TE OGH 2021/9/22 4Ob55/21y

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Veröffentlicht am 22.09.2021
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon.-Prof. PD Dr. Rassi, Dr. Parzmayr sowie die Hofrätin Mag. Istjan, LL.M., als weitere Richter in der Rechtssache der Klägerin N***** Ltd., *****, vertreten durch GEISTWERT Kletzer Messner Mosing Schnider Schultes Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die Beklagte V***** R*****, vertreten durch DDr. Heinz-Dietmar Schimanko, Rechtsanwalt in Wien, wegen 15.000 EUR sA, Unterlassung, Beseitigung, Rechnungslegung, Auskunft, Feststellung und Urteilsveröffentlichung (Gesamtstreitwert 33.000 EUR), über die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 27. November 2020, GZ 4 R 95/20z-24, mit dem das Teilurteil des Handelsgerichts Wien vom 2. April 2020, GZ 57 Cg 43/17z-21, bestätigt wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Text

Entscheidungsgründe::

[1]                     Die in Hong Kong ansässige Klägerin bietet Studenten der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) auf ihrer Website Onlinekurse zur Vorbereitung der Mathematikprüfung der Studieneingangsphase (STEOP) an. Diese Kurse bestehen aus 277 vom Geschäftsführer der Klägerin gedrehten Videos mit einer Gesamtdauer von 17,5 Stunden, in welchen er rund 260 Mathematik-Beispiele unter Zuhilfenahme einer Formelsammlung und zweier Tabellen, die er von der WU übernommen hat, durchrechnet, wobei es sich bei diesen Beispielen um alte Textbeispiele zweier Universitätsprofessoren der WU handelt. Im Auftrag der Hochschülerschaft der WU Wien hielt – mit Zustimmung der erwähnten Professoren – bereits ein Mitarbeiter der Hochschülerschaft seit dem Wintersemester 2002/03 Live-Kurse zur Vorbereitung der Mathematik-STEOP-Prüfung (ÖH-Kurse) ab. Der Geschäftsführer der Klägerin übernahm (allerdings ohne Zustimmung der beiden WU-Professoren oder der WU) nicht nur hinsichtlich Text und Schrift 90 % der Ressourcen dieses Kurses in Wortfolge, methodischer und didaktischer Eigenheiten, sondern darüber hinaus auch dessen Lernplan gleichsam 1:1 und erläuterte diesen rein akustisch im Onlinekurs der Klägerin. Die Teilnehmer des Kurses der Klägerin mussten in deren Account eingeloggt sein, ein Download von Kursmaterialien war jedoch nicht vorgesehen.

[2]                     Die Klägerin stellte ihren Vertragspartnern eine Gratis-Testversion, ein Basis-Paket und ein Premium-Paket zur Verfügung. In den ihrem Onlinekurs zu Grunde gelegten allgemeinen Geschäftsbedingungen behielt sich die Klägerin alle Rechte an ihren Lieferungen und Leistungen vor, diese durften nicht in einer über den Vertragszweck hinausgehenden Weise genutzt, insbesondere vervielfältigt oder Dritten zugänglich gemacht werden. Die Vertragspartner verpflichteten sich ua, die Urheberrechte der Klägerin nicht zu verletzen, Schutzrechte weder direkt noch indirekt, selbst oder über Dritte anzugreifen, die Produkte der Klägerin nicht zu kopieren, nachzuahmen oder durch Dritte kopieren oder nachahmen zu lassen; für den Fall des Zuwiderhandelns verpflichteten sie sich unwiderruflich, der Klägerin eine von einem Verschulden und dem Eintritt eines Schadens unabhängige Vertragsstrafe von 2.000 EUR zu bezahlen.

[3]                     Die Beklagte ist eine Studentin der WU und buchte den Premium-Kurs der Klägerin zu allen Mathematik-STEOP-Prüfungsmaterialien insgesamt viermal. Mit jeder Buchung akzeptierte sie die AGB der Klägerin, deren Bestätigung Voraussetzung für jede Kursbuchung ist. Am 26. 10. 2016 veröffentlichte sie in einer geschlossenen Facebook-Gruppe (mit damals rund 15.000 Mitgliedern) ein Posting, wonach sie die Inhalte der Klägerin auf Wunsch an alle Studenten unentgeltlich über E-Mail weitergebe. Mit diesen Inhalten könne man „genau so lernen, als hätte man dem Unternehmen 40 € geschenkt. Ich finde, die verdienen einfach zu gut.“ Ein ähnliches Posting veröffentlichte die Beklagte im selben Zeitraum in der Facebook-Gruppe „Mathematik-STEOP WU“ (mit rund 2.300 Mitgliedern) in englischer Sprache.

[4]                     Die Klägerin begehrte – gestützt auf Urheberrecht und auf Vertrag – 15.000 EUR Schadenersatz (inklusive der laut den AGB zu bezahlenden Vertragsstrafe in Höhe von 2.000 EUR) sowie, die Beklagte (zusammengefasst) zu verpflichten, es zu unterlassen, einzelne oder alle Inhalte, die auf der Website der Klägerin angeboten werden, wie insbesondere die dort gehosteten Videos und Kursmaterialien (inklusive Musterklausuren) betreffend die Mathematik-STEOP-Prüfung an der WU Wien im Sinne der §§ 14 bis 18a UrhG zu verwerten oder durch Dritte verwerten zu lassen. Darüber hinaus stellte sie ein Beseitigungs-, Rechnungslegungs-, Auskunfts-, Feststellungs- und ein Veröffentlichungsbegehren. Sie habe nach Veröffentlichung der beiden Postings durch die Beklagte einen drastischen Umsatzrückgang erlitten. Die Beklagte habe – trotz Abmahnung und Zusicherung der Beendigung dieser Tätigkeiten – all jenen den kostenlosen Zugang zu allen Inhalten der Klägerin angeboten, die ihr ihre E-Mail-Adressen bekanntgegeben hätten, und damit alle Inhalte der Online-Kurse vervielfältigt oder zumindest allen Mitgliedern der beiden Facebook-Gruppen angeboten.

[5]                     Die Beklagte erwiderte im Wesentlichen, ein urheberrechtlicher Eingriff liege mangels Schutzfähigkeit der von der Klägerin angebotenen Inhalte nicht vor. Die Vertragsstrafenvereinbarung sei unwirksam, weil die Klägerin selbst mit ihrem gesamten Angebot ausschließlich den Inhalt von Leistungen und das Material Dritter rechtswidrig ausbeute. Grund für die Umsatzrückgänge der Klägerin seien in Wahrheit deren überhöhte, nicht marktkonforme Entgelte, deshalb verlagere sich die Nachfrage zu den von der ÖH angebotenen Kursen. Die Beklagte habe keinen Gewinn oder sonstigen Nutzen aus dem Material gezogen; Ansprüche auf angemessenes Entgelt bestünden schon deshalb nicht.

[6]                     Das Erstgericht gab mittels Teilurteils dem Unterlassungs- und dem Rechnungslegungsbegehren statt und wies das Beseitigungs- Auskunfts-, Feststellungs- und Veröffentlichungsbegehren ab. Bei den von der Klägerin von dritter Seite übernommenen Leistungen handle es sich um Gemeingut und damit um keine eigentümlichen geistigen Schöpfungen. Aus diesem Grund lägen auch kein schutzfähiges Sammelwerk oder andere urheberrechtlich schutzfähigen Leistungen vor. Auf aus einer allfälligen Bearbeitung von Werken Dritter ableitbare Ausschließungsrechte habe sich die Klägerin nicht berufen. Daher schieden sämtliche Urheber- oder Leistungsschutzrechte als Anspruchsgrundlage aus. Die Beklagte habe jedoch die AGB der Klägerin akzeptiert, nach welchen sie Inhalte ihrer Website oder von Teilen davon nicht vervielfältigen oder Dritten zugänglich machen dürfe. Dennoch habe die Beklagte Kopien des Online-Kurses angefertigt, diese vervielfältigt und Dritten angeboten. Der Klägerin stünden daher Unterlassungs- und Schadenersatzansprüche zu, und sie habe auch einen Anspruch auf die Vertragsstrafe dem Grunde nach. Ausgehend davon sei das Rechnungslegungsbegehren berechtigt. Da die Klägerin als Betreiberin der Website – wenngleich allenfalls unter Verletzung von Rechten Dritter – zumindest die Videos erstellt habe, die in unveränderter Form von der Beklagten vervielfältigt und Dritten angeboten worden seien, liege bei der Klägerin kein offensichtlich unbegründeter Vermögensvorteil vor, der dem Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspreche oder gegen oberste Rechtsgrundsätze verstoße und die Sittenwidrigkeit der Vertragsstrafe begründen könnte.

[7]                     Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung, sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteige und erklärte die ordentliche Revision mangels Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zu einem vergleichbaren Sachverhalt für zulässig.

[8]                     Die Beklagte beantragt in ihrer – von der Klägerin unbeantwortet gebliebenen – Revision, die Klage abzuweisen; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Rechtliche Beurteilung

[9]                     Die Revision ist zur Klärung der Rechtslage zulässig, aber nicht berechtigt.

[10]                    1. Die Beklagte macht geltend, dass die Klägerin wegen des Nemo-Auditur-Grundsatzes (nemo auditur turpitudinem suam allegans), wonach sich niemand auf sein eigenes rechtswidriges Handeln berufen können soll bzw niemand aus seiner Unredlichkeit einen Vorteil ziehen darf, keinen Anspruch gegen die Beklagte habe, zumal sie unbefugt Leistungen Dritter ausbeute. Die Klägerin handle daher rechtsmissbräuchlich, und der Vertrag mit der Beklagten sei nach § 879 ABGB unwirksam.

[11]                    1.1. Missbräuchliche Rechtsausübung kann vorliegen, wenn das mit der Rechtsausübung verbundene Interesse bzw der damit verbundene Zweck verwerflich ist (Schikane, schikaneähnliche Tatbestände ua); wenn geschützte Ausübungsinteressen fehlen bzw die Rechtsausübung zweckwidrig ist; wenn ein krasses Missverhältnis der Beteiligteninteressen zugunsten dessen besteht, der sich auf sein Recht beruft; oder wenn der Erwerb eines Rechts oder einer tatsächlichen Position mit Rechtsfolgen missbilligt wird; oder weil der Handelnde ein widersprüchliches Verhalten setzt oder sein missbilligtes Verhalten die Verwirkung seines Rechts erfordert (vgl Krejci in Rummel/Lukas, ABGB4 § 879 Rz 154 mwN). Ein typischer Anwendungsfall einer „eigenen Rechtsverletzung“ betrifft die Situation, dass sich jemand zu seinem eigenen Vorteil auf eine Rechtsvorschrift beruft, die er gleichzeitig selbst missachtet (aaO Rz 160).

[12]                    1.2. Bei sämtlichen Varianten des Rechtsmissbrauchs wird aber im Wesentlichen ein „krasses Missverhältnis“ zwischen den Interessen des Rechtsausübenden und den beeinträchtigten Interessen des davon Betroffenen verlangt (5 Ob 630/89 = JBl 1990, 248; 1 Ob 11/93 = JBl 1994, 471; 4 Ob 58/93 = RdW 1994, 102), oder dass überwiegend unlautere Motive für die Geltendmachung der Ansprüche bestehen (vgl RIS-Justiz RS0026265 [T 13]). Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem von der Revisionswerberin mehrmals zitierten Rechtssatz RS0118920, wonach niemand aus dem eigenen rechtswidrigen Verhalten einen Vorteil ziehen darf. Dieser Rechtssatz geht auf die Entscheidung 9 ObA 50/03y zurück, in der das schutzwürdige Interesse eines Dienstnehmers an der Geheimhaltungsverpflichtung des Dienstgebers zur Verschleierung der berechtigten Unterhaltsansprüche der Ehegattin des Dienstnehmers verneint wurde. Das Motiv für die Geltendmachung des Anspruchs war daher dort nicht nur überwiegend, sondern ausschließlich unlauter.

[13]                    1.3. Auch wenn der Nemo-Auditur-Grundsatz zu den „natürlichen Rechtsgrundsätzen“ zählen mag, der iSd § 7 ABGB subsidiär in Ermangelung von besonderen zivilrechtlichen Bestimmungen heranzuziehen ist (vgl Lukits, Der Nemo-Auditur-Grundsatz: Entwicklung und Bedeutung im modernen Recht, AnwBl 2015, 144), so bedarf es doch eines direkten Zusammenhangs zwischen dem rechtswidrigen oder sittenwidrigen Handeln und der Geltendmachung des Rechts (vgl 4 Ob 62/16w), und nicht – wie hier – bloßer Elemente von Rechtswidrigkeit im Gesamtgefüge der Rechtsbeziehung inter partes.

[14]                    2.1. Im vorliegenden Fall wurden die urheberrechtlichen Ansprüche der Klägerin gegen die Beklagte bereits in erster Instanz rechtskräftig abgewiesen. Ein allfälliger Eingriff der Klägerin in Urheberrechte der ÖH oder deren Mitarbeiter ist daher nicht Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens. Hier geht es ausschließlich um Vertragsverletzungen der Beklagten, die sich gegenüber der Klägerin durch Akzeptanz deren AGB dazu verpflichtet hat, die Produkte der Klägerin nicht zu kopieren oder nachzuahmen oder durch Dritte kopieren oder nachahmen zu lassen. Dass die Beklagte gegen diese Vertragsverpflichtung verstoßen hat, ist unbestritten. Wenn nun die Dienstleistung der Klägerin zu 90 % aus von Dritten übernommenen Leistungen besteht (die dies mangels Vorgehens gegen die Klägerin dulden), so liegt darin kein rechtswidriges Verhalten der Klägerin gegenüber der Beklagten. Die teilweise Übernahme fremder Leistungen führt auch nicht dazu, dass damit die gesamte Leistung der Klägerin gemeinfrei und die Beklagte von der Einhaltung ihrer Vertragsverpflichtungen befreit würde. Schließlich hat die Klägerin die von dritter Seite übernommenen Leistungen zu einem „Gesamtpaket“ zusammengefasst, das sie in dieser Form den Studenten anbietet. Eine vergleichbare Vorgangsweise ist im Geschäftsverkehr durchaus üblich und auch nicht grundsätzlich rechtswidrig (vgl 4 Ob 84/19k, PsychotherapeutInnenverzeichnis). Von einem Rechtsmissbrauch der Klägerin, der darin gelegen sein soll, dass sie von ihren Vertragspartnern deren Vertragspflichten einfordert, obwohl sie Teile ihrer Leistungen von Dritten übernommen hat, kann daher keine Rede sein.

[15]                    2.2. Eine Konventionalstrafvereinbarung verstößt nur dann gegen die guten Sitten, wenn ihre Zahlung das wirtschaftliche Verderben des Schuldners herbeiführen oder seine wirtschaftliche Bewegungsfreiheit übermäßig beeinträchtigen könnte oder wenn schon bei einer nur geringfügigen Fristüberschreitung eine hohe Strafe verwirkt sein sollte. Es muss ein offensichtlich unbegründeter Vermögensvorteil für den Gläubiger vorliegen, der dem Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden widerspricht oder gegen oberste Rechtsgrundsätze verstößt (RS0016560).

[16]                    2.3. All diese Erfordernisse sind hier nicht gegeben, sodass eine Unwirksamkeit nach § 879 ABGB nicht zu begründen ist. Die Vorinstanzen haben zutreffend ausgeführt, dass die von der Rechtsprechung genannten Voraussetzungen eines Rechtsmissbrauchs nicht vorliegen, weil die Klägerin – wenn auch allenfalls unter Verletzung der Rechte Dritter – zumindest die Videos erstellt hat, die in unveränderter Form von der Beklagten vervielfältigt und an Dritte angeboten und weitergegeben wurden, und außerdem die Geltendmachung vertraglicher Rechte nur dann unzulässig ist, wenn der Vertragsabschluss als solcher (etwa wegen unredlichen Handelns, Täuschung oder Drohung) zu missbilligen ist (vgl Schubert in MünchKomm8 § 242 BGB Rz 256 mwN zur dt. Rsp).

[17]                             2.4. Zusammengefasst ist festzuhalten, dass die Schwelle für den Rechtsmissbrauch in Form eines „krassen Missverhältnisses“ der Interessen (bzw erst recht ein eindeutiges Überwiegen des unlauteren Motivs der Klägerin) nicht erreicht ist.

[18]                             Der Revision der Beklagten ist somit nicht Folge zu geben.

Textnummer

E133060

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2021:0040OB00055.21Y.0922.000

Im RIS seit

15.11.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.01.2022
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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