TE Vfgh Erkenntnis 2021/9/27 E1270/2021 ua

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Veröffentlicht am 27.09.2021
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §34, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigter betreffend eine Familie von Staatsangehörigen des Iraks; keine Auseinandersetzung mit Länderberichten des UNHCR betreffend die Lage sowie mit der Möglichkeit der Einreise in die Herkunftsprovinz Dohuk; mangelnde Auseinandersetzung mit Länderberichten betreffend die Situation von Kindern sowie die medizinische Versorgung der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin

Spruch

I. 1. Die beschwerdeführenden Parteien sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer vierzehntägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen werden, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

II. 1. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

2. Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind die Eltern der minderjährigen Dritt- und Viertbeschwerdeführerinnen. Die beschwerdeführenden Parteien sind irakische Staatsangehörige und lebten bis zu ihrer Ausreise aus ihrem Herkunftsstaat in Dohuk.

2. Die erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien stellten am 12. Mai 2018 Anträge auf internationalen Schutz. Die dritt- und viertbeschwerdeführenden Parteien wurden in Österreich geboren, für sie wurden in weiterer Folge ebenfalls Anträge auf internationalen Schutz gestellt.

3. Die Anträge der beschwerdeführenden Parteien wurden mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16. Oktober 2018 bzw betreffend die Viertbeschwerdeführerin vom 30. November 2020 jeweils sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erteilte den beschwerdeführenden Parteien keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung der beschwerdeführenden Parteien in den Irak zulässig ist, und setzte eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise fest.

4. Die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde wurde vom Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 8. März 2021, das mit Schriftsatz vom 5. Mai 2021 schriftlich ausgefertigt wurde, abgewiesen.

5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichtsakten und der Verwaltungsgerichtshof hat die Verwaltungsakten vorgelegt. Von der Erstattung einer Gegenschrift wurde sowohl vom Bundesverwaltungsgericht als auch vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Abstand genommen.

II. Erwägungen

A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer vierzehntägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie auch begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

2.1. Bei den beschwerdeführenden Parteien handelt es sich um eine Familie mit zwei minderjährigen Kindern und somit schon deshalb um eine besonders vulnerable und schutzbedürftige Personengruppe. Nach den UNHCR-Erwägungen ("International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq", S 115) vom Mai 2019 ist bei der Prüfung, ob subsidiärer Schutz zuzuerkennen ist, auf eine solche Vulnerabilität besonders Bedacht zu nehmen.

2.2. Während die Begründung des mündlich verkündeten Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 8. März 2021 jegliche Auseinandersetzung mit der Situation von Kindern im Irak vermissen lässt und lediglich – in für den Verfassungsgerichtshof nicht nachvollziehbarer Weise – ausgeführt wird, "dass trotz der Vulnerabilität einer Familie mit zwei kleinen Kindern keine Verletzung der Artikel 2 oder 3 EMRK zu erwarten" sei, trifft das Bundesverwaltungsgericht in seiner schriftlichen Ausfertigung vom 5. Mai 2021 zwar ergänzende, speziell Kinder betreffende allgemeine Feststellungen, unterlässt es jedoch, diese auf die zum Zeitpunkt der Entscheidung zweijährige Drittbeschwerdeführerin sowie acht Monate alte Viertbeschwerdeführerin in Bezug zu bringen; deshalb hat das Bundesverwaltungsgericht es in verfassungswidriger Weise unterlassen, zu prüfen, ob den Kindern im Falle einer Rückkehr in den Irak eine Verletzung in ihren gemäß Art2 und Art3 EMRK gewährleisteten Rechten droht (VfGH 11.6.2018, E4469/2017 ua; 25.9.2018, E1764/2018 ua; 11.12.2018, E2025/2018 ua; 23.9.2019, E1138/2019; 7.10.2020, E1524/2020 ua; 29.4.2021, E15/2021 ua). Vielmehr kommt das Bundesverwaltungsgericht zum Schluss, dass die beschwerdeführenden Parteien insgesamt keinem Personenkreis angehörten, von welchem anzunehmen sei, dass er sich in Bezug auf die individuelle Versorgungslage qualifiziert schutzbedürftiger darstelle als die übrige Bevölkerung, welche ebenfalls für ihre Existenzsicherung aufkommen könne. Damit verkennt das Bundesverwaltungsgericht das besondere Risikoprofil der beschwerdeführenden Parteien und hat sein Erkenntnis im angegebenen Umfang mit Willkür belastet (vgl VfGH 24.11.2020, E3373/2020 ua; 29.4.2021, E15/2021 ua).

2.3. Ferner geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, die Nachkontrollen der "erfolgreich behobene[n]" Aortenklappeninsuffizienz der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin könnten auch in einem der Krankenhäuser der Herkunftsregion durchgeführt werden, ohne konkrete Feststellungen dazu zu treffen. Vor dem Hintergrund der gesundheitlichen Situation der Viertbeschwerdeführerin hätten aber Ermittlungen zur medizinischen Versorgungslage im Herkunftsstaat durchgeführt werden müssen (vgl VfGH 12.6.2019, E1371/2019).

2.4. Diese Mängel schlagen gemäß §34 Abs4 AsylG 2005 auch auf die Entscheidung betreffend den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin durch (s VfSlg 19.855/2014); daher ist auch diese im selben Umfang – wie jene betreffend der Dritt- bis Viertbeschwerdeführerinnen – aufzuheben.

2.5. Schließlich stellt das Bundesverwaltungsgericht fest, die Herkunftsregion der beschwerdeführenden Parteien sei gefahrlos erreichbar, obwohl den Länderfeststellungen zu entnehmen ist, dass für die Einreise nach Dohuk ein Bürge benötigt werde. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich sohin nicht nachvollziehbar mit der sicheren Erreichbarkeit der Herkunftsprovinz für die beschwerdeführenden Parteien auseinandergesetzt (vgl VfSlg 20.296/2018; VfGH 23.2.2021, E3278/2020). Auch diesbezüglich hat es sein Erkenntnis mit Willkür belastet.

B. Im Übrigen, soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung der Anträge auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

3. Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde – soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht jeweils gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet – abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).

III. Ergebnis

1. Die beschwerdeführenden Parteien sind somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer vierzehntägigen Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese gemäß Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG; zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. Da die beschwerdeführenden Parteien gemeinsam durch eine Rechtsanwältin vertreten sind, ist der einfache Pauschalsatz, erhöht um einen entsprechenden Streitgenossenzuschlag von 20 vH des Pauschalsatzes, zuzusprechen. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 523,20 enthalten.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Entscheidungsverkündung, Kinder, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:E1270.2021

Zuletzt aktualisiert am

29.11.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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