF mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX zuletzt zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten verurteilt wurde, weshalb Z.1 des § 53 Abs. 3 FPG erfüllt sei. Durch die Suchtgiftkriminalität stelle der BF eine tatsächliche gegenwärtige und erhebliche Gefahr dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

11. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vom BF fristgerecht erhobene Beschwerde vom 17.8.2021.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF nicht verkennt, dass er mehrmals straffällig wurde. Das schriftliche Parteiengehör sei im ggst. Fall nicht ausreichend, jedenfalls wäre die Einvernahme des BF erforderlich gewesen. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft: In Österreich leben Exfrau und Tochter des BF, was nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Auch die Familienangehörigen des BF wären zu befragen gewesen. Der BF bemühe sich auch, den Kontakt zur Tochter wieder zu intensivieren.

Der BF halte sich langjährig in Österreich auf, spreche ausgezeichnet Deutsch und bereue seine Straftaten. Ein 8-jähriges Einreiseverbot sei jedenfalls unverhältnismäßig.

Auch die Beweiswürdigung sei mangelhaft. Der Lebensmittelpunkt des BF liege in Österreich und er habe in der Türkei niemanden mehr. Er habe dort auch keine Wohnung und keine Arbeit. Es sei auch keine Auseinandersetzung mit dem strafrechtlichen Fehlverhalten im Einzelnen erfolgt. Im Übrigen würden neben der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung Verfahrenshilfe und eine Beschwerdeverhandlung beantragt. Der BF sei mittellos und könne daher auch die Eingabegebühr von 30,- Euro nicht bezahlen.

12. Mit Beschluss des BVwG vom 30.8.2021 wurde der Beschwerde des BF die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

13. Mit Schreiben der STA. XXXX vom 18.11.2021 erfolgte die Verständigung über eine neuerliche Anklageerhebnung gegen den BF wegen §§ 15, 83 StGB.

1$. Der Verfahrensgang im Detail ergibt sich aus dem Akteninhalt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1.Feststellungen

Notwendige Ermitttlungen des Sachverhaltes wurden von der belangten Behörde unterlassen, insbesondere:

-        Umfangreiche niederschriftliche Befragung des BF

-        Zeugenschaftliche Befragung der Exgattin XXXX

-        Beischaffung sämtlicher Strafurteile

-        Erhebung allfälliger Verwaltungsvorstrafen, Waffenverbote, etc.

-        Detaillierte Erhebungen zur Rückkehrsituation

2. Beweiswürdigung:

Der für die gegenständlichen Zurückverweisungen des Bundesverwaltungsgerichtes relevante Sachverhalt ergibt sich zweifelsfrei aus der Aktenlage.

Beweis wurde erhoben durch den Inhalt des vorliegenden Verwaltungsaktes des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und den Inhalt der eingebrachten Beschwerde.

3. Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Da weder im BFA-VG noch im AsylG 2005 eine Senatsentscheidung vorgesehen ist, liegt gegenständlich somit Einzelrichterzuständigkeit vor.

Zu Spruchpunkt A)

Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Gemäß Abs. 2 leg. cit. hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

Gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen und die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.

§ 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, wenn „die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen“ hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, mit der Sachentscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte auseinandergesetzt und darin folgende Grundsätze herausgearbeitet:

Die Aufhebung eines Bescheides einer Verwaltungsbehörde durch ein Verwaltungsgericht komme nach dem Wortlaut des § 28 Abs. 2 Z 1 VwGVG nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht. Dies wird jedenfalls dann der Fall sein, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren geklärt wurde, zumal dann, wenn sich aus der Zusammenschau der im verwaltungsbehördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen (im Zusammenhalt mit den dem Bescheid zu Grunde liegenden Verwaltungsakten) mit dem Vorbringen in der gegen den Bescheid erhobenen Beschwerde kein gegenläufiger Anhaltspunkt ergibt.

Der Verfassungsgesetzgeber habe sich bei Erlassung der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I 51, davon leiten lassen, dass die Verwaltungsgerichte grundsätzlich in der Sache selbst zu entscheiden haben, weshalb ein prinzipieller Vorrang einer meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte anzunehmen ist.

Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stelle die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis stehe diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das im § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer „Delegierung“ der Entscheidung an das Verwaltungsgericht).

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher im Lichte der oa. Ausführungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn 

1.             die Behörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat,

2.             die Behörde zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat

3.             konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterließ, damit diese im Sinn einer "Delegierung" dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden oder

4.             ähnlich schwerwiegende Ermittlungsmängel zu erkennen sind und
die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht - hier: das Bundesverwaltungsgericht - selbst nicht im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

In seinem Urteil vom 14.6.2017, C-685 EU:C:2017:452 befasste sich der EuGH mit der Frage, ob nationale Bestimmungen, welche dem Verwaltungsgericht die amtswegige Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts –bei entsprechender Untätigkeit der Behörde- der in der europarechtlichen Judikatur geforderten Objektivität und Unvoreingenommenheit des Gerichts entgegenstehen. Nach seiner Ansicht können die Gerichte nach den nationalen Verfahrensregeln zwar verpflichtet sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorlage solcher Beweise zu fördern, doch können sie nicht verpflichtet sein, anstelle der genannten Behörden die Rechtfertigungsgründe vorzubringen, die nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C-390/12, EU:C:2014:281) diese Behörden vorzubringen haben. Werden diese Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht, müssen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben. Der EuGH führte weiters aus, dass die Art. 49 und 56 AEUV, wie sie insbesondere im Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C-390/12, EU:C:2014:281), ausgelegt wurden, im Licht des Art. 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Verfahrensregelung, nach der in Verwaltungsverfahren das Gericht, bei der Prüfung des maßgeblichen Sachverhalts die Umstände der bei ihm anhängigen Rechtssache von Amts wegen zu ermitteln hat, nicht entgegenstehen, sofern diese Regelung nicht zur Folge hat, dass das Gericht an die Stelle der zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zu treten hat, denen es obliegt, die Beweise vorzulegen, die erforderlich sind, damit das Gericht eine entsprechende Prüfung durchführen kann. Die Ausführungen des EuGH beziehen sich zwar auf ein Verwaltungsstrafverfahren, sie sind nach ho. Ansicht jedoch auch im gegenständlichen Fall anwendbar.

Im Lichte einer GRC-konformen Interpretation der verfassungsrechtlichen Bestimmungen, wonach das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden hat, finden diese jedenfalls dort ihre Grenze, wenn das Gericht an die Stelle der zuständigen belangten Behörde zu treten hätte, der es obliegt, dem Gericht die Beweise iSd Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts vorzulegen. Wird diese Grenze überschritten ist das Gericht ermächtigt –wenn nicht sogar verpflichtet- eine kassatorische Entscheidung iSd § 28 Abs. 3 VwGVG zu treffen.

Gemäß § 60 AVG sind in der Begründung eines Bescheides die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Die Begründung eines Bescheides bedeutet die Bekanntgabe der Erwägungen, aus denen die Behörde zur Überzeugung gelangt ist, dass ein bestimmter Sachverhalt vorliegt und dass damit der Tatbestand einer bestimmten Rechtsnorm verwirklicht ist. Die Begründung eines Bescheides hat Klarheit über die tatsächlichen Annahmen der Behörde und ihre rechtlichen Erwägungen zu schaffen. In sachverhaltsmäßiger Hinsicht hat sie daher alle jene Feststellungen in konkretisierter Form zu enthalten, die zur Subsumierung dieses Sachverhaltes unter die von der Behörde herangezogene Norm erforderlich sind. Denn nur so ist es möglich, den Bescheid auf seine Rechtsrichtigkeit zu überprüfen (VwGH 23.11.1993, Zl. 93/04/0156; 13.10.1991, Zl. 90/09/0186; 28.07.1994, Zl. 90/07/0029).

Wie sich aus den folgenden Erwägungen ergibt, ist dies in der gegenständlichen Rechtssache vom Bundesamt jedoch in qualifizierter Weise unterlassen worden, indem es den maßgeblichen Sachverhalt bestenfalls ansatzweise erhoben hat.

Das von der belangten Behörde durchgeführte Ermittlungsverfahren erweist sich in wesentlichen Punkten als grob mangelhaft:

Das Bundesamt hat dem in der JA XXXX in Strafhaft befindlichem BF zwar am 22.10.2020 schriftlich vom Ergebnis der Beweisaufnahme verständigt und ihm 9 oberflächliche Fragen zum Privat- und Familienleben gestellt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen 2 wochen schriftlich Stellung zu nehmen. Es ist zwar zutreffend, dass der BF keine Stellungnahme dazu abgegeben hat. Allerdings wäre es dann unumgänglich gewesen, dass das in derselben Stadt wie die JA angesiedelte Bundesamt den BF in der JA einer detaillierten niederschriftlichen Einvernahme unterzogen hätte. Bei dieser nachzuholenden persönlichen Befragung wird insbesondere auf familiäre und private Anbindungen im Bundesgebiet, das Verhältnis zur Exfrau und zur mj. Tochter (Besuche, Unterhaltszahlungen, etc.), allfällige weitere Angehörige im Bundesgebiet und das Verhältnis zu diesen, Beschäftigungsverhältnisse in der Vergangenheit und allfällige zukünftige Arbeitsmöglichkeiten, (zB. Einstellungszusagen, etc.), Sprachkenntnissse des BF, seinen Gesundheitszustand, Vermögensverhältnisse und Schulden (in Österreich wie in der Türkei), die strafgerichtlichen Verurteilungen und die Verantwortung des BF dazu, allfällige ehrenamtliche Tätigkeiten, Vereinsmitgliedschaften und freundschaftliche Bindungen zu Österreichern im Bundesgebiet und Anbindungen zum herkunftsstaat Türkei (Verwandte und deren finanzielle Lage, letzte Besuche in der Türkei, türk. Sprachkenntnisse des BF, Wohn- und Arbeitsmöglichkeit, etc.) einzugehen sein.

Weiter wird die Exgattin des BF zeugenschaftlich insbesondere zum Verhältnis des BF zur mj. Tochter seit deren Geburt im Jahr 2015 zu befragen sein. Dabei ist insbesondere zu klären, wer die Obsorge für das Kind hat, ob bzw. wie viel Unterhalt der BF für das Kind bezahlt, ob es eine gerichtliche Anordnung diesbezüglich gibt, ob ein gerichtlich festgelegtes Besuchsrecht für den BF besteht und ob er dieses wahrnimmt oder ob es sonst regelmäßige Kontakte zum Kind gibt bzw. vor der Haft gab, ob Mutter und Kind den BF in der JA besuchen, etc. In diesem Zusammenhang wird auch die Telefon- und Besucherliste der JA anzufordern sein.)

In weiterer Folge wird sich das BFA neben dem Ergebnis dieser Befragungen in seinem Bescheid auch im Detail mit der Frage, ob bzw. inwieweit der BF unter die ARB 1/80 fällt, auseinanderzusetzen und auch Feststellungen dazu zu treffen haben.

Zur Erstellung einer umfangreichen Gefährdungsprognose wird es auch erforderlich sein, dass das belangte Bundesamt sämtliche Strafurteile beischafft (zumal es dem BF auch die massive Straffälligkeit und nicht nur die vorletzte Verurteilung im Ausmaß von 20 Monaten vorwirft) und sich im Detail mit deren Inhalt bzw. dem daraus ergebenden Gesamtfehlverhalten des BF auseinandersetzt. In diese Gefährdungsprognose werden auch allfällige schwere Verwaltungsvorstrafen und/oder Waffenverbote sowie insbesondere die Verantwortung des BF zu seinen Straftaten im Rahmen seiner Befragung einzubeziehen sein (s. dazu auch zahlreiche Entscheidungen der GA L519 zu Einreiseverboten türk. StA. sowie zugehörige Verhandlungsschriften).

Im Rahmen des neuerlichen Bescheides wird sich das BFA bei der Rückkehrentscheidung auch detailliert mit der Rückkehrsituation für den BF auseinanderzusetzen haben, insbesondere dem konkreten familiären Umfeld in der Türkei, den Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für den BF etc.

Aufgrund des organisatorischen Aufbaues des Bundesamtes und des ho. Gerichts, der verfahrensrechtlichen Ausgestaltung des Asylverfahrens, sowie des Aufenthaltsortes des BF ist davon auszugehen, dass eine Fortführung des Verfahrens durch das Bundesamt zu einer Ersparnis an Zeit und sonstigen Ressourcen führt. Würde das ho. Gericht sein Ermessen dahingehend ausüben, das erforderliche Ermittlungsverfahren selbst zu führen, so würde es im Lichte des hier vorliegenden Sachverhalts dieses Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes ausüben. Beim vom Gesetzgeber ins Auge gefasste Konzept -nämlich das Primat der Sachentscheidung und dem untergeordnet die Möglichkeit der Verwaltungsgerichte, bei bestimmten qualifizierten Fallkonstellationen eine kassatorische Entscheidung zu treffen- ging dieser -wie bereits erwähnt- sichtlich von einer belangten Verwaltungsbehörde voraus, welche redlich bemüht ist, ein rechtskonformes Ermittlungsverfahren zu führen. Dass ihr trotz dieses Bemühens Fehler unterlaufen können, ist evident und wird vom Gesetzgeber einkalkuliert. Mit Sicherheit hatte der Gesetzgeber aber keine belangte Behörde vor Augen, welche ein Verfahren wie im ggst. Fall führt, in dem Ermittlungstätigkeiten in großem Ausmass nicht durchgeführt werden, um sich so ihrer ihr gesetzlich zugewiesenen Zuständigkeit über weite Strecken zu entledigen und diese auf das Verwaltungsgericht abzuwälzen. Dieser Umstand ist im Rahmen der Ausübung des Ermessen zu berücksichtigen.
Eine Nachholung der durchzuführenden Ermittlungen und eine erstmalige Ermittlung und Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann nicht im Sinne des Gesetzes liegen, vor allem, weil eine ernsthafte Prüfung der Rückkehrentscheidung verbunden mit einem Einreiseverbot nicht erst beim Bundesverwaltungsgericht beginnen und zugleich enden soll. Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit nicht gegeben.

Da der maßgebliche Sachverhalt noch nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid des BFA gemäß § 28 Abs 3 2. Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurückzuverweisen.

Das BFA ist offenkundig in Bezug auf die Ermittlung des entscheidungsrelevanten Sachverhaltes nicht mit der gebotenen Genauigkeit und Sorgfalt vorgegangen, weswegen ein grob mangelhaftes Ermittlungsverfahren durch die Behörde erster Instanz vorliegt. Aufgrund des mangelhaften Ermittlungsverfahrens konnte eine von der Judikatur geforderte ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens nicht vorgenommen werden. (vgl. VwGH 26.11.2003, 2003/20/0389). Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes verstößt das Prozedere der belangten Behörde gegen die in § 18 Abs. 1 AsylG 2005 normierten Ermittlungspflichten, sie missachtete die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, den maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen, gröblich (vgl. zu alldem BVwG 06.11.2014, W163 2013651-1/2E).

Für das Bundesverwaltungsgericht erweist sich der vorliegende Sachverhalt daher als so mangelhaft, dass weitere Ermittlungen im oben aufgezeigten Sinn unerlässlich sind. Somit hat das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bloß ansatzweise ermittelt. Da der maßgebliche Sachverhalt demnach nicht feststeht, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtenen Bescheid des Bundesasylamtes gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückzuverweisen.

Gem. § 8a Abs. 1 VwGVG ist einer Partei, solange durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, Verfahrenshilfe zu bewilligen, soweit dies auf Grund des Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union geboten ist, die Partei außer Stande ist, die Kosten der Führung des Verfahrens ohne Beeinträchtigung des notwendigen Unterhalts zu bestreiten und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht als offenbar mutwillig oder aussichtslos erscheint……

Im ggst. Fall wird der BF von der BBU GmbH vertreten, wofür für ihn keine Kosten anfallen, sodass es deswegen auch zu keiner Beeinträchtigung des notwendigen Unterhaltes des BF, der ohnedies in der JA derzeit umfassend versorgt ist, kommen kann und seine Rechtsverfolgung trotzdem uneingeschränkt gewährleistet ist. Die in der Beschwerde aufgestellte Behauptung, der BF könne sich nicht einmal die Eingabegebühr leisten, wird seitens des Gerichtes als völlig unglaubwürdig und übertrieben erachtet, zumal der BF offensichtlich vor dem Strafantritt auch seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.

Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen, zumal aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der mit der Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben war.

B) Unzulässigkeit der Revision:

Das Verwaltungsgericht hat im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist zu begründen (§ 25a Abs. 1 VwGG). Die Revision ist (mit einer hier nicht zum Tragen kommenden Ausnahme) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere, weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird (Art. 133 Abs. 4 B-VG).

Die gegenständliche Entscheidung stützt sich auf die umfangreiche Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 Abs. 3 VwGVG und bewegt sich im vom VwGH eng gesetzten Rahmen der Zulässigkeit einer Zurückverweisung (vgl. dazu etwa VwGH 10.08.2018, Ra2018/20/0314). Zur Zulässigkeit einer zurückverweisenden Entscheidung bei Fehlen jeglicher Ermittlungstätigkeit der belangten Behörde etwa VwGH 30.03.2017, Ra2014/08/0050; 09.03.2016, Ra2015/08/0025 und VwGH 17.03.2016, Ra2015/11/0127 sowie grundlegend VwGH 26.06.2014, Ro2014/03/0063. Zum Vorliegen eines ungeklärten Sachverhaltes bei Einvernahmen zur Furcht vor Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung durch eine Person des anderen Geschlechts explizit VfGH 26.11.2018, E196/2018. Zur Subsumierung eines Sachverhaltes unter § 20 AsylG grundlegend VfGH 11.12.2013, U1914/2012 sowie jüngst VfGH 26.02.2019, E2425/2018 und VwGH 12.10.2016, Ra2016/18/0119.

Der Entfall der mündlichen Verhandlung ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz. Es ergeben sich auch keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage, so dass insgesamt die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht vorliegen.

Schlagworte

Befragung Ermittlungspflicht Kassation mangelnde Sachverhaltsfeststellung Rückkehrsituation strafrechtliche Verurteilung Verfahrenshilfe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:L519.2245673.1.01

Im RIS seit

19.01.2022

Zuletzt aktualisiert am

19.01.2022
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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