RS Vfgh 2021/3/10 V574/2020 ua

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Veröffentlicht am 10.03.2021
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Index

70/02 Schulorganisation

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verordnung
B-VG Art14 Abs5a
B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 Z3
EMRK 1. ZP Art2
SchulorganisationsG §132c
SchulunterrichtsG §82m
SchulunterrichtsG-BKV §72b
SchulzeitG 1985 §16e
BundesministerienG 1986 §2
COVID-19-SchulV BGBl II 384/2020 idF BGBl II 478/2020 §13 Abs6, §34
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Sachlichkeit der COVID-19-Schulverordnung 2020/21 betreffend den ortsungebundenen Unterricht ("distance learning") für den Zeitraum vom 17.11.2020 bis 06.12.2020; ausreichende Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen im Verordnungsakt des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft und Forschung; Anordnung des ortsungebundenen Unterrichts auf Grund wissenschaftlich belegter Unsicherheit über die Verbreitung von COVID-19, der epidemiologischen Lage zum Entscheidungszeitpunkt sowie der Möglichkeit der pädagogischen Betreuung am Schulstandort sachlich gerechtfertigt; Erfüllung des verfassungsrechtlichen Bildungsauftrags der Schule bei dauerhaft ortsungebundenem Unterricht nicht gewährleistet

Rechtssatz

Abweisung von Individualanträgen auf Aufhebung der §§13 Abs6 und 34 der Verordnung des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft und Forschung zur Bewältigung der COVID-19 Folgen im Schulwesen für das Schuljahr 2020/21 (COVID-19-Schulverordnung 2020/21 - C-SchVO 2020/21), BGBl II 384/2020, idF BGBl II 478/2020. Zurückweisung der Anträge im Übrigen: Unzulässigkeit der Hauptanträge gegen §13 Abs6 C-SchVO 2020/21 als zu eng. Nach der Systematik der C-SchVO 2020/21 gelangen je nach aktuell festgelegter Ampelphase verschiedene Bestimmungen zur Anwendung. Die Anordnung von ortsungebundenem Unterricht ergibt sich in der Ampelphase "Rot" aus §34 C-SchVO 2020/21. Gemäß §13 Abs6 C-SchVO 2020/21 waren im Zeitraum vom 17.11.2020 bis 06.12.2020 die Bestimmungen des 4. Abschnittes des 2. Teiles (Bestimmungen für die Ampelphase "Rot") und somit §34 C-SchVO 2020/21 anzuwenden. Vor dem Hintergrund der vorgebrachten Bedenken besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen §13 Abs6 C-SchVO 2020/21und §34 C-SchVO 2020/21. Zulässigkeit der ersten Eventualanträge: Die Antragsteller sind als Schüler durch die Anordnung von ortsungebundenem Unterricht gemäß §13 Abs6 iVm §34 Abs1 C-SchVO 2020/21unmittelbar in ihrer Rechtssphäre betroffen. §34 Abs2 und 3 C-SchVO 2020/21 steht mit Abs1 leg cit in einem Regelungszusammenhang und ist von diesem nicht offenkundig trennbar. Dass der zeitliche Anwendungsbereich der angefochtenen Regelungen nach §13 Abs6 iVm §34 C-SchVO 2020/21 mit Ablauf des 06.12.2020 geendet hat und §13 Abs6 zudem am 22.12.2020 novelliert wurde, schadet nicht (V411/2020 ua und G202/2020 ua, beide E v 14.07.2020).

Ausreichende Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen im Verordnungsakt:

Den Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verordnungserlassungsverfahren entspricht die bloße Sammlung und Übermittlung von jeglichen zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Daten und Studien zu den Auswirkungen und zur Verbreitung von COVID-19 nicht. Vielmehr müssen jene Entscheidungsgrundlagen nachvollziehbar dokumentiert werden, die für die Willensbildung des Verordnungsgebers zum Zeitpunkt der Erlassung tatsächlich ausschlaggebend waren. Bei Vorlage umfangreicher Verordnungsakten kann dem auch durch eine zusammenfassende nachvollziehbare Darstellung der zentralen, für den Verordnungsgeber besonders relevanten Umstände, insbesondere der Grundlagen für die Interessenabwägung beziehungsweise der Verhältnismäßigkeitsprüfung, unter Verweis auf die maßgeblichen Unterlagen entsprochen werden; dies ist notwendig, um die Gesetzmäßigkeit der Verordnung überprüfen zu können. Material, bei dem nicht nachvollziehbar ist, inwiefern es Grundlage für die Willensbildung war, vermag die Dokumentationspflicht nicht zu erfüllen.

Dem Verordnungsakt, welcher der Änderung der C-SchVO 2020/21 mit Verordnung BGBl II 478/2020 zugrunde liegt, ist - soweit für die Beurteilung des VfGH Anforderungen der aktenmäßigen Dokumentation im Verordnungserlassungsverfahren (s V363/2020 und V411/2020 ua, beide E v 14.07.2020) relevant - Folgendes zu entnehmen:

Die Bundesregierung habe auf Grund der Beurteilung der epidemiologischen Lage durch die Corona-Kommission am 29.10.2020 zusätzliche Maßnahmen in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens beschlossen, um die SARS-CoV-2-Pandemie einzudämmen und Erkrankungen mit COVID-19 zu vermeiden. Der Schulbetrieb werde deshalb flächendeckend, mit Ausnahme der Sonderschulen, auf ortsungebundenen Unterricht umgestellt. Als Zeitraum für die Ampelphase "Rot" iSd C-SchVO 2020/21 werde der 17.11.2020 bis 06.12.2020 festgelegt.

Zur Beurteilung der epidemiologischen Lage durch die Corona-Kommission am 29.10.2020 ergibt sich aus dem Verordnungsakt, dass die Corona-Kommission auf Basis der Entwicklung der Fallzahlen von einer kritischen Situation für das Gesundheitswesen ausgegangen ist. Die Corona-Kommission stellte fest, dass die Situation das Ergreifen von geeigneten bundesweiten Maßnahmen - wie etwa nach §5 COVID-19-Maßnahmengesetz - nahelegte, um einen drohenden Zusammenbruch der medizinischen Versorgung abzuwenden.

Für die Anordnung von ortsungebundenem Unterricht verweist der Verordnungsakt auf einen Begleitakt, in welchem Entscheidungsgrundlagen beziehungsweise wissenschaftliche Unterlagen zur Rolle von Schulen im epidemiologischen Geschehen gesammelt werden. Der Begleitakt enthält insbesondere die von der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) regelmäßig für den Bundesminister für Wissenschaft und Forschung (BMBWF) erstellte Clusterfallanalyse zur epidemiologischen Lage in der Altersgruppe der Personen unter 25 Jahren. Darin analysiert die AGES getrennt nach fünf Altersgruppen (unter 6 Jahre, 6 bis 9 Jahre, 10 bis 14 Jahre, 15 bis 19 Jahre, 20 bis 24 Jahre) das Infektionsgeschehen und ordnet jene Fälle mit geklärter Infektionsquelle einem Übertragungssetting, wie etwa "Bildung", "Haushalt" oder "Freizeit", zu. Dem Begleitakt ist auch die Clusterfallanalyse mit Stand 12.11.2020 zu entnehmen, welche zwei Tage vor Kundmachung der Verordnung BGBl II 478/2020 am 14.11.2020 zur Verfügung stand.

Auf dieser Grundlage weist der BMBWF in seiner Äußerung darauf hin, dass die Datenlage vom 12.11.2020 bei den Altersgruppen 6 bis 9 Jahre sowie 10 bis 14 Jahre einen deutlichen Anstieg der Infektionszahlen nach dem Ende der Herbstferien am 31.10.2020 zeige. Hingegen seien die Infektionszahlen bei den Schülerinnen und Schülern zwischen 15 bis 19 Jahren, welche sich ab dem 03.11.2020 größtenteils im ortsungebundenen Unterricht befanden, gesunken und auch niedrig geblieben.

Der BMBWF hat im Verordnungsakt zu BGBl II 478/2020 gerade noch hinreichend dargelegt, auf welcher Informationsbasis beziehungsweise auf welchen Grundlagen die Entscheidung über die Anordnung von ortsungebundenem Unterricht für den angeordneten Zeitraum getroffen wurde.

Sachlichkeit des ortsungebundenen Unterrichts vom 17.11.2020 bis 06.12.2020:

Der VfGH bezweifelt nicht, dass die Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 im Schulwesen beziehungsweise die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs unter den Rahmenbedingungen der COVID-19-Pandemie im öffentlichen Interesse liegt. Der BMBWF konnte zum Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Maßnahme auch vertretbar davon ausgehen, dass die Anordnung von ortsungebundenem Unterricht ein taugliches Mittel zur Erreichung dieser Zielsetzung ist.

Bei ortsungebundenem Unterricht erfolgt die Unterrichts- und Erziehungsarbeit unter Einsatz elektronischer Kommunikationsmittel und ohne physische Anwesenheit einer Mehrzahl von Schülerinnen und Schülern am gleichen Ort (§82m Abs3 SchUG und §3 Z7 C-SchVO 2020/21). Die Schülerinnen und Schüler befinden sich in der Regel außerhalb des Schulgebäudes.

Gemäß §38 C-SchVO 2020/21 besteht allerdings in der Ampelphase "Rot" für Schülerinnen und Schüler der Volksschule, Mittelschule, Sonderschule, Polytechnischen Schule sowie der 5. bis 8. Schulstufe einer allgemein bildenden höheren Schule die Möglichkeit der pädagogischen Betreuung am Schulstandort, wenn sie einen geeigneten Arbeitsplatz, einen Zugang zu IT-Endgeräten oder pädagogische Unterstützung benötigen oder eine häusliche Betreuung ansonsten nicht sichergestellt ist.

Dem BMBWF ist nicht entgegenzutreten, wenn er auf Basis der im Verordnungsakt dokumentierten Entscheidungsgrundlagen diese Maßnahme im Entscheidungszeitpunkt für den Zeitraum vom 17.11.2020 bis 06.12.2020 für erforderlich hielt.

Der BMBWF weist in seiner Äußerung nachvollziehbar darauf hin, dass die epidemiologische Abklärung des Beitrages von Schulen zum Infektionsgeschehen nach wie vor unvollständig und strittig sei. Der BMBWF hat deshalb die Schul-SARS-CoV-2-Monitoringstudie ("Gurgelstudie" an Schulen) in Auftrag gegeben, um die epidemiologische Rolle von Schülerinnen und Schülern bei der Verbreitung von COVID-19 zu untersuchen und so eine wissenschaftliche Grundlage für regulatorische Maßnahmen im Schulbereich bereitzustellen. Die ersten Studienergebnisse, die am 13.11.2020 publiziert wurden, würden nahelegen, dass kein signifikanter Unterschied zwischen Kindern, Schülerinnen und Schülern sowie Lehrpersonen hinsichtlich der Verbreitung der Infektion bestehe. Laut BMBWF dürfe auch nicht außer Acht gelassen werden, dass die Schule zugleich ein Arbeitsplatz für Lehrpersonen und sonstiges schulisches Personal sei. Ein hoher Anteil der Lehrpersonen weise ein Alter von deutlich über 50 Jahren auf.

Der VfGH verkennt nicht, dass die Organisation des Unterrichts in ortsungebundener Form zu großen Belastungen für die Schüler, die Erziehungsberechtigten und das Lehrpersonal führt. Insbesondere kann eine solche Form des Unterrichts den verfassungsgesetzlich verankerten Bildungsauftrag der Schule gemäß Art14 Abs5a B-VG, wonach Kindern und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche Entwicklung zu ermöglichen ist, auf Dauer nicht verwirklichen. Die Intensität der Belastungen für die Betroffenen steigt umso mehr, je länger und häufiger ortsungebundener Unterricht angeordnet wird.

Bei der vorliegend zu beurteilenden Maßnahme ist dementsprechend zu berücksichtigen, dass die Schulen zu Beginn des Schuljahres 2020/2021 zunächst im Präsenzunterricht geführt wurden. Ab dem 03.11.2020 wurde sodann für allgemein bildende höhere Schulen ab der 9. Schulstufe, berufsbildende mittlere und höhere Schulen sowie Berufsschulen ortsungebundener Unterricht angeordnet. Schließlich wurde mit der zu beurteilenden Maßnahme für den Zeitraum vom 17.11. bis 06.12.2020 ortsungebundener Unterricht für alle Schulen angeordnet.

In Anbetracht der bestehenden wissenschaftlichen Unsicherheit hinsichtlich der Verbreitung von COVID-19, der aus dem Verordnungsakt ersichtlichen Daten zur epidemiologischen Lage im Entscheidungszeitpunkt sowie insbesondere auch der Möglichkeit der pädagogischen Betreuung am Schulstandort nach §38 C-SchVO 2020/21 vermag der VfGH daher nicht zu erkennen, dass die Anordnung von ortsungebundenem Unterricht für den Zeitraum vom 17.11.2020 bis 06.12.2020 - und nur für diesen Zeitraum hat der VfGH die Maßnahme zu beurteilen - außer Verhältnis zum Gewicht der damit verfolgten Zielsetzung stand.

Kein Verstoß gegen das Recht auf Bildung durch die Anordnung von ortsungebundenem Unterricht:

Aus Art2 Satz 1 1. ZPEMRK lassen sich keine konkreten Verpflichtungen des Staates hinsichtlich Organisation und Ausgestaltung des Schulwesens ableiten. Entgegen dem Vorbringen der Antragsteller gewährt Art2 Satz 1 1. ZPEMRK kein ausnahmsloses "Recht auf Präsenzunterricht". Die Organisation des Unterrichts in ortsungebundener Form für einen bestimmten Zeitraum auf Grund der COVID-19-Pandemie verletzt daher nicht das Recht auf Bildung.

Dem Vorbringen, dass der BMBWF für die Erlassung der angefochtenen Bestimmungen nicht zuständig gewesen sei, weil die Überwachung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten dem Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz obliege, ist zu entgegnen, dass sich aus der in Teil 2 litM Z9 der Anlage zu §2 BundesministerienG 1986 vorgenommenen Zuweisung von Sachgebieten keine Zuständigkeiten zur Setzung von konkreten Vollziehungsakten ableiten lassen und diese somit auch keine gesetzliche Grundlage zur Erlassung von Verordnungen bietet.

Entscheidungstexte

  • V574/2020 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 10.03.2021 V574/2020 ua

Schlagworte

COVID (Corona), Schulen, Schulunterricht, Kinder, Ausbildung, VfGH / Individualantrag, VfGH / Prüfungsumfang, Geltungsbereich (zeitlicher) einer Verordnung, Bindung (des Verordnungsgebers), Determinierungsgebot, Verordnung, VfGH / Weg zumutbarer, Legalitätsprinzip

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:V574.2020

Zuletzt aktualisiert am

01.06.2022
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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