RS Vfgh 2021/6/24 V91/2021 ua

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Veröffentlicht am 24.06.2021
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Index

82/02 Gesundheitsrecht allgemein

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verordnung
B-VG Art139 Abs1 Z1
EMRK 4. ZP Art2
StGG Art2
StGG Art4
EpidemieG 1950 §24
COVID-19-VirusvariantenV BGBl II 63/2021 idF BGBl II 98/2021
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Kein Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit durch das Verbot des Verlassens von Teilen Tirols durch die COVID-19-VirusvariantenV wegen der dort verbreiteten (Südafrikanischen) COVID-19-Virusvariante B.1.351; Verkehrsbeschränkung zur Verhinderung der Verbreitung der Virusvariante zum Schutz von Personen außerhalb des Epidemiegebietes "unbedingt erforderlich" und innerhalb des Ermächtigungsumfangs des EpidemieG 1950; Verkehrsbeschränkung innerhalb des Einschätzungs- und Prognosespielraums des für die Erlassung der Verordnung zuständigen Bundesministers; Sachlichkeit der Abgrenzung des Epidemiegebietes sowie Verhältnismäßigkeit des Nachweises eines negativen Testergebnisses auch für Personen mit Antikörpern bei der Ausreise

Rechtssatz

Abweisung von Anträge des Landesverwaltungsgerichts Tirol (LVwG) auf Feststellung der Gesetzwidrigkeit der Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK), mit der zusätzliche Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Verbreitung von COVID-19 (Virusvariante B1.351) getroffen werden (COVID-19-Virusvariantenverordnung - COVID-19-VvV), BGBl II 63/2021, bzw idF BGBl II 98/2021. Sämtliche Regelungen der angefochtenen Verordnung greifen derart ineinander, dass eine isolierte Anfechtung einer einzelnen Bestimmung nicht möglich ist. Die Verordnung enthält nämlich nicht mehrere voneinander trennbare Tatbestände, und die Bedenken des LVwG beziehen sich auf sämtliche (wesentliche) Bestimmungen der Verordnung, weswegen die Anfechtung der gesamten Verordnung zulässig ist.

Zuständigkeit des BMSGPK zur Erlassung der Verordnung:

Der VfGH hat keine Zweifel, dass §24 EpiG zu Anordnungen ermächtigt, die sich an einen nach allgemeinen Kriterien abgegrenzten Personenkreis (nämlich alle in näher zu bestimmenden Epidemiegebieten aufhältigen Personen) richten. Bei solchen generellen Anordnungen handelt es sich nach dem Rechtsquellensystem des B-VG um Verordnungen. Daran vermag auch der im Gesetz verwendete Begriff des "Verfügens" nichts zu ändern, ohne dass sich der VfGH mit der Terminologie anderer Bestimmungen des EpiG auseinandersetzen muss. Da §24 EpiG somit (zumindest auch) eine Grundlage für die Erlassung von Verordnungen bildet, kommt §43a EpiG zum Tragen, der die Zuständigkeit des für das Gesundheitswesen zuständigen Bundesministers begründet und als jüngere, mit BGBl I 104/2020 eingefügte Vorschrift die auf BGBl I 114/2006 zurückgehende Nennung der Bezirksverwaltungsbehörde in §24 EpiG modifiziert hat.

Keine Überschreitung des Ermächtigungsumfanges des §24 EpiG:

Der bis zur Novelle BGBl I 33/2021 unter der Überschrift "Verkehrsbeschränkungen für die Bewohner bestimmter Ortschaften" stehende §24 EpiG ermächtigte unter weiteren Voraussetzungen zu Verkehrsbeschränkungen für die Bewohner "von Epidemiegebieten" (seit der Novelle BGBl I 33/2021: "für die in Epidemiegebieten aufhältigen Personen"). Angesichts des Umstandes, dass der Gesetzgeber mit der EpiG-Novelle BGBl I 114/2006 im Gesetzestext des §24 EpiG den Begriff der "Ortschaften" (und Niederlassungen) durch jenen der "Epidemiegebiete" ersetzt hat, vermag allein der Umstand, dass damals die Paragraphenüberschrift unverändert blieb, nicht dazu zu führen, diese Gesetzesänderung im Interpretationswege erneut auf "bestimmte Ortschaften" zu reduzieren und damit ihre Änderung im Ergebnis ins Leere laufen zu lassen. Vielmehr spricht insbesondere der Umstand, dass nunmehr mit der Novelle BGBl I 33/2021 auch die Überschrift angeglichen wurde, dafür, dass insofern nur von einem redaktionellen Versehen im Zuge der Novelle BGBl I 114/2006 auszugehen ist. Die Ermächtigung des §24 EpiG war daher schon im Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Verordnung auf "Epidemiegebiete" bezogen und nicht bloß auf "bestimmte Ortschaften" beschränkt, die Entscheidung steht zu V363/2020 "im Unterschied").

Hinreichende Dokumentation der Grundlagen der Verordnungserlassung:

Der VfGH hegt keine Bedenken, dass die Verordnungsgrundlagen zur COVID-19-Virusvariantenverordnung nicht hinreichend dokumentiert wären (vgl E v 20.06.2021, V87/2021).

Kein Verstoß gegen das Recht auf Freizügigkeit:

Verkehrsbeschränkungen zum Schutz vor der Weiterverbreitung einer meldepflichtigen Krankheit iSm §24 EpiG dürfen nur vorgesehen werden, soweit sie im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens der Krankheit "unbedingt erforderlich" sind. Die angefochtenen Verordnungsbestimmungen werden dem im Lichte der Anforderungen des Art4 Abs1 StGG und Art2 4. ZPEMRK zu verstehenden §24 EpiG und damit Art4 Abs1 StGG und Art2 4. ZPEMRK gerecht:

Entgegen der Auffassung des LVwG ist die COVID-19-Virusvariantenverordnung nicht etwa deshalb nicht geeignet, dem Interesse des Gesundheitsschutzes zu entsprechen, weil sie nur Personen außerhalb des Epidemiegebietes schütze, die Bewohner des Epidemiegebietes hingegen der Krankheit aussetze. Es liegt in der Eigenart von abschottenden Verkehrsbeschränkungen für Epidemiegebiete, dass sie jene Personen schützen, die sich außerhalb des Epidemiegebietes aufhalten. Den Schutz der Personen im Epidemiegesetz haben im maßgeblichen Zeitraum andere Vorschriften besorgt, insbesondere die 4. COVID-19-Schutzmaßnahmenverordnung.

Dem Verordnungsgeber ist bei der Entscheidung, ob bzw in welcher Ausgestaltung eine Verkehrsbeschränkung in einem bestimmten (Epidemie-)Gebiet in Anbetracht der "Art und des Umfanges" der dort auftretenden meldepflichtigen Krankheit nach §24 EpiG zur Verhinderung der Weiterverbreitung "unbedingt erforderlich" ist, ein Einschätzungs- und Prognosespielraum übertragen (s E v 24.06.2021, V90/2021 ua). Der BMSGPK hat diesen Einschätzungs- und Prognosespielraum noch nicht überschritten, wenn er den räumlich getrennten (und bis anhin nicht von der "Südafrika"-Variante von SARS-CoV-2 betroffenen) Bezirk Lienz - im Unterschied etwa zum Bezirk Reutte - nicht in das von der Verkehrsbeschränkung betroffene Gebiet einbezogen hat. Entsprechendes gilt auch sonst für die Abgrenzung dieses Gebietes: Der VfGH vermag dem Verordnungsgeber nicht entgegenzutreten, wenn er unterschiedlich schwer von der "Südafrika"-Variante des Virus SARS-CoV-2 betroffene Tiroler Regionen zu einem "Epidemiegebiet" zusammengefasst hat. Er war nicht gehalten, auf die kleinteiligste lokale Einheit (Bezirke, Gemeinden, Ortsteile, Straßenzüge etc) abzustellen, die noch von Virusmutationen betroffen ist, denn dies liefe letzten Endes darauf hinaus, dass anstelle von Verkehrsbeschränkungen ausschließlich Absonderungen iSv §7 EpiG verfügt werden könnten. Generalisierenden Verkehrsbeschränkungen liegt vielmehr zwangsläufig ein Moment abstrakter Gefahreneinschätzung zugrunde.

Der Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers hat neben der räumlichen auch eine zeitliche Dimension. Wie die im Verordnungsakt liegenden Stellungnahmen der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) vom 08.02.2021 und vom 17.02.2021 zeigen, blieben die Fallzahlen in der 5. Kalenderwoche 2021 hoch, auch wenn sie zunächst zu sinken schienen.

Der VfGH vermag dem Verordnungsgeber nicht entgegenzutreten, wenn er in Anbetracht dieser Unsicherheiten die Lage der Verbreitung der "Südafrika"-Variante von SARS-CoV-2 als ernst eingeschätzt und dementsprechend die Erlassung der Verordnung als unbedingt erforderlich erachtet hat. In Summe erachtet der VfGH die von der verordnungserlassenden Behörde gesetzten Maßnahmen angesichts des Informationsstandes im Zeitpunkt der Verordnungserlassung als adäquat.

Kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz:

Der VfGH vermag zunächst das Vorbringen, die COVID-19-Virusvariantenverordnung differenziere unsachlich zwischen Bewohnern innerhalb und außerhalb des festgelegten Epidemiegebietes, nicht nachzuvollziehen: Es liegt in der Eigenart von Maßnahmen, die den Verkehr zwischen Epidemiegebieten und umliegenden Gebieten einschränken, dass sie Personen innerhalb und außerhalb des Epidemiegebietes unterschiedlich treffen. Dies ist jedoch durch den Zweck solcher Verkehrsbeschränkungen, die Ausbreitung von Krankheiten über das bisherige Epidemiegebiet hinaus einzudämmen, - unter den übrigen Voraussetzungen - sachlich gerechtfertigt.

Was die behauptete unsachliche Abgrenzung des Epidemiegebietes anlangt, kann auf die Ausführungen zum Einschätzungs- und Prognosespielraum des Verordnungsgebers verwiesen werden. Die sachliche Rechtfertigung für die Ausnahme des Bezirks Lienz, der Gemeinde Jungholz und des Rißtales von den Maßnahmen liegt im Übrigen in geographischen Besonderheiten in Verbindung mit dem im Verordnungsakt dokumentierten Umstand, dass die "Südafrika"-Mutation von SARS-CoV-2 in diesen Gebieten im Zeitpunkt der Verordnungserlassung nicht nachgewiesen werden konnte.

Wie aus den vorgelegten Verordnungsakten hervorgeht und wie der BMSGPK darlegt, wurde die angefochtene Verordnung mit dem Ziel der Verhinderung einer (Weiter-)Verbreitung der COVID-19-Virusvariante B.1.351 erlassen. Der BMSGPK konnte mit Blick auf die im Verordnungsakt dokumentierten Entscheidungsgrundlagen, zu denen mehrere fachliche Studien zählten, in der damaligen Situation davon ausgehen, dass der Schutz durch neutralisierende Antikörper bei der COVID-19-Virusvariante B.1.351 geschmälert sein könnte und eine Reinfektion mit dem Virus möglich wäre. In diesem Zusammenhang weist der BMSGPK nachvollziehbar darauf hin, dass im Hinblick auf die COVID-19-Virusvariante B1.351 von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Reinfektion auszugehen war. Die zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung verfügbaren, im Verordnungsakt dokumentierten Daten und Studien ließen vermuten, dass der Schutz durch neutralisierende Antikörper gegen COVID-19 (in Folge einer durchgemachten Infektion oder Impfung) bei der COVID-19-Virusvariante B1.351 reduziert sein könnte. Der reduzierte Schutz durch gebildete Antikörper im Hinblick auf die COVID-19 Virusvariante B1.351 könne die Wirksamkeit der Impfung schmälern und zu Reinfektionen führen. Bei Personen, die Antikörper gegen COVID-19 in einer ausreichenden Konzentration aufwiesen, könne im Hinblick auf die COVID-19-Virusvariante B1.351 nicht von einer "niedrigeren epidemiologischen Gefahr" ausgegangen werden.

Vor diesem Hintergrund war es unter dem Blickwinkel des Gleichheitsgrundsatzes zur Erreichung des Ziels der Vermeidung der (Weiter-)Verbreitung der COVID-19-Virusvariante B1.351 sachlich gerechtfertigt, auch "genesene" Personen mit Antikörpern gegen COVID-19 zum Nachweis eines negativen Testergebnisses auf COVID-19 bei der Ausreise aus dem Bundesland Tirol gemäß §2 COVID-19-VvV zu verpflichten.

Entscheidungstexte

  • V91/2021 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 24.06.2021 V91/2021 ua

Schlagworte

COVID (Corona), Verordnung, Zuständigkeit, Geltungsbereich (örtlicher) einer Verordnung, Recht auf Freizügigkeit, Verhältnismäßigkeit, VfGH / Gerichtsantrag, Auslegung eines Gesetzes

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2021:V91.2021

Zuletzt aktualisiert am

04.10.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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