Entscheidungsdatum
08.09.2021Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W265 2193806-1/19E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Karin RETTENHABER-LAGLER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Caritas der Diözese Graz-Seckau – Rechtsberatung für Flüchtlinge und MigrantInnen, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.03.2018, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird als unbegründet abgewiesen.
II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und der Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird der Beschwerdeführerin eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte für die Dauer eines Jahres erteilt.
IV. In Erledigung der Beschwerde werden die Spruchpunkte III. bis VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Die Eltern der Beschwerdeführerin, XXXX , geb. XXXX , und XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörige Afghanistans, stellten nach unrechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 18.07.2016 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am 19.07.2016 fanden vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftlichen Erstbefragungen der Eltern der Beschwerdeführerin statt.
Der Vater der Beschwerdeführerin gab dabei zu seinem Fluchtgrund an, er habe seine Lebensgefährtin heiraten wollen, aber ihre Familien seien dagegen gewesen. Sie sei schwanger geworden und auch ständig von ihrer Mutter geschlagen worden. Weiters seien sie ständig bedroht worden und deshalb seien sie aus ihrer Heimat geflüchtet.
Die Mutter der Beschwerdeführerin gab zu ihrem Fluchtgrund an, sie habe ihren Lebensgefährten heiraten wollen, obwohl sie mit einem anderen Mann verlobt gewesen sei. Aber ihre Familien seien dagegen gewesen. Sie sei schwanger geworden und als ihre Mutter es erfahren habe, habe sie es ihrem Vater erzählen wollen. Sie sei auch ständig von ihrem Vater geschlagen worden. Weiters seien sie ständig bedroht worden und deshalb seien sie aus ihrer Heimat geflüchtet.
3. Die Beschwerdeführerin wurde am XXXX in Österreich geboren. Am 24.08.2016 stellte sie, vertreten durch ihren Vater als gesetzlichen Vertreter, einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Vaters der Beschwerdeführerin zu deren Antrag statt. Zu den Gründen der Antragstellung gab er dabei an, dass die Beschwerdeführerin keine eigenen Verfolgungsgründe und/oder Rückkehrbefürchtungen habe. Er stelle für sie deswegen einen Antrag auf internationalen Schutz, weil sie denselben Schutz erhalten solle wie er.
4. Am 17.10.2016 wurden die Eltern der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich zu einer Rückführung nach Italien einvernommen.
5. Mit Bescheiden vom 14.11.2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführerin und ihrer Eltern jeweils ohne in die Sache einzusteigen gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurück. Für die Prüfung der Anträge sei gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b. Dublin-III-VO Italien zuständig (Spruchpunkt I.). Gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG werde gegen sie die Anordnung zur Außerlandesbringung angeordnet. Demzufolge sei gemäß § 61 Abs. 2 FPG ihre Abschiebung nach Italien zulässig (Spruchpunkt II.).
6. Mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts vom 01.02.2017, Zl. W165 2141732-1/6E ua, wurde den dagegen fristgerecht erhobenen Beschwerden der Beschwerdeführerin und ihrer Eltern gemäß § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattgegeben, die Verfahren über die Anträge auf internationalen Schutz zugelassen und die bekämpften Bescheide behoben.
7. Am 14.03.2018 wurden die Eltern der Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich im inhaltlichen Asylverfahren einvernommen.
Dabei führte der Vater der Beschwerdeführerin zu seinen Fluchtgründen zusammengefasst aus, seine Gattin und er hätten sich geliebt, sie seien eineinhalb Jahre befreundet gewesen. Seine Mutter habe auf seine Bitte hin insgesamt drei Mal um die Hand seiner Frau angehalten, doch ihre Familie habe das abgelehnt und gesagt, dass sie verlobt sei. Der Familie seiner Frau seien die wiederholten Anträge verdächtig vorgekommen und sie hätten vermutet, dass die beiden ein Verhältnis hätten. Sie hätten seine Mutter gewarnt, dass Blut fließen würde, wenn es nochmal vorkomme. Sie hätten ihre Freundschaft fortgesetzt. Dann sei seine Gattin schwanger geworden und ihre Mutter habe den positiven Schwangerschaftstest gesehen. Sie habe sie geschlagen und vorgehabt, ihren Vater anzurufen. Seine Frau habe dann ihn angerufen und sie seien noch am selben Tag zusammen geflohen. Er habe Angst gehabt, mit seiner Frau gesteinigt zu werden, da ihr Vorfall ein schweres Verbrechen darstelle. Die Beschwerdeführerin habe keine eigenen Fluchtgründe, sondern beziehe sich auf die Fluchtgründe von ihm und seiner Gattin.
Die Mutter der Beschwerdeführerin führte zu ihren Fluchtgründen zusammengefasst aus, sie und ihr Mann seien ca. drei Jahre miteinander befreundet gewesen. Sie sei jedoch mit ihrem Cousin verlobt gewesen. Sie hätte gerne ihren Gatten geheiratet, doch ihre Familie sei dagegen gewesen. Die Familie ihres Gatten habe ein paar Mal um ihre Hand angehalten, aber ihre Mutter habe ihnen gesagt, dass sie verlobt sei und es keinen Sinn habe, um ihre Hand anzuhalten. Sie hätten auch gesagt, dass es sonst blutig enden würde. Sie habe sich jedoch weiter mit ihrem Gatten getroffen. Eines Tages habe sie einen Schwangerschaftstest gemacht. Ihre Mutter habe dies mitbekommen und sie geschlagen. Sie habe sie die Stiege runtergeworfen und gesagt, dass sie ihren Vater anrufen würde. Dann sei sie zusammen mit ihrem Mann geflohen. Es bestehe Lebensgefahr. Sollten ihre Eltern sie finden, würden sie sie töten. Auch die Bevölkerung oder die Taliban würden sie steinigen und die Polizei würde sie lebenslang verhaften, da sie eine nicht eheliche Beziehung geführt und ein Kind bekommen hätten. Man würde ihnen auch ihre Tochter wegnehmen und sie könnte getötet werden.
8. Mit Bescheiden vom 29.03.2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführerin und ihrer Eltern auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Weiters wurden der Beschwerdeführerin und ihren Eltern keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt (Spruchpunkt III.), gegenüber ihnen gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und die Frist für eine freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
Begründend führte die Behörde im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass die Eltern der Beschwerdeführerin ihr Heimatland aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung verlassen hätten. Ebenso wenig habe eine Bedrohungssituation im Falle ihrer Rückkehr festgestellt werden können. Die Angaben diesbezüglich seien nicht nachvollziehbar, widersprüchlich und somit nicht glaubhaft gewesen. Auch eine westliche Orientierung der Mutter der Beschwerdeführerin habe nicht festgestellt werden können. Die gesetzliche Vertretung der Beschwerdeführerin habe für sie keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht, sondern sich lediglich auf die Fluchtgründe ihrer Mutter bezogen. Eine Ansiedelung in Kabul, Mazar-i Sharif, Jalalabad und Herat sei möglich.
9. Gegen diesen Bescheid erhoben die Beschwerdeführerin und ihre Eltern durch ihre bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 20.04.2018 fristgerecht eine gemeinsame Beschwerde. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Behörde habe es unterlassen, auf das individuelle Vorbringen der Beschwerdeführer einzugehen und die Gesamtbeurteilung anhand der verfügbaren herkunftsstaatsspezifischen Informationen und entsprechend der bisherigen Judikatur des Bundesverwaltungsgerichts zu treffen. In Afghanistan werde vor- bzw. außerehelicher Geschlechtsverkehr als „Zina“ betrachtet. Zina werde von der Scharia, traditionellem Recht und afghanischem Recht als schwere Straftat eingestuft. Sowohl Männer als auch Frauen würden wegen Zina verhaftet und strafrechtlich verfolgt. Außerdem werde Zina als schwere Verletzung der Ehre der Familien, vor allem der Familie der Frau, gesehen. Die Frau wie auch der Mann könnten bedroht und sogar getötet werden. Auch müsse berücksichtigt werden, dass die Mutter der Beschwerdeführerin für afghanische Verhältnisse eindeutig einen westlichen Lebensstil pflege, was bereits an ihrem äußeren Erscheinungsbild zu erkennen sei. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft, da sie nicht befragt worden sei, wie sie sich als moderne Frau mit ihrer Tochter in der afghanischen Gesellschaft zurechtfinden könne. Für die Beschwerdeführerin selbst sei es unzumutbar, in einem Land wie Afghanistan zu leben, in dem Frauen täglich um ihre körperliche Unversehrtheit und um ihr Leben bangen müssten. Zwangsheiraten bereits im Kindesalter, der „Austausch“ weiblicher Familienangehöriger zur Beilegung von Stammesfehden und weit verbreitete häusliche Gewalt würden die Situation der Frauen kennzeichnen. Afghanische Frauen seien auch nach dem Sturz der Taliban als verfolgt zu betrachten. Für Personen in der Situation der Beschwerdeführer bestehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative, da ihre Verwandten versuchen würden, sie über das ethnische Netzwerk zu finden. Auch die Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul würden eine Rückkehr dorthin unzumutbar machen.
10. Die gegenständliche Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Schreiben vom 24.04.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt, wo sie am 27.04.2018 einlangten.
11. Infolge des Ablebens der Mutter der Beschwerdeführerin am 04.02.2020 wurde deren Beschwerdeverfahren mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.03.2020, Zl. W167 2193809-1/7E, eingestellt.
12. Mit Eingabe vom 08.05.2020 übermittelte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ein Schreiben der Bezirkshauptmannschaft XXXX , wonach der Kinder- und Jugendhilfeträger des Landes XXXX , vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft XXXX , gemäß § 211 ABGB die Obsorge für die minderjährige Beschwerdeführerin inne habe.
13. Mit Eingabe vom 27.07.2020 stellte die Beschwerdeführerin durch ihre bevollmächtigte Vertretung einen Antrag auf Gewährung der Akteneinsicht und elektronische Übermittlung des Bescheids und der Beschwerde.
14. Mit Schreiben vom 12.08.2020 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht der bevollmächtigten Vertretung der Beschwerdeführerin die beantragten Unterlagen.
15. Auf Grund der Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses vom 14.01.2021 wurde die gegenständliche Rechtssache der zuvor zuständigen Gerichtsabteilung W167 mit 03.02.2021 abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung W265 zugewiesen.
16. Mit Schreiben vom 03.08.2021 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht die gesetzliche und die bevollmächtigte Vertretung der Beschwerdeführerin um Übermittlung eines ausführlichen Berichts über deren bisherige und derzeitige Lebenssituation und um Bekanntgabe, ob dem Vater der Beschwerdeführerin das Sorgerecht entzogen worden sei. In diesem Fall werde um Übermittlung des entsprechenden Beschlusses ersucht. Das Bundesverwaltungsgericht sei bestrebt, zeitnah über das Asylverfahren zu entscheiden. Eine mündliche Verhandlung werde im Hinblick auf das Alter der Beschwerdeführerin nicht durchgeführt werden.
17. Mit Eingabe vom 10.08.2021 übermittelte die Bezirkshauptmannschaft XXXX einen Beschluss des Bezirksgerichts XXXX über die Gewährung von Verfahrenshilfe an die Beschwerdeführerin, eine Stellungnahme der zuständigen Sozialarbeiterin zu deren Lebenssituation und eine Stellungnahme der derzeitigen Pflegefamilie.
18. Mit Eingabe vom 18.08.2021 übermittelte die Bezirkshauptmannschaft XXXX ein Protokoll und einen Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 15.05.2020, mit dem dem Vater der Beschwerdeführerin die Obsorge für diese entzogen und festgestellt wurde, dass die Obsorge in Hinkunft zur Gänze dem Land XXXX als Kinder- und Jugendhilfeträger, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft, zukommt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragungen und Einvernahmen der Eltern der Beschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde, des genannten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt und die Verwaltungsakte der Eltern, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin, zu ihren persönlichen Umständen in Österreich und Afghanistan und zu ihrem Gesundheitszustand:
Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX und wurde am XXXX in XXXX geboren. Sie ist Staatsangehörige von Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitische Muslimin. Ihre Muttersprache ist Dari.
Die Eltern der Beschwerdeführerin, XXXX , geb. XXXX , und XXXX , geb. XXXX , stammen aus der Stadt Kabul. Sie verließen Afghanistan 2016 und stellten am 18.07.2016 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich.
Nach der Geburt der Beschwerdeführerin stellte am 24.08.2016 auch diese, vertreten durch ihren Vater, einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
Am 04.02.2020 tötete der Vater der Beschwerdeführerin deren Mutter. Er wurde dafür mit Urteil des Landesgerichts XXXX vom 08.07.2020, GZ XXXX , wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 18 Jahren verurteilt.
Die Beschwerdeführerin wurde in der Folge von der Bezirkshauptmannschaft XXXX zunächst auf einem Krisenpflegeplatz untergebracht. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 15.05.2020, GZ XXXX , wurde dem Vater der Beschwerdeführerin die Obsorge für diese entzogen und festgestellt, dass die Obsorge in Hinkunft zur Gänze dem Land XXXX als Kinder- und Jugendhilfeträger, vertreten durch die Bezirkshauptmannschaft, zukommt.
Im Juli 2020 wurde die Beschwerdeführerin dauerhaft bei Pflegeeltern in XXXX (Bezirk XXXX ) untergebracht, wo sie seither lebt. Sie hat sich nach einer schwierigen Anfangsphase mittlerweile sehr gut bei ihrer Pflegefamilie eingelebt, fühlt sich geborgen und wohl und ist in der gesamten Familie und näheren Umgebung voll integriert. Sie spricht mittlerweile sehr gut Deutsch und besucht seit September 2021 den Kindergarten.
Eine Tante väterlicherseits der Beschwerdeführerin lebt mit ihrer Familie in XXXX , diese konnte und wollte deren Pflege und Erziehung nicht übernehmen. Ihre Großeltern mütter- und väterlicherseits, die die Beschwerdeführerin nie kennengelernt hat, leben in Afghanistan. Niemand aus den Familien ihrer Eltern hat sich nach der Beschwerdeführerin erkundigt. Sie verfügt damit über keine aufrechten familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte in Afghanistan.
Die Beschwerdeführerin leidet an starker Neurodermitis, die sich unter ärztlicher Behandlung mittlerweile gebessert hat. Davon abgesehen ist sie gesund.
Die Beschwerdeführerin ist strafunmündig.
1.2. Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführerin:
Eigene, konkret die Beschwerdeführerin betreffende Fluchtgründe wurden im gesamten Verfahren nicht vorgebracht und sind auch nicht hervorgekommen.
Der Beschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr auch nicht alleine aufgrund ihres Alters, Geschlechts oder der Tatsache, dass sie in Österreich geboren ist, konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan
Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Fassung vom 11.06.2021 (LIB), in den Kurzinformationen (KI) der Staatendokumentation zur aktuellen Lage in Afghanistan vom 17.08.2021 und 20.08.2021, in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR), den EASO-Leitlinien zu Afghanistan vom Dezember 2020 (EASO) und in der UNHCR-Position zur Rückkehr nach Afghanistan vom August 2021 enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:
1.3.1. Aktuelle Lage (KI 17.08.2021 und 20.08.2021)
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani ist angesichts des Vormarsches der Taliban auf Kabul außer Landes geflohen. Inzwischen haben die Taliban die Kontrolle über den Präsidentenpalast in Kabul übernommen. Suhail Schahin, ein Unterhändler der Taliban bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, versicherte den Menschen in Kabul eine friedliche Machtübernahme und keine Racheakte an irgendjemanden zu begehen (tagesschau.de 15.8.2021).
Am 15.08.2021 haben die Taliban mit der größtenteils friedlichen Einnahme Kabuls und der Besetzung der Regierungsgebäude und aller Checkpoints in der Stadt den Krieg für beendet erklärt und das Islamische Emirat Afghanistan ausgerufen. Man wünsche sich friedliche Beziehungen mit der internationalen Gemeinschaft. Die erste Nacht unter der Herrschaft der Taliban im Land sei ruhig verlaufen. Chaotische Szenen hätten sich nur am Flughafen in Kabul abgespielt, von welchem sowohl diplomatisches Personal verschiedener westlicher Länder evakuiert wurde als auch viele Afghanen versuchten, außer Landes zu gelangen. Den Taliban war es zuvor gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast alle Provinzen sowie alle strategisch wichtigen Provinzhauptstädte wie z. B. Kandahar, Herat, Mazar-e Sharif, Jalalabad und Kunduz einzunehmen. In einigen der Städte seien Gefängnisse gestürmt und Insassen befreit worden (BAMF 16.8.2021; vgl. bbc.com o.D., orf.at 16.8.2021).
Die Taliban zeigten sich am Sonntag gegenüber dem Ausland unerwartet diplomatisch. „Der Krieg im Land ist vorbei“, sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender al-Jazeera. Bald werde klar sein, wie das Land künftig regiert werde. Rechte von Wien, 17.8.2021. Frauen und Minderheiten sowie die Meinungsfreiheit würden respektiert, wenn sie der Scharia entsprächen. Man werde sich nicht in Dinge anderer einmischen und Einmischung in eigene Angelegenheiten nicht zulassen (orf.at 16.8.2021a).
Schätzungen zufolge wurden seit Anfang 2021 über 550.000 Afghanen durch den Konflikt innerhalb des Landes vertrieben, darunter 126.000 neue Binnenvertriebene zwischen dem 7. Juli 2021 und dem 9. August 2021. Es gibt zwar noch keine genauen Zahlen über die Zahl der Afghanen, die aufgrund der Feindseligkeiten und Menschenrechtsverletzungen aus dem Land geflohen sind, es deuten aber Quellen darauf hin, dass Zehntausende von Afghanen in den letzten Wochen internationale Grenzen überquert haben (UNHCR 8.2021). Der Iran richtete angesichts des Eroberungszugs der militant-islamistischen Taliban im Nachbarland Pufferzonen für Geflüchtete aus dem Krisenstaat ein. Die drei Pufferzonen an den Grenzübergängen im Nord- sowie Südosten des Landes sollen afghanischen Geflüchteten vorerst Schutz und Sicherheit bieten. Indes schloss Pakistan am Sonntag einen wichtigen Grenzübergang zu seinem Nachbarland. Innenminister Sheikh Rashid verkündete die Schließung des Grenzübergangs Torkham im Nordwesten Pakistans am Sonntag, ohne einen Termin für die Wiedereröffnung zu nennen. Tausende Menschen säßen auf beiden Seiten der Grenze fest (orf.at 16.8.2021b).
Mittlerweile baut die Türkei an der Grenze zum Iran weiter an einer Mauer. Damit will die Türkei die erwartete Ankunft von afghanischen Flüchtlingen verhindern (Die Presse 17.8.2021).
Medienberichten zufolge haben die Taliban in Afghanistan Checkpoints im Land errichtet und sie kontrollieren auch die internationalen Grenzübergänge (bisherige Ausnahme: Flughafen Kabul). Seit Besetzung der strategischen Stadt Jalalabad durch die Taliban, wurde eine Fluchtbewegung in den Osten (Richtung Pakistan) deutlich erschwert. Die Wahrscheinlichkeit, dass Afghanen aus dem westlichen Teil des Landes oder aus Kabul nach Pakistan gelangen ist gegenwärtig eher gering einzuschätzen. Es ist naheliegender, dass Fluchtrouten ins Ausland über den Iran verlaufen. Es ist jedoch auch denkbar, dass die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung Afghanistans (statt einer Route über den schiitisch dominierten Iran) stattdessen die nördliche, alternative Route über Tadschikistan oder auch Turkmenistan wählt. Bereits vor zwei Monaten kam es laut EU-Kollegen zu einem Anstieg von Ankünften afghanischer Staatsbürger in die Türkei. Insofern ist davon auszugehen, dass eine erste Migrationsbewegung bereits stattgefunden hat. Pakistan gibt laut Medienberichten an, dass der Grenzzaun an der afghanisch-pakistanischen Grenze halte (laut offiziellen Angaben sind etwa 90 Prozent fertiggestellt) (VB 17.8.2021).
Laut Treffen mit Frontex kann zur Türkei derzeit noch keine Veränderung der Migrationsströme festgestellt werden. Es finden täglich nach Schätzungen ca. max. 500 Personen ihren Weg (geschleust) vom Iran in die Türkei. Dies ist aber keine außergewöhnlich hohe Zahl, sondern eher der Durchschnitt. Der Ausbau der Sicherung der Grenze zum Iran mit Mauer und Türmen schreitet immer weiter voran, und nach einstimmiger Meinung von Mig VB und anderen Experten kann die Türkei mit ihrem Militär (Hauptverantwortlich für die Grenzsicherung) und Organisationen (Jandarma, DCMM) jederzeit, je nach Bedarf die illegale Einreise von Flüchtlingen aus dem Iran kontrollieren. Die Türkei ist jedoch - was Afghanistan angeht - mit sehr hohem Interesse engagiert. Auch die Türkei möchte keine neunen massiven Flüchtlingsströme über den Iran in die Türkei (VB 17.8.2021a).
IOM muss aufgrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration mit sofortiger Wirkung weltweit aussetzen. Die Aussetzung der freiwilligen Rückkehr erfolgt bis auf Widerruf (IOM 16.8.2021).
Während die radikalislamischen Taliban ihren Feldzug durch Afghanistan vorantreiben, gehören Frauen und Mädchen zu den am meisten gefährdeten Gruppen. Schon in der letzten Regierungszeit der Taliban (1996-2001) herrschten in Afghanistan extreme patriarchale Strukturen, Misshandlungen, Zwangsverheiratungen sowie strukturelle Gewalt und Hinrichtungen von Frauen. Die Angst vor einer Wiederkehr dieser Gräueltaten ist groß. Eifrig sorgten Kaufleute in Afghanistans Hauptstadt Kabul seit dem Wochenende bereits dafür, Plakate, die unverschleierte Frauen zeigten, aus ihren Schaufenstern zu entfernen oder zu übermalen – ein Sinnbild des Gehorsams und der Furcht vor dem Terror der Taliban (orf.at 17.8.2021).
Die Spitzenpolitiker der Taliban sind aus Katar, wo viele von ihnen im Exil lebten, nach Afghanistan zurückgekehrt. Frauen werden Rechte gemäß der Scharia [islamisches Recht] genießen, so der Sprecher der Taliban. Nach Angaben des Weißen Hauses haben die Taliban versprochen, dass Zivilisten sicher zum Flughafen von Kabul reisen können. Berichten zufolge wurden Afghanen auf dem Weg dorthin von Taliban-Wachen verprügelt. Lokalen Berichten zufolge sind die Straßen von Kabul ruhig. Die Militanten sind in der ganzen Stadt unterwegs und besetzen Kontrollpunkte (bbc.com o.D.a).
Die internationalen Evakuierungsmissionen von Ausländerinnen und Ausländern sowie Ortskräften aus Afghanistan gehen weiter, immer wieder gibt es dabei Probleme. Die Angaben darüber, wie viele Menschen bereits in Sicherheit gebracht werden konnten, gehen auseinander, die Rede ist von 2.000 bis 4.000, hauptsächlich ausländisches Botschaftspersonal. Es mehren sich aktuell Zweifel, dass auch der Großteil der Ortskräfte aus dem Land gebracht werden kann. Bei Protesten gegen die Taliban in Jalalabad wurden unterdessen laut Augenzeugen drei Menschen getötet (orf.at o.D.a).
Jalalabad wurde kampflos von den Taliban eingenommen. Mit ihrer Einnahme sicherte sich die Gruppe wichtige Verbindungsstraßen zwischen Afghanistan und Pakistan. Am Mittwoch (18.8.2021) wurden jedoch Menschen in der Gegend dabei gefilmt, wie sie zur Unterstützung der alten afghanischen Flagge marschierten, bevor Berichten zufolge in der Nähe Schüsse abgefeuert wurden, um die Menschenmenge zu zerstreuen. Das von den Taliban neu ausgerufene Islamische Emirat Afghanistan hat bisher eine weiße Flagge mit einer schwarzen Schahada (Glaubensbekenntnis) verwendet. Die schwarz-rot-grüne Trikolore, die heute von den Demonstranten verwendet wurde, gilt als Symbol für die abgesetzte Regierung. Der Sprecher der Taliban erklärte, dass derzeit Gespräche über die künftige Nationalflagge geführt werden, wobei eine Entscheidung von der neuen Regierung getroffen werden soll (bbc.com o.D.b).
Während auf dem Flughafen der afghanischen Hauptstadt Kabul weiter der Ausnahmezustand herrscht, hat es bei einer Kundgebung in einer Provinzhauptstadt erneut Tote gegeben. In der Stadt Asadabad in der Provinz Kunar wurden nach Angaben eines Augenzeugen mehrere Teilnehmer einer Kundgebung zum afghanischen Nationalfeiertag getötet. Widerstand bildete sich auch im Panjshirtal, eine Hochburg der Tadschiken nordöstlich von Kabul. In der „Washington Post“ forderte ihr Anführer Ahmad Massoud, Chef der Nationalen Widerstandsfront Afghanistans, Waffen für den Kampf gegen die Taliban. Er wolle den Kampf für eine freiheitliche Gesellschaft fortsetzen (orf.at o.D.c).
Einem Geheimdienstbericht für die UN zufolge verstärken die Taliban die Suche nach „Kollaborateuren“. In mehreren Städten kam es zu weiteren Anti-Taliban-Protesten. Nach Angaben eines Taliban-Beamten wurden seit Sonntag mindestens 12 Menschen auf dem Flughafen von Kabul getötet. Westliche Länder evakuieren weiterhin Staatsangehörige und Afghanen, die für sie arbeiten. Der IWF erklärt, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (bbc.com o.D.d).
Vor den Taliban in Afghanistan flüchtende Menschen sind in wachsender medizinischer Not. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete, dass in Kliniken in Kabul und anderen afghanischen Städten immer mehr Fälle von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, Bluthochdruck und Corona-Symptomen aufträten. Dazu kämen vermehrt Schwangerschaftskomplikationen. Die WHO habe zwei mobile Gesundheitsteams bereitgestellt, aber der Einsatz müsse wegen der Sicherheitslage immer wieder unterbrochen werden (zdf.de 18.8.2021).
Priorität für die VN hat derzeit, dass die UNAMA-Mission in Kabul bleibe. Derzeit befindet sich ein Teil des VN-Personals am Flughafen, um einen anderen Standort (unklar ob in AF) aufzusuchen und von dort die Tätigkeit fortzuführen. Oberste Priorität der VN sei es die Präsenz im Land sicherzustellen. Zwecks Sicherstellung der humanitären Hilfe werde auch mit den Taliban verhandelt (? Anerkennung). Ein Schlüsselelement dabei ist die VN-SR-Verlängerung des UNAMA-Mandats am 17. September 2021 (VN 18.8.2021).
1.3.2. Taliban (LIB)
Die Taliban sind seit Jahrzehnten in Afghanistan aktiv. Die Taliban-Führung regierte Afghanistan zwischen 1996 und 2001, als sie von US-amerikanischen/internationalen Streitkräften entmachtet wurde; nach ihrer Entmachtung hat sie weiterhin einen Aufstand geführt (EASO 8.2020c; vgl. NYT 26.5.2020). Seit 2001 hat die Gruppe einige Schlüsselprinzipien beibehalten, darunter eine strenge Auslegung der Scharia in den von ihr kontrollierten Gebieten (EASO 8.2020c; vgl. RFE/RL 27.4.2020).
Die Taliban sind eine religiös motivierte, religiös konservative Bewegung, die das, was sie als ihre zentralen „Werte“ betrachten, nicht aufgeben wird. Wie sich diese Werte in einer künftigen Verfassung widerspiegeln und in der konkreten Politik einer eventuellen Regierung der Machtteilung, die die Taliban einschließt, zum Tragen kommen, hängt von den täglichen politischen Verhandlungen zwischen den verschiedenen politischen Kräften und dem Kräfteverhältnis zwischen ihnen ab (Ruttig 3.2021). Sie sehen sich nicht als bloße Rebellengruppe, sondern als eine Regierung im Wartestand und bezeichnen sich selbst als „Islamisches Emirat Afghanistan“, der Name, den sie benutzten, als sie von 1996 bis zu ihrem Sturz nach den Anschlägen vom 11.9.2001 an der Macht waren (BBC 15.4.2021).
Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando der Taliban sind in der Layha, einem Verhaltenskodex, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018). Die Taliban sind keine monolithische Organisation (NZZ 20.4.2020); nur allzu oft werden die Taliban als eine homogene Einheit angesehen, während diese aber eine lose Zusammenballung lokaler Stammesführer, unabhängiger Warlords sowie abgekoppelter und abgeschotteter Zellen sind (BR 5.3.2020). Während der US-Taliban-Verhandlungen war die Führung der Taliban in der Lage, die Einheit innerhalb der Basis aufrechtzuerhalten, obwohl sich Spaltungen wegen des Abbruchs der Beziehungen zu Al-Qaida vertieft haben (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Seit Mai 2020 ist eine neue Splittergruppe von hochrangigen Taliban-Dissidenten entstanden, die als Hizb-e Vulayet Islami oder Hezb-e Walayat-e Islami (Islamische Gouverneurspartei oder Islamische Vormundschaftspartei) bekannt ist (EASO 8.2020c; vgl. UNSC 27.5.2020). Die Gruppe ist gegen den US-Taliban-Vertrag und hat Verbindungen in den Iran (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020). Eine gespaltene Führung bei der Umsetzung des US-Taliban-Abkommens und Machtkämpfe innerhalb der Organisation könnten den möglichen Friedensprozess beeinträchtigen (EASO 8.2020c; vgl. FP 9.6.2020).
Während die Taliban behaupten, nicht mehr dieselbe brutale Gruppe zu sein die Afghanistan in den 1990er Jahren beherrschte, und versuchen inmitten der internationalen Bemühungen um eine Friedensregelung zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban ein versöhnlicheres Image zu vermitteln, sagen Afghanen, die derzeit unter der Kontrolle der Taliban leben, dass die militante Gruppe weiterhin in ihrer extremistischen Auslegung des Islam verwurzelt ist und mit Angst und Barbarei regiert (RFE/RL 13.4.2021), wobei sich viele innerhalb der Taliban erhoffen, ihr „Emirat“ wiederherstellen zu können (Ruttig 3.2021). Einem lokalen Vertreter der Taliban zufolge sind die Taliban von früher und die Taliban von heute dieselben (BBC 15.4.2021).
Die Taliban haben sich offenbar absichtlich vage darüber geäußert, was sie mit der „islamischen Regierung“ meinen, die sie schaffen wollen. Einige Analysten sehen darin einen bewussten Versuch, interne Reibereien zwischen Hardlinern und gemäßigteren Elementen zu vermeiden (BBC 15.4.2021). Es gibt Anzeichen für einen wirklichen Politikwandel in bestimmten Bereichen (z. B. bei der Nutzung der Medien, im Bildungssektor, eine größere Akzeptanz von NGOs und die Einsicht, dass ein zukünftiges politisches System zumindest einige ihrer politischen Rivalen aufnehmen muss), doch scheinen ihre politischen Anpassungen eher von politischen Notwendigkeiten als von grundlegenden Veränderungen in der Ideologie getrieben zu sein (Ruttig 3.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In den letzten Jahren haben sich die Taliban dazu bekannt, Frauen ihre Rechte zu gewähren und ihnen zu erlauben, zu arbeiten und zur Schule zu gehen, wenn sie nicht gegen den Islam oder die afghanischen Werte verstoßen (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021), aber laut einer großen Zahl von Afghanen, die unter der Herrschaft der Taliban leben, hat sich die Politik der militanten Gruppe in Bezug auf die Bildung von Mädchen seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht geändert (RFE/RL 13.4.2021). In einigen von den Taliban kontrollierten Gebieten sind Schulen für Mädchen komplett verboten (RFE/RL 13.4.2021; vgl. BBC 15.4.2021). In anderen Regionen gibt es Beschränkungen. Die Gruppe deutete auch an, dass sie die kürzlich gewonnenen Freiheiten der Frauen beschneiden will, die ihrer Meinung nach „Unmoral“ und „Unanständigkeit“ fördern (RFE/RL 13.4.2021).
Angesichts ihres anhaltenden dominierenden Verhaltens, ihrer Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden und ihrer Unterdrückung (insbesondere von Mädchen und Frauen) in den von ihnen kontrollierten Gebieten besteht die berechtigte Sorge, dass sie zu den Praktiken von vor dem Herbst 2001 zurückkehren könnten, wenn der politische Druck nach einem eventuellen Friedensabkommen und einem Truppenabzug nachlässt. Die Veränderungen in der Rhetorik und den Positionen der Taliban werfen jedoch ein Licht auf das, was sie in einer politischen Ordnung nach dem Friedensschluss in Afghanistan, in der sie sich mit anderen afghanischen Machtgruppen und Interessen zu einem Modus Vivendi zusammenfinden müssen, möglicherweise zu akzeptieren bereit sind. Ob einige Änderungen in der Herangehensweise aufrechterhalten werden, hängt von der Fähigkeit der afghanischen Gemeinschaft und politischen Gruppen ab, den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten. Dies wiederum hängt von der anhaltenden internationalen Aufmerksamkeit gegenüber Afghanistan ab, insbesondere wenn es zu einer politischen Einigung und einer Machtteilung kommt und nachdem die ausländischen Soldaten abgezogen sind (Ruttig 3.2021).
Im Jahr 2020 verursachten die Taliban weiterhin die meisten zivilen Opfer von allen Parteien des bewaffneten Konflikts (UNAMA 2.2021a). Nach Erkenntnissen der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) gingen die durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 40 % zurück (AIHRC 28.1.2021; vgl. ACCORD 6.5.2021) - nach Angaben der UNAMA war es ein Rückgang um 19 % (UNAMA 2.2021a). Der Hauptgrund für diesen Rückgang könnte ein Mangel an komplexen und Selbstmordattentaten in den großen Städten des Landes sein. Im Jahr 2020 wurden in Afghanistan insgesamt 4.567 Zivilisten durch Taliban-Angriffe getötet oder verletzt, während im gleichen Zeitraum 2019 die Gesamtzahl der durch Taliban-Angriffe verursachten zivilen Opfer bei 7.727 lag (AIHRC 28.1.2021; vgl ACCORD 6.5.2021). UNAMA schrieb den Taliban 3.960 zivile Opfer (1.470 Tote und 2.490 Verletzte) zu. Dieser Rückgang bezieht sich jedoch nur auf die verletzten Zivilisten, da Anstieg von getöteten Zivilisten um 13 % dokumentiert wurde (UNAMA 2.2021a).
Selbstmord- und Nicht-Selbstmord-IEDs verursachten mehr als die Hälfte der den Taliban zugeschriebenen zivilen Opfer, wobei Nicht-Selbstmord-IEDs fünfmal mehr zivile Opfer verursachten als Selbstmord-IEDs. Bodenkämpfe, einschließlich des Einsatzes von Mörsern und Raketen, waren für fast ein Viertel der von den Taliban verursachten zivilen Opfer verantwortlich. (UNAMA 2.2021a). UNAMA schrieb den Taliban 6 % mehr getötete Zivilisten aus Bodenkämpfen und 15 % weniger verletzte Zivilisten im Vergleich zu 2019 zu. Dieser Rückgang war hauptsächlich auf das Ausbleiben wahlbezogener Gewalt im Jahr 2020 zurückzuführen, wurde jedoch teilweise durch eine höhere Zahl von zivilen Opfern aufgrund der anhaltend hohen Zahl von Bodenkämpfen mit zivilen Opfern während des gesamten Jahres ausgeglichen (UNAMA 2.2021a).
Die UNAMA verzeichnete außerdem einen Anstieg der Zahl der durch gezielte Tötungen der Taliban, zu denen auch „Attentate“ gehören, die bewusst auf Zivilisten abzielen, getöteten und verletzten Zivilisten um 22 % und einen Anstieg der zivilen Opfer bei Entführungen von Zivilisten durch die Taliban um 169% (UNAMA 2.2021a).
1.3.3. Relevante Bevölkerungsgruppen
1.3.3.1. Kinder (LIB)
Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren insgesamt verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Von den ca. acht Millionen Schulkindern sind rund drei Millionen Mädchen. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika). Nach Angaben der AIHRC (Afghanistan Independent Human Rights Commission) sind die durch den Konflikt verursachten zivilen Opfer unter Kindern im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 um 25 Prozent zurückgegangen. Im Jahr 2020 gab es insgesamt 2.019 zivile minderjährige Opfer, darunter 565 getötete Kinder und 1.454 verletzte Kinder. Im Jahr 2019 betrug die Gesamtzahl der minderjährigen Opfer in der Zivilbevölkerung 2.696, darunter 445 getötete und 2.251 verletzte Kinder. UNAMA zählte 2019 874 getötete und 2.275 verletzte Kinder (3-%-Anstieg im Vergleich zu 2018), dies entspricht 30 % aller zivilen Opfer.
Die afghanische Bevölkerung ist eine der jüngsten und am schnellsten wachsenden der Welt - mit rund 47 % der Bevölkerung (27,5 Millionen Afghanen) unter 25 Jahren und 46 % (11,7 Millionen Kinder) unter 15 Jahren. Das Durchschnittsalter liegt in Afghanistan bei 18,4 Jahren und die Volljährigkeit beginnt mit dem 18. Geburtstag, wobei einige politische Kräfte dies mit Verweis auf die Scharia ablehnen. Die Zwangsverheiratung auch von Kindern unter dem gesetzlichen Mindestalter der Ehefähigkeit – 18 Jahre für Männer, 16 für Frauen (mit Zustimmung des Vaters 15 Jahre) – ist weit verbreitet.
Das Familienleben gilt als Schnittstelle für Fürsorge und Schutz. Armut, schlechte Familiendynamik und der Verlust wichtiger Familienmitglieder können das familiäre Umfeld für Kinder stark beeinflussen. Die afghanische Gesellschaft ist patriarchal (ältere Männer treffen die Entscheidungen), patrilinear (ein Kind gehört der Familie des Vaters an) und patrilokal (ein Mädchen zieht nach der Heirat in den Haushalt des Mannes). Die wichtigste soziale und ökonomische Einheit ist die erweiterte Familie, wobei soziale Veränderungen, welche mit Vertreibung und Verstädterung verbunden sind, den Einfluss der Familie etwas zurückgedrängt haben. Zu Hause und Familie sind private Bereiche. Das Familienleben findet hinter schützenden Mauern statt, welche allerdings auch familiäre Probleme vor der Öffentlichkeit verbergen.
Während des gesamten Jahres 2020 rekrutierten die Taliban, die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte und regierungsfreundliche bewaffnete Gruppen weiterhin Kinder. Die regierungsfeindlichen Elemente rekrutierten und verwendeten Kinder sowohl für Kampf- als auch für Dienstfunktionen. Während die afghanischen nationalen Sicherheitskräfte insgesamt Fortschritte bei der Verhinderung der Rekrutierung und des Einsatzes von Kindern gemacht haben, gibt der Einsatz von Kindern durch die afghanische Nationalpolizei zu Dienst- und sexuellen Zwecken und in geringerem Maße der Einsatz von Kindern durch die Territorial Force der afghanischen Nationalarmee (ANA-TF) und die [Anm.: in Auflösung begriffene] afghanische Lokalpolizei (ALP) für Kampffunktionen weiterhin Anlass zu großer Sorge. Zwischen dem 1. Januar und dem 31. Dezember 2020 verifizierte UNAMA die Rekrutierung und den Einsatz von 196 Jungen, wobei die meisten Fälle in den nördlichen und nordöstlichen Regionen des Landes auftraten. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass Rekrutierung und Einsatz von Kindern in Afghanistan oft nicht gemeldet werden
Schulbildung in Afghanistan
Die akademische Freiheit wird weitgehend in den von der Regierung kontrollierten Gebieten ausgeübt. Neben dem öffentlichen Schulwesen gab es 2020 einen Zuwachs an privaten Bildungsmöglichkeiten, wobei neue Universitäten volle Autonomie von der Regierung genießen.
Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zum Abschluss der Unterstufe der Sekundarschule (d.h. nach sechs Jahren Grundschule und drei Jahren Sekundärbildung) verpflichtend. Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger das Recht auf Bildung. Ob ein Kind tatsächlich in der Schule eingeschrieben wird, hängt vom Bildungsstand der Familie ab. Bildung wird vom Staat bis zum Hochschulabschluss in staatlichen Bildungseinrichtungen kostenlos zur Verfügung gestellt. Das Bildungsministerium hat aber keine ausreichenden Ressourcen, um die Bedürfnisse für ganz Afghanistan abzudecken.
In Afghanistan existieren zwei Bildungssysteme parallel zueinander. Für den Religionsunterricht sind die Mullahs in den Moscheen zuständig, während die Regierung für den kostenlosen akademischen Unterricht an den staatlichen Schulen sorgt. Von 6 bis 10 Jahren besuchen die Schülerinnen und Schüler Grundschulen, in denen sie die Grundlagen des Lesens, Schreibens, Rechnens und ihrer nationalen Kultur erlernen. Es folgen drei Jahre Mittelschule. Am Ende der Phase müssen die Schülerinnen und Schüler eine Prüfung ablegen, wenn sie ihre Schulbildung fortsetzen wollen. In der Sekundarschule haben die Schüler die Wahl, entweder drei Jahre lang eine akademische Laufbahn fortzusetzen, die vielleicht zur Universität führen könnte, oder stattdessen Fächer wie angewandte Landwirtschaft, Luftfahrt, Kunst, Handel und Lehrerausbildung zu belegen. Beide Studiengänge schließen mit einer "Bachelor"-Prüfung ab.
Kinder können in Afghanistan öffentliche, private oder religiöse Schulen besuchen. Der Unterricht in öffentlichen Bildungseinrichtungen von der Grundschule bis einschließlich der Universität ist kostenlos. Nur private Schulen und Universitäten heben Studiengebühren ein. Die Regierung versorgt die Schüler mit Schulbüchern. Jedoch sind das Budget und die Anzahl der Bücher meistens nicht ausreichend; auch wird das Unterrichtsmaterial oft zu spät zugestellt: z. B. vier Monate nach Unterrichtsbeginn. Aus diesen Gründen gibt es in Afghanistan einen Schwarzmarkt für Bücher, wo Familien kopierte Versionen der Schulbücher erwerben können. Der Staat versucht vergebens, dies zu verhindern. Die Regierung bietet weder Stipendien an, noch stellt sie Schulmaterialien für ärmere Familien zur Verfügung. In besonders verarmten Gebieten verteilen Organisationen wie UNICEF Schulmaterialien. Solche Hilfsaktionen betreffen allerdings nur die ländlichen Gebiete und auch dort ist das Ausmaß nicht ausreichend: in der Regel werden zwischen 80 und 100 Schulen versorgt. Einige private Schulen vergeben Stipendien, z. B. die Afghan-Turk-Schule. Meistens handelt es sich hierbei um Leistungsstipendien für Schüler von der siebten bis zur zwölften Klasse. Jedes Jahr werden zwischen 100 und 150 Stipendien je nach Kapazität der Schule vergeben.
Laut UNICEF wird in Afghanistan 3,7 Millionen Kindern im Alter zwischen 7 und 17 Jahren die Schulbildung vorenthalten, 60 % von ihnen sind Mädchen. Gemäß Schätzungen der CSO [Anm.: jetzt NSIA, Statistikbehörde Afghanistans] besuchten im Zeitraum 2016-17 landesweit 56,1 % der Kinder im Grundschulalter eine Grundschule. Es existieren allerdings erhebliche Unterschiede hinsichtlich des Geschlechts und Wohnorts: Während 77,5 % der Buben in urbanen Gebieten und 66% in ländlichen Gebieten eine Grundschule besuchten, waren es bei den Mädchen 45,5% im städtischen Raum und 40,3 % auf dem Land. Nur schätzungsweise 6,6 % der Angehörigen der nomadischen Gruppe der Kuchi im Grundschulalter besuchten im Zeitraum 2016-17 eine Grundschule (10 % der Buben und 2,5 % der Mädchen). Im Bereich der sekundären und tertiären Schulbildung (Mittelschule/höhere Schule, bzw. Universität) sind die Schulbesuchsraten in allen genannten Gruppen niedriger.
Die Schulbesuchsrate unter Buben aus Rückkehrerfamilien liegt bei 55 %, während es bei den Mädchen nur 30 % sind. Unter den Binnenvertriebenen (internally displaced persons, IDPs) besuchen 64 % der Buben und 42 % der Mädchen eine Schule. Damit beispielsweise Kinder von Binnenvertriebenen und speziell von Rückkehrern aus Pakistan auch die Möglichkeit zum Schulbesuch haben, arbeitet das Norwegian Refugee Council (NRC) mit dem afghanischen Bildungsministerium zusammen, um Schulen mit Unterrichtsmaterialien zu unterstützen und die Kapazitäten in diesen Institutionen zu erweitern.
Als Gründe für die niedrigen Schulbesuchsraten werden insbesondere bei Mädchen kulturelle Gegebenheiten, wahrgenommene oder tatsächliche Unsicherheit und die Distanz bis zur nächsten Schule genannt. Für alle Kinder ist Armut neben Wohnort, Geschlecht und etwaigen Behinderungen, ein bestimmender Faktor für den Schulbesuch oder -abbruch, bzw. Nichteintritt. Direkte Angriffe und Drohungen gegen Lehrer, Schulen und Schüler sowie wahllose Angriffe, die denselben beiläufig Schaden zufügen, behindern den Zugang von Kindern zu Bildung in Afghanistan zusätzlich. Kinder mit psychischen Problemen, Angehörige von ethnischen oder religiösen Minderheiten, unterschiedlichem linguistischem Hintergrund, Bewohner von Slums, Straßenkinder, Kinder von saisonal migrierenden Familien, Flüchtlinge und Binnenvertriebene gehen einer Studie zufolge überproportional oft nicht zur Schule. Ebenso wirkt sich Kinderarbeit negativ auf den Bildungsverlauf der betroffenen Kinder aus.
Neben der Qualität der Ausbildung ist die niedrige Schuleintrittsrate ein Hauptproblem des afghanischen Bildungssystems, auch wird von Mängeln hinsichtlich der Infrastruktur der Schulen - beispielsweise bei der Strom- und Wasserversorgung sowie den Sanitäranlagen - bzw. fehlenden Schulgebäuden berichtet. Die Gelder für die Instandhaltung der Schulen sind sehr gering und so werden diese oft von den Eltern zur Verfügung gestellt, oder von internationalen Organisationen wie UNICEF, die auch Wartungsarbeiten bzw. Reparaturen durchführen. In einigen Fällen, z. B. wenn das Schulgebäude zu klein und die Zahl der Schüler zu groß ist, wird der Unterricht in Zelten durchgeführt. Hierbei stellen die Wetterbedingungen oft eine Herausforderung dar: Herat ist z. B. oft starken Winden ausgesetzt, dadurch sind Zelte dort nicht als Unterrichtsstätten geeignet. Bezüglich der Schulzeit wird Afghanistan in „kalte“ und „warme“ Provinzen aufgeteilt: In ersteren schließen die Schulen mangels Heizmöglichkeiten im Winter und in letzteren wird der Unterricht wegen der hohen Temperaturen im Sommer unterbrochen.
Sowohl staatliche Sicherheitskräfte als auch die Taliban nützen Schulen als Militärposten. Zwischen dem 01.01.2020 und dem 31.12.2020 verifizierte UNAMA 62 Vorfälle, die den Zugang von Kindern zu Bildung beeinträchtigten. Dazu gehörten Angriffe, die auf Schulen und Madrassas abzielten oder diese zufällig beschädigten, die Tötung, Verletzung und Entführung von Bildungspersonal und Schülern sowie Drohungen gegen Bildungseinrichtungen und Personal. Im Mai 2021 explodierte eine Autobombe vor einer Mädchenschule in Dasht-e Barchi in Kabul, einer von mehrheitlich schiitischen Hazara bewohnten Gegend, wobei 58 Personen, darunter Schülerinnen getötet und mehr als 100 verletzt wurden.
Auch wird Korruption als ein Problem des afghanischen Bildungssektors genannt. Lehrer sind oftmals unterqualifiziert und das Lernumfeld für die Kinder inadäquat. Die Anzahl der Lehrer korreliert zudem nicht mit der Anzahl an Schülern und ist regional ungleich verteilt. Es besteht der Verdacht, dass Lehrposten aufgrund von Nepotismus und Bestechung vergeben werden. Insbesondere in den Provinzen wird der Lehrberuf aufgrund der niedrigen Bezahlung und der Sicherheitsrisiken als wenig attraktiv wahrgenommen.
Die COVID-19-Pandemie führte zu periodischen Schulschließungen im ganzen Land, wodurch der Zugang der Kinder zu Bildung im Jahr 2020 noch schwieriger wurde.
Kinderarbeit und Waisenhäuser
Afghanistan hat die UN-Kinderrechtskonvention ratifiziert. Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten. Trotz Verbesserungen mangelt es nach wie vor an einer wirksamen Regelung zur Verhinderung von Kinderarbeit. Nach afghanischem Recht ist das Mindestalter für eine Erwerbstätigkeit 18 Jahre, jedoch können Kinder zwischen 15 und 17 Jahren arbeiten, wenn „die Arbeit nicht schädlich ist, weniger als 35 Stunden pro Woche beträgt und eine Form der Berufsausbildung darstellt“. Kinder unter 14 Jahren dürfen nicht arbeiten. Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2018 sind insbesondere zwei Faktoren zentral: 1.) ob eine Familie intakt ist, oder bedeutsame Ernährer der Familie (Väter) fehlen; 2.) ist auch die Haltung der Familien, insbesondere der Eltern, gegenüber Kinderarbeit und Bildung von Bedeutung.
Viele Familien, insbesondere die mit weiblichem Oberhaupt, sind auf die Einkünfte, die ihre Kinder erwirtschaften, angewiesen. Daher ist eine konsequente Umsetzung des Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt Programme, die es Kindern erlauben sollen, neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z. B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) sind gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen dieser gesetzlichen Regelungen. 6,5 Millionen Kinder gelten als Gefahren ausgesetzt. Viele Kinder sind unterernährt. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt.
Im Jahr 2014 haben laut AIHRC (Children’s Situation Summary Report vom 14.Dezember 2014) 51,8 % der Kinder in Afghanistan auf die ein oder andere Weise gearbeitet. Die CSO (Central Statistics Organization) [Anm.: jetzt NSIA, Statistikbehörde Afghanistans] schätzte den Anteil der arbeitenden Kinder gemäß der Definition von Kinderarbeit der International Labour Organization (ILO) unter den fünf- bis 17-Jährigen im Zeitraum 2013-14 auf 26,5 %. Gemäß der Definition von Kinderarbeit durch UNICEF waren nach CSO-Schätzung im selben Zeitraum 29,4 % der fünf- bis 17-Jährigen in Kinderarbeit involviert, wobei UNICEF - anders als ILO - auch Tätigkeiten im Haushalt berücksichtigt. Bei beiden Definitionen von Kinderarbeit lag der Anteil der arbeitenden Buben (ILO: 32,7 %; UNICEF: 34, 1%) über jenem der Mädchen (ILO: 19,6 %; UNICEF: 24,2 %). Kinderarbeit ist unter IDPs weiter verbreitet, als in anderen Bevölkerungsschichten.
Arbeitsgesetze sind meist unbekannt und Vergehen werden oftmals nicht sanktioniert. Arbeitende Kinder sind besonders gefährdet, Gewalt oder sexuellen Missbrauch zu erleiden. Dies kann durch den Arbeitgeber, aber auch durch andere Personen geschehen. Für Kinder, welche ungeschützt im öffentlichen Raum arbeiten, besteht beispielsweise ein erhöhtes Risiko von Entführungen, sexuellen Übergriffen und in manchen Fällen auch Tötungen.
Neben Kinderarbeit, welche ausschließlich dem Gelderwerb dient, existieren in Afghanistan auch Beschäftigungsverhältnisse von Kindern, welche sich an einem Lehrmodell orientieren. Eltern geben ihre Kinder dabei bei einem Arbeitgeber in die Lehre, um dem Kind das Erlernen eines Berufs zu ermöglichen. Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2018 erfüllen viele Arbeitgeber ihre Pflichten gegenüber den Kindern und behandeln diese entsprechend, jedoch können Arbeitgeber bei Vergehen gegenüber den Kindern kaum zur Rechenschaft gezogen werden.
Beobachtungen verschiedener Organisationen, darunter IOM, Weltbank, UNICEF und ILO, deuten darauf hin, dass Kinderarbeit während der COVID-19-Krise für viele Familien zu einem Bewältigungsmechanismus geworden ist. Mit Stand März 2021 sind staatliche Schulen geschlossen, was die Situation für die Kinder verschlechtert und sie zwingt, Vollzeit zu arbeiten. In Koordination mit dem Afghanistan Protection Cluster (APC) führte IOM 1.659 Haushaltsbefragungen bei undokumentierten Rückkehrern durch, um die Auswirkungen von COVID-19 auf das Umfeld des Schutzes in elf Provinzen zu untersuchen. Vorläufige Ergebnisse weisen auf eine Zunahme der Kinderarbeit an einigen Orten hin: Ghor und Sar-i-Pul waren die Provinzen mit den höchsten Raten, welche im Juni 2020 ihren Höchststand erreichten (mit 81 % bzw. 63 %).
Die Lebensbedingungen in afghanischen Waisenhäusern sind schlecht. Laut NGOs sind bis zu 80 % der vier- bis 18-Jährigen in den Waisenhäusern keine Waisen, sondern Kinder, deren Familien nicht für ihre Verpflegung, Unterkunft oder Bildung sorgen können. Kinder in Waisenhäusern berichteten von psychischem, physischem und sexuellem Missbrauch, manchmal werden sie auch zu Opfern von Menschenhandel. Sie haben keinen regelmäßigen Zugang zu Wasser, Heizung im Winter, Sanitäranlagen innerhalb des Hauses, Gesundheitsleistungen, Freizeiteinrichtungen oder Bildung.
Sexueller Missbrauch und körperliche Züchtigung von Kindern
Obwohl gesetzlich verboten, bleibt die körperliche Bestrafung in Schulen, Rehabilitationszentren und anderen öffentlichen Einrichtungen weit verbreitet. Dem afghanischen Strafgesetzbuch zufolge, stehen Kindesmissbrauch und -vernachlässigung unter Strafe. Körperliche oder geistige Züchtigung sowie Misshandlung eines Kindes können wie folgt bestraft werden: eine Geldstrafe von 10.000 Afghanis (rund 130 USD), bis zu einem Jahr Gefängnis, vorausgesetzt das Kind erleidet keine schweren Verletzungen oder Behinderung. Der Straftatbestand der Gefährdung des Lebens eines Kindes wird mit einer Strafe von ein bis zwei Jahren Gefängnis oder einer Geldstrafe von 60.000 bis 120.000 Afghanis (ca. 800 bis 1.600 USD) in bar geahndet.
In weiten Teilen Afghanistans bleibt der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird gewöhnlich unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. Es wird von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen, da die Mehrheit der Vorfälle nicht angezeigt wird. UNAMA konnte in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 aufgrund der mit dem Thema verbundenen gesellschaftlichen Befindlichkeiten lediglich vier Fälle von sexueller Gewalt gegen Minderjährige überprüfen und dokumentieren. Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein. Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen ist durch das afghanische Gesetz unter Strafe gestellt, die strafrechtliche Verfolgung scheint nur in Einzelfällen stattzufinden.
Die afghanische Polizei war im Jahr 2018 nur begrenzt zur Bekämpfung von Sexualverbrechen fähig, teilweise aufgrund der niedrigen Anzahl von Frauen in der Polizei (rund 1,8 % der Kräfte). Im Jahr 2018 dokumentierte UNAMA in dieser Hinsicht 37 Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Fünf Vergewaltigungen und eine Zwangsheirat wurden von UNAMA bestätigt, welche von Konfliktparteien begangen wurden - unter anderem von Mitgliedern der Taliban sowie einer weiteren nicht identifizierten Person einer regierungsfeindlichen Gruppierung. In fünf von sechs Fällen wurden die Angeklagten von den Behörden belangt und verurteilt. UNAMA hat auch zwei Fälle von sexueller Gewalt gegen Buben durch Mitglieder der afghanischen Nationalpolizei überprüft; in einem Fall handelte es sich um Bacha Bazi (sog. „Tanzjungen“ auch „Knabenspiel“).
Berichten zufolge kam zu Fällen von Misshandlung und sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch die Polizei. Minderjährige, welche sich in Missbrauchsfällen an die Polizei wandten, berichteten von weiterer Belästigung und Missbrauch durch Exekutivbeamte, insbesondere bei Fällen von Bacha Bazi, was Opfer davon abhielt, Vergehen zu melden. Es wird von sexuellen Übergriffen durch die Streitkräfte, der Afghan Local Police (ALP) und Afghan National Police (ANP) berichtet.
1.3.3.2. Frauen (LIB)
Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft insgesamt ein wenig verbessert hat, können sie ihre gesetzlichen Rechte innerhalb der konservativ-islamischen, durch Stammestraditionen geprägten afghanischen Gesellschaft oft nur eingeschränkt verwirklichen. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Dennoch arbeiten Frauen als Gesetzgeberinnen, Richterinnen, Lehrerinnen, Gesundheitsarbeiterinnen, Beamtinnen, Journalistinnen und Führungskräfte in Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Von den etwa 9 Millionen eingeschriebenen Schülern sind 3,5 Millionen Mädchen. Der gesetzliche Rahmen Afghanistans bietet Frauen - zumindest auf dem Papier - viele Schutzmaßnahmen, einschließlich gleicher Rechte für Frauen und Männer. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit.
Seit dem Fall der Taliban wurden jedoch langsam Fortschritte in dieser Hinsicht erreicht, welche hauptsächlich in urbanen Zentren wie z. B. Herat-Stadt zu sehen sind. Das Stadt-Land-Gefälle und die Sicherheitslage sind zwei Faktoren, welche u. a. in Bezug auf Frauenrechte eine wichtige Rolle spielen. Einem leitenden Mitarbeiter einer in Herat tätigen Frauenrechtsorganisation zufolge kann die Lage der Frauen innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden. Daher muss die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Die Lage der Frau stellt sich in ländlichen Gegenden, wo regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv sind und die Sicherheitslage volatil ist, anders dar als z. B. in Herat-Stadt. In der Provinzhauptstadt Mazar-e Sharif und den angrenzenden Distrikten sind die Lebensumstände für Frauen verglichen mit anderen Landesteilen beispielsweise gut. Hier gibt es Frauen, welche sich frei bewegen, studieren oder arbeiten können und auch selbst entscheiden dürfen, ob sie heiraten oder nicht. Es gibt aber auch in Mazar-e Sharif Frauen, deren Familien dies nicht erlauben.
Im Zuge der Friedensverhandlungen bekannten sich die Taliban zu jenen Frauenrechten, die im Islam vorgesehen sind, wie zu Lernen, zu Studieren und sich den Ehemann selbst auszuwählen. Zugleich kritisierten sie, dass 'im Namen der Frauenrechte' Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden. Die Taliban haben während ihres Regimes afghanischen Frauen und Mädchen Regeln aufoktroyiert, die auf ihren extremistischen Interpretationen des Islam beruhen, und die ihnen ihre Rechte - einschließlich des Rechts auf Schulbesuch und Arbeit - vorenthalten und Gewalt gegen sie gerechtfertigt haben. Die afghanischen Frauen sind jedoch ob der Verhandlungen mit den Taliban besorgt und fürchten um ihre mühsam erkämpften Rechte. Eine jener vier Frauen, die an den Verhandlungen mit den Taliban teilnehmen, glaubt nicht, dass sich die Taliban-Kämpfer, die an der Frontlinie stehen, geändert hätten. Am 18.3.2021 empfing die russische Regierung Vertreter der afghanischen Regierung, der Taliban und von Partnerländern zu einem Gipfeltreffen, das die Friedensgespräche voranbringen sollte. Der 12-köpfigen afghanischen Regierungsdelegation gehörte eine Frau, Dr. Habiba Sarabi, an - ein Rückschritt gegenüber der Teilnahme von vier Frauen unter den 20 Mitgliedern beim innerafghanischen Dialog in Doha, Katar, im September 2020. Die 10-köpfige Taliban-Delegation war wie in der Vergangenheit ausschließlich männlich. Afghanische Frauenrechtsaktivistinnen haben die Sorge geäußert, dass Frauen von den geplanten Friedensgesprächen in der Türkei weitgehend ausgeschlossen werden, wodurch die Rechte der Frauen bei einer endgültigen Einigung stark gefährdet sind
Restriktive Einstellung und Gewalt gegenüber Frauen betreffen jedoch nicht nur Gegenden, welche unter Taliban-Herrschaft stehen, sondern hängen grundsätzlich mit der Tatsache zusammen, dass die afghanische Gesellschaft zum Großteil sehr konservativ ist. Gewalt gegenüber Frauen ist sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. So kann bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen den Taliban und der Bevölkerung verzeichnet werden. In den Städten hingegen ist die Situation ganz anders.
Auch im Jahr 2020 wurden Frauen durch den bewaffneten Konflikt in vielfältiger Weise geschädigt, unter anderem durch Tod, Verletzungen und sexuelle Gewalt. Frauen trugen auch die Hauptlast der breiteren Auswirkungen des bewaffneten Konflikts, die sich negativ auf die Wahrnehmung einer breiten Palette von Menschenrechten auswirkten, einschließlich der Bewegungsfreiheit und des Zugangs zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Justiz sowie des Rechts, nicht aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung diskriminiert z