TE Vwgh Erkenntnis 2021/4/19 Ra 2021/01/0034

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Veröffentlicht am 19.04.2021
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl sowie Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Dezember 2020, Zl. W151 2189507-1/20E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: H M, in B), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1        Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 23. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2        Mit Bescheid vom 31. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag vollinhaltlich ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3        Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht).

4        Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten statt, erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) den Status des Asylberechtigten zu, stellte gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 fest, dass dem Mitbeteiligten die Flüchtlingseigenschaft zukomme (Spruchpunkt A I.), behob im Übrigen den angefochtenen Bescheid (Spruchpunkt A II.) und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

5        Das Verwaltungsgericht stellte „zu den vorgebrachten Fluchtgründen“ zusammengefasst fest, dem Mitbeteiligten drohe „in Afghanistan eine konkrete individuelle Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (westlich orientier[t]e bzw. als ‚verwestlich‘ wahrgenommene Personen)“. Der Mitbeteiligte habe „die wesentlichen Jahre seiner Pubertät in Österreich verlebt“ und sei „hier nach der ‚westlichen‘ Lebenseinstellung gänzlich sozialisiert worden“. Er sei in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht „westlich gekleidet“ gewesen und habe „die westliche Lebenseinstellung gänzlich verinnerlicht und die afghanische Lebensweise abgelegt“. Der Mitbeteiligte könne „diese Lebensweise im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mehr ablegen“. „Als besondere Werte der westlichen Gesellschaft“ würden für den Mitbeteiligten gelten, „dass die Menschenrechte in Österreich - im Gegensatz zu Afghanistan - gewahrt werden und Österreich ein demokratisches Land darstellt, in dem Gesetze respektiert werden“. „Der Respekt sowie die Gleichbehandlung zwischen Männern und Frauen und der Umstand, dass Frauen sich in Österreich frei entfalten können,“ seien für ihn wesentlich. „All diese Werte“ seien für ihn „in den letzten Jahren besonders wichtig“ geworden und er habe diese verinnerlicht. Der Mitbeteiligte könne die mit dem Leben in Österreich verbundenen Werte nicht mehr ablegen. Sie seien vielmehr Teil seiner Persönlichkeit geworden.

Zur Lage in Afghanistan stellte das Verwaltungsgericht zusammengefasst fest, dass Afghanistan im Bereich der Menschenrechte unter schwierigen Umständen Fortschritte gemacht habe und inzwischen eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen heranwachse, die sich politisch, kulturell und sozial engagiere und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleihe. Diese Fortschritte würden jedoch nach wie vor nicht alle Landesteile erreichen und seien außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern sowie der Einflussnahme örtlicher Machteliten nur schwer durchzusetzen. Die afghanische Regierung sei nicht in der Lage, die durch die afghanische Verfassung und einschlägige völkerrechtliche Verträge garantierten Menschenrechte vollumfänglich umzusetzen und zu gewährleisten. Menschenrechtsverletzungen an der Zivilbevölkerung fänden nach wie vor in allen Landesteilen und unabhängig davon statt, wer die betroffenen Gebiete tatsächlich kontrolliere. Rückkehrer aus Europa oder dem westlichen Ausland würden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen. Es seien jedoch keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthaltes in Europa Opfer von Gewalttaten geworden seien. Wenn ein Rückkehrer mit im Ausland erlangten Fähigkeiten und Kenntnissen zurückkomme, stünden ihm mehr Arbeitsmöglichkeiten als den übrigen Afghanen zur Verfügung. Dies könne bei der hohen Arbeitslosigkeit zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft führen. Ausschlaggebend dafür, dass Personen in der afghanischen Gesellschaft als „verwestlicht“ wahrgenommen würden, seien insbesondere ihr Verhalten, ihr Auftreten und die vertretenen Meinungen. Im Allgemeinen könnten Afghanen, die sich selbst mit westlichen Werten identifizierten, Opfer von aufständischen Gruppen werden, weil sie als unislamisch oder regierungsfreundlich oder gar als Spione wahrgenommen würden. Das Risiko für Frauen sei wesentlich höher als jenes für Männer. Vereinzelt gäbe es Berichte von Verfolgung auch von Männern. Bei der individuellen Bestimmung des Risikos sei gemäß EASO neben dem Geschlecht insbesondere auch auf die übernommenen Verhaltensweisen, den Herkunftsort (ländlichere Gebiete seien stärker betroffen), ein konservatives Umfeld, die Wahrnehmung traditioneller Geschlechterrollen durch die Familie, die Sicherheit und das Alter abzustellen.

6        Rechtlich führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, nach näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes könnten Frauen auf Grund von Verfolgung wegen eines gelebten „westlich orientierten“ Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat Asyl beanspruchen. Dabei sei eine von ihnen angenommene Lebensweise gemeint, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck komme. Voraussetzung sei, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden sei, dass von ihnen nicht erwartet werden könne, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Auch eine private Verfolgung sei maßgeblich, wenn der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage sei, Schutz vor Verfolgung zu gewähren. Diese Rechtsprechung gelte sinngemäß auch für Männer, die auf Grund eines gelebten „westlich orientierten“ Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt werden würden. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe für den Mitbeteiligten nicht, weil „im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan von einer Situation auszugehen“ sei, „wo er deshalb einem erhöhten Sicherheitsrisiko und den daraus resultierenden Einschränkungen ausgesetzt wäre“. Der Mitbeteiligte befinde sich daher „aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung außerhalb Afghanistans“ und lägen somit die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 vor.

7        Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Verwaltungsgericht zusammengefasst mit dem Nichtvorliegen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung.

8        Dagegen richtet sich die außerordentliche Amtsrevision des BFA mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis aufzuheben. Der Mitbeteiligte beantragte in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision zurück- in eventu abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Zulässigkeit

9        Die Amtsrevision macht zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst geltend, die Feststellungen des Verwaltungsgerichts zur Änderungen der Lebensführung des Mitbeteiligten in Österreich seien nicht ausreichend, um entsprechend näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine asylrelevante Verfolgung des Mitbeteiligten darzutun.

10       Die Amtsrevision ist aus den dargelegten Gründen zulässig; sie ist auch begründet.

„Westlicher Lebensstil“

11       Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes führt nicht jede Änderung der Lebensführung von Asylwerbern während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Fall einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, dazu, dass ihnen deshalb internationaler Schutz gewährt werden müsste (vgl. etwa VwGH 14.12.2018, Ra 2018/01/0184, 0185, Rn. 16, mwN).

Einzelfallbezogene Beurteilung

12       Wie die Amtsrevision zu Recht aufzeigt, wird durch die vom Verwaltungsgericht einzelfallbezogen festgestellte Änderung der Lebensführung des Mitbeteiligten in Österreich keine asylrelevante Verfolgung dargetan, weshalb ihm deshalb auf der Linie der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes internationaler Schutz gewährt werden müsste (vgl. zur fehlenden asylrelevanten Verfolgung infolge einer [unterstellten] „westlichen Orientierung bzw. Geisteshaltung“ bei Männern etwa VwGH 7.5.2018, Ra 2018/18/0003; 9.1.2020, Ra 2019/01/0498; 26.2.2020, Ra 2020/18/0059; 19.5.2020, Ra 2019/14/0599; 22.5.2020, Ra 2020/18/0153; 17.12.2020, Ra 2020/18/0480; 30.3.2021, Ra 2019/19/0518; im Übrigen zur Erheblichkeit der Verfolgungsgefahr und wohlbegründeten Furcht VwGH 12.3.2020, Ra 2019/01/0472, Rn. 12, mwN, bzw. zur Schwere einer Verfolgung insbesondere auch EuGH 20.1.2021, C-255/19, Secretary of State for the Home Department gegen OA, Rn. 45).

13       Das Verwaltungsgericht belastete insofern das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.

Ergebnis

14       Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 19. April 2021

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021010034.L00

Im RIS seit

12.05.2021

Zuletzt aktualisiert am

14.06.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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