TE Vwgh Erkenntnis 2021/11/18 Ra 2021/18/0298

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Veröffentlicht am 18.11.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. Sutter, Mag. Tolar und die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Z H, vertreten durch MMag. Dr. Stephan Vesco, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Museumstraße 5/19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juni 2021, W177 2147819-1/30E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen;

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Kandahar, beantragte am 30. August 2015 internationalen Schutz. Zur Begründung brachte er im Laufe des Verfahrens zusammengefasst vor, seine Familie werde von den Angehörigen einer verfeindeten Familie, die gute Kontakte zu den Taliban habe, verfolgt, weshalb er nicht ungefährdet nach Afghanistan zurückkehren könne.

2        Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag - in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 31. Jänner 2017 - zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

3        Das BVwG erachtete das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers mit näherer Begründung für nicht glaubhaft, weshalb ihm kein Asyl zu gewähren sei. Zum subsidiären Schutz führte das BVwG aus, der Revisionswerber könne nicht ungefährdet in seine Herkunftsprovinz, die als „volatile Provinz“ eingestuft werde, zurückkehren. Ihm stehe aber eine innerstaatliche Fluchtalternative in den größeren Städten Afghanistans, insbesondere in Herat und Mazar-e Sharif zur Verfügung. Diese Einschätzung stützte das BVwG auf Länderberichte, die bis spätestens 2. April 2021 datieren. Zur Rückkehrentscheidung nahm das BVwG eine näher begründete Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK vor.

4        Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe bei seiner Beweiswürdigung völlig außer Acht gelassen, dass der Revisionswerber sein Heimatland als Minderjähriger (gerade einmal 15-jährig) verlassen habe. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedürfe die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines minderjährigen Asylwerbers einer besonders sorgfältigen Beweiswürdigung. Das BVwG bringe diese gebotene Sorgfalt in keiner Weise zur Anwendung. Ohne jegliche Rücksichtnahme darauf, dass der Revisionswerber „in den betreffenden Zeiträumen“ erst 15 Jahre alt oder noch jünger war, halte es diesem jegliche Unschärfe oder Ungenauigkeit in seiner Erinnerung als Unglaubwürdigkeit vor. Damit weiche es von der höchstgerichtlichen Judikatur ab. Letzteres sei dem BVwG auch insoweit vorzuwerfen, als es die Angaben des Revisionswerbers bei der Erstbefragung zu Unrecht in seine Beweiswürdigung zulasten des Revisionswerbers einbeziehe.

5        Abgesehen davon habe das BVwG in Verletzung seiner Ermittlungspflichten veraltete (letztmals zum 2. April 2021 aktualisierte) Länderberichte verwendet. Dabei seien Entwicklungen der Lage in den letzten Monaten in Afghanistan, die sich seit dem Beginn des Truppenabzugs der internationalen Truppen am 1. Mai 2021 ergeben hätten und die zu einer massiven Verschlechterung der Sicherheitslage geführt hätten (dies wird in der Revision im Einzelnen näher dargestellt), ignoriert worden. Ohne diesen Verfahrensverstoß hätte das BVwG zu der Feststellung gelangen müssen, dass eine ungefährdete Ansiedlung des Revisionswerbers in den als innerstaatliche Fluchtalternative in Rede stehenden afghanischen Städten nicht möglich wäre.

6        Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8        Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.

Zu Spruchpunkt I.:

9        Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet, zeigt sie ihre Zulässigkeit im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht auf.

10       Es trifft zwar zu, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auf die Minderjährigkeit des Asylwerbers im Rahmen der beweiswürdigenden Überlegungen entsprechend Bedacht genommen werden muss (vgl. etwa VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0150, mwN; VwGH 26.2.2020, Ra 2020/18/0059). Auch hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung erhoben, weil sich diese Einvernahme nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat (vgl. etwa VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0061, mwN). Gleichwohl hat der Verwaltungsgerichtshof aber betont, dass es nicht generell unzulässig ist, sich auf Widersprüche im Aussageverhalten während der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und der weiteren Einvernahme eines Asylwerbers zu stützen (vgl. etwa VwGH 4.2.2021, Ra 2021/18/0010, mwN; VwGH 10.9.2021, Ra 2021/18/0201).

11       Im gegenständlichen Fall hat das BVwG näher begründet, weshalb es die Steigerungen des Fluchtvorbringens im Laufe des Verfahrens - ungeachtet der ihm bekannten zitierten Rechtsprechung - für relevant ansah. Es hat sich in seiner Beweiswürdigung vor allem auch auf die weitgehend substanzlosen und ausweichenden Antworten des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung vom 6. Mai 2021 (zu diesem Zeitpunkt war der Revisionswerber bereits 23 Jahre alt) gestützt. Dass und aus welchen Gründen dem Revisionswerber in der Verhandlung genauere Angaben zum Fluchtgeschehen (etwa zum behaupteten spurlosen Verschwinden seiner beiden Brüder) aufgrund des damals noch minderjährigen Alters nicht möglich gewesen wären, zeigt die Revision nicht auf. Sie vermag daher auch nicht darzutun, dass die Beweiswürdigung fallbezogen unvertretbar gewesen wäre.

12       In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten war die Revision daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG als unzulässig zurückzuweisen.

Zu Spruchpunkt II.

13       Zu Recht macht die Revision geltend, dass das BVwG nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei seiner Entscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde legen muss, wobei zu beachten ist, dass bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben können (vgl. etwa VwGH 10.12.2014, Ra 2014/18/0078, mwN; VwGH 21.10.2020, Ra 2020/18/0284; vgl. jüngst auch VfGH 24.9.2021, E 3047/2021-11 zu einem Afghanistan betreffenden verwaltungsgerichtlichen Erkenntnis vom 1. Juli 2021).

14       Das BVwG verweist den Revisionswerber im angefochtenen Erkenntnis vom 29. Juni 2021 auf eine innerstaatliche Fluchtalternative insbesondere in den afghanischen Städten Herat und Mazar-e Sharif (vgl. zu den insoweit zu beachtenden rechtlichen Vorgaben VwGH 23.2.2018, Ra 2018/18/0001, mwN). Dieser Beurteilung legt es Länderberichte zur Lage in Afghanistan (zuletzt aktualisiert am 2. April 2021) zugrunde, die auf den mit 1. Mai 2021 begonnenen Abzug der internationalen Truppen und die dadurch bewirkten Änderungen der Sicherheitslage noch nicht eingehen. Die Revision führt demgegenüber Berichte an, die nach dem Beginn des Truppenabzugs und vor dem angefochtenen Erkenntnis datieren, welche eine - im Vergleich zu den Einschätzungen des BVwG - veränderte Sicherheitslage dokumentieren (starke Zunahme der Kampfhandlungen zwischen Taliban und Regierungstruppen; Übernahme der Kontrolle über weitere Distrikte durch die Taliban; Verstärkung des Drucks der Taliban in allen Regionen des Landes, usw.).

15       Da nicht auszuschließen ist, dass das BVwG bei Vermeidung des aufgezeigten Verfahrensmangels im gegenständlichen Fall zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das angefochtene Erkenntnis in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Aussprüche gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16       Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. November 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180298.L01

Im RIS seit

10.12.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.01.2022
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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