TE Bvwg Erkenntnis 2021/1/22 G312 2238229-1

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Veröffentlicht am 22.01.2021
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Entscheidungsdatum

22.01.2021

Norm

BFA-VG §22a Abs4
B-VG Art133 Abs4
FPG §76

Spruch


G312 2238229-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Manuela WILD als Einzelrichterin über die Beschwerde vom XXXX des XXXX , geb. XXXX , StA.: Nigeria, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , betreffend Anordnung der Schubhaft nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.01.2021 zu Recht erkannt:

A)

I.       Der Beschwerde wird als begründet s t a t t g e g e b e n , es wird festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorliegen sowie die bisherige Anhaltung für rechtswidrig erklärt.

II. Der Bund (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) hat der beschwerdeführenden Partei die erforderlichen Aufwendungen zu ersetzen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

Mit dem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA), Regionaldirektion XXXX , vom XXXX wurde über XXXX (im Folgenden: Beschwerdeführer oder kurz BF) gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Sicherung der Abschiebung angeordnet.

Mit dem am 30.12.2020 beim BVwG eingelangten und datierten Schriftsatz erhob der BF durch seine Rechtsvertretung Beschwerde gegen den im Spruch angeführten Schubhaftbescheid. Nach Darlegung der Beschwerdegründe wurde beantragt, das BVwG möge eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Einvernahme des BF durchführen; den angefochtenen Bescheid beheben und aussprechen, dass die Anordnung der Schubhaft und die bisherige Anhaltung in Schubhaft in rechtswidriger Weise erfolgte; im Rahmen einer „Habeas Corpus Prüfung“ aussprechen, dass die Voraussetzungen zur weiteren Anhaltung des BF nicht vorliegen; der belangten Behörde den Ersatz der Aufwendungen des BF gemäß VwG-AufwVO sowie der Kommissionsgebühren und Barauslagen, für die der BF aufzukommen hat, auferlegen.

Auf Grund der entsprechenden Verfügung des BVwG zur Aktenvorlage wurden dem BVwG vom BFA, RD XXXX , am 31.12.2020 die bezughabenden Verwaltungsakte elektronisch übermittelt und langten am 04.01.2021 beim BVwG ein.

Am 05.01.2021 fand beim Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche, mündliche Verhandlung statt, an der der BF im Beisein seiner Rechtsvertreterin sowie der Dolmetscherin teilnahmen. Bis zu diesem Zeitpunkt befand sich der BF im Anhaltezentrum XXXX .

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der BF führt die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und ist Staatsangehöriger von Nigeria, er ist XXXX Jahre alt, gesund und im arbeitsfähigem Alter.

Der BF besitzt nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und ist somit Fremder im Sinne des § 2 Abs. 4 Z 1 FPG.

1.1. Der BF ist spätestens am XXXX illegal in das österreichische Bundesgebiet eingereist, er beantragte am selben Tag internationalen Schutz. Laut EURODAC-Treffer war der BF zuvor am XXXX in Italien erkennungsdienstlich behandelt worden.

Bei der Erstbefragung am XXXX gab der BF an, er habe seine Heimat 2016 illegal verlassen und sei über Niger, Libyen und vermutlich Italien nach Österreich gekommen. Er habe bis dato in keinem anderen Land um Asyl angesucht, in Italien habe er betteln müssen. Am 19.12.2016 richtete das BFA ein Aufnahmeersuchen gemäß § 13 Abs. 2 der Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO) an Italien. Mit Schriftsatz vom 21.02.2017 teilte die österreichische Dublin-Behörde Italien mit, dass aufgrund der nicht fristgerecht erfolgten Antwort gemäß Art 22 Abs 7 der Dublin III-VO eine Verfristung eingetreten und Italien nunmehr zuständig für die Durchführung des gegenständlichen Asylverfahrens sei.

Mit Bescheid des BFA vom XXXX wurde der Asylantrag wegen Zuständigkeit von Italien zurückgewiesen, gleichzeitig wurde gegen den BF gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Italien zulässig sei.

Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom BVwG am 30.05.2017, W153 2152333-1/7E, als unbegründet abgewiesen. Am XXXX wurde der BF nach Italien abgeschoben.

1.2. Am XXXX wurde der BF erneut in Österreich beim Aufenthalt betreten, die belangte Behörde warf ihm illegalen Aufenthalt vor und folgte ihm ein schriftliches Parteiengehör zur Abgabe einer Stellungnahme aus, davon machte er jedoch keinen Gebrauch.

Am XXXX wurde er von er PI XXXX von der deutschen Bundespolizei aufgrund einer Einreiseverweigerung rückübernommen, am selben Tag erging ein Festnahmeauftrag.

Am XXXX erfolgte die erkennungsdienstliche Behandlung des BF und wurde er zur möglichen Schubhaftverhängung einvernommen. Dabei gab er an gesund zu sein, keinen Wohnsitz in Österreich zu haben, jedoch einen solchen in Italien zu besitzen, über keine Angehörigen in Österreich oder einem Mitgliedstaat zu verfügen, keine Personen in Österreich zu kennen, bei denen er wohnen könnte oder die ihm Geld leihen würden, er Barmittel in der Höhe von ca. XXXX Euro mit sich führe, er in Italien einen Asylantrag gestellt habe und auch in Italien aufenthaltsberechtigt sei, dieser Aufenthaltstitel sei jedoch abgelaufen und er im Falle der Freilassung nach Italien zurückreisen würde.

Am selben Tag wurde das PKZ XXXX um Bekanntgabe ersucht, ob dem BF in Italien gegenwärtig ein Aufenthaltsrecht zukommt, dies wurde verneint.

Am 19.12.2020 wurde ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme eingeleitet. Gegen die erlassene Rückkehrentscheidung sowie dem dreijährigen Einreiseverbot wurde beim BFA Beschwerde erhoben, diese ist dem BVwG noch nicht vorgelegt worden.

1.3. Der BF verfügt in Österreich über keine familiären, beruflichen oder sozialen Bindungen. Er verfügt über ein gültiges Reisedokument - ihm wurde mit XXXX von der nigerianischen Botschaft in Wien ein nigerianischer Reisepass ausgestellt. Er verfügt über keinen ordentlichen Wohnsitz in Österreich, über ca. XXXX Euro Barmittel und möchte umgehend zurück nach Italien, da er mit XXXX dort wieder seine Beschäftigung aufnehmen soll.

Der BF verfügte über einen abgelaufenen italienischen Ausweis „Casa Speziale“. Zusätzlich verfügt er über eine permesso di soggiorno (normale Aufenthaltsberechtigung) für Italien, die ihm die Ausübung einer Beschäftigung sowie Reisebewegungen im Schengenraum erlaubt, befristet bis XXXX .

Die belangte Behörde hat den gültigen nigerianischen Reisepass, die „Casa Speziale“, sowie die Aufenthaltsberechtigungskarte „permesso di soggiorno“ (befristet bis XXXX ) sichergestellt, sie plant die Abschiebung des BF nach Nigeria am XXXX .

2. Beweiswürdigung:

Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakte des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des BVwG.

Die oben getroffenen Feststellungen beruhen auf den Ergebnissen des vom erkennenden Gericht durchgeführten Ermittlungsverfahrens und werden in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung als maßgeblicher Sachverhalt zugrunde gelegt.

Die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) und die Staatsangehörigkeit des BF beruhen auf den vom BFA im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen, sowie den Angaben des BF in der mündlichen Verhandlung und dem vorgelegten nigerianischen Reisepass.

Die Feststellung zum Fehlen maßgeblicher familiärer und nennenswerter privater Bindungen und zum Nichtvorliegen von Anhaltspunkten für die Annahme einer sozialen Verankerung oder umfassenden Integration in Österreich beruht auf den diesbezüglichen Feststellungen im angefochtenen Bescheid, sowie auf dem Umstand, dass in der Beschwerde und den Angaben in der mündlichen Verhandlung keinerlei konkrete Umstände vorgebracht wurden, die allenfalls eine andere Beurteilung zugelassen hätten.

Die belangte Behörde wirft dem BF vor, dass er sich im XXXX sowie im XXXX illegal und unberechtigt von Italien nach Österreich begeben hat, sich in Österreich illegal aufgehalten hat und dann illegal nach Deutschland weiterreisen wollte. Sie begründet dies vor allem damit, dass er lediglich über eine Duldung in Italien verfügt bzw. verfügte und somit nicht berechtigt sei, im Schengenraum zu reisen, sich daher auch illegal in Österreich aufhalte.

In der mündlichen Verhandlung musste jedoch festgestellt werden, dass dieses Vorbringen der belangten Behörde nicht den Tatsachen entsprochen hat. Der BF konnte in der mündlichen Verhandlung eine Aufenthaltsberechtigungskarte für Italien vorlegen, die eine Befristung bis XXXX aufweist. Der BF gab dabei an, dass er in Italien eine Verlängerung beantragt habe, für die Ausfolgung dieser Dokumente jedoch einen gültigen Reisepass benötigen würde. Er habe über seinen Anwalt versucht, sich einen Reisepass ausstellen zu lassen, da dies jedoch in Italien zumindest 9 Monate dauern würde (so habe er die Auskunft erhalten), und er die Aufenthaltsberechtigung dringend benötigte, habe er sich entschlossen im XXXX in Wien bei der Botschaft seinen Reisepass ausstellen zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt verfügte er noch über eine gültige Aufenthaltsberechtigung für Italien und war berechtigt legal nach Österreich einzureisen und sich für eine gewisse Zeit aufzuhalten.

Die belangte Behörde hat an das PKZ XXXX eine Anfrage übermittelt und ersucht mitzuteilen, ob der Aufenthalt in Italien rechtmäßig wäre und ihm die Einreise gestattet würde. Das PKZ übermittelte folgende Antwort:

Laut ital. Datenbank: XXXX , XXXX , Nigeria: Fahndung negativ, krimpol. Erkenntnisse bzw. Vormerkungen: sexuelle Gewalt; vorläufiger Aufenthaltstitel Nr. XXXX ist am XXXX abgelaufen, derzeit kein Aufenthaltstitel für Italien, keine weiteren Erkenntnisse aus Italien.

Obwohl die Fragen, ob der Aufenthalt rechtmäßig wäre (ev. durch eine bereits erfolgte Beantragung auf Verlängerung des Aufenthaltstitels) oder ob ihm die Einreise gestattet würde, nicht beantwortet wurden, hat die belangte Behörde keine weiteren Ermittlungen zu dessen Abklärung durchgeführt. Dies obwohl sich dadurch der Sachverhalt wie auch die Rechtsfolgen völlig anders dargestellt hätten, ihm wäre vorerst – ohne Schubhaftverhängung – die Anordnung zur Rückkehr nach Italien auszusprechen gewesen.

Dem BF wurde mit XXXX von der nigerianischen Botschaft in Wien ein Reisepass ausgestellt. Der BF erklärte in der Verhandlung, dass er sich den Reisepass bereits im XXXX in Wien ausstellen habe lassen, diesen habe er jedoch in Italien zusammen mit seiner Tasche verloren, wodurch er im XXXX nochmals in Wien einen Reisepass ausstellen lassen musste. Der BF erklärte laufend, dass er zurück nach Italien wolle, da er seine Beschäftigung wieder mit XXXX aufnehmen will und muss.

Das Vorbringen des BF war – in weiten Teilen schlüssig und aufgrund der vorgelegten Nachweise – nachvollziehbar.

Die Angaben der belangten Behörde wurden hingegen durch die vorgelegten Nachweise zum Teil widerlegt sowie fehlten weiterführende Ermittlungen durch die belangte Behörde.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Die belangte Behörde hat mit dem gegenständlich angefochtenen Bescheid gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet, sie stützt sich dabei auch auf Abs. 3 Z 9.

§ 76. (1) FPG: Fremde können festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern der Zweck der Schubhaft nicht durch ein gelinderes Mittel (§ 77) erreicht werden kann. Unmündige Minderjährige dürfen nicht in Schubhaft angehalten werden.

(2) Die Schubhaft darf nur angeordnet werden, wenn

1. dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist,

2. dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist, oder

3. die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung vorliegen.

Bedarf es der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme deshalb nicht, weil bereits eine aufrechte rechtskräftige Rückkehrentscheidung vorliegt (§ 59 Abs. 5), so steht dies der Anwendung der Z 1 nicht entgegen. In den Fällen des § 40 Abs. 5 BFA-VG gilt Z 1 mit der Maßgabe, dass die Anordnung der Schubhaft eine vom Aufenthalt des Fremden ausgehende Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht voraussetzt.

Leider wurde irrtümlich aufgrund eines offenkundigen Fehlers der oben angeführte Teil des § 76 Abs. 1 FPG in der Verhandlungsniederschrift zur mündlichen Verkündung nicht angeführt, sondern der anzuwendende Teil auf die Schubhaft in der Fassung von 2005 (§ 75 Abs 2 FPG).

(2a) Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung (Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin-Verordnung) ist auch ein allfälliges strafrechtlich relevantes Fehlverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen, insbesondere ob unter Berücksichtigung der Schwere der Straftaten das öffentliche Interesse an einer baldigen Durchsetzung einer Abschiebung den Schutz der persönlichen Freiheit des Fremden überwiegt.

(3) Eine Fluchtgefahr im Sinne des Abs. 2 Z 1 oder 2 oder im Sinne des Art. 2 lit n Dublin-Verordnung liegt vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen wird oder dass der Fremde die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen,

1. ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert;

1a. ob der Fremde eine Verpflichtung gemäß § 46 Abs. 2 oder 2a verletzt hat, insbesondere, wenn ihm diese Verpflichtung mit Bescheid gemäß § 46 Abs. 2b auferlegt worden ist, er diesem Bescheid nicht Folge geleistet hat und deshalb gegen ihn Zwangsstrafen (§ 3 Abs. 3 BFA-VG) angeordnet worden sind;

2. ob der Fremde entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist;

3. ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder der Fremde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat;

4. ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23 AsylG 2005) aufgehoben wurde oder dieser dem Fremden nicht zukommt;

5. ob gegen den Fremden zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs. 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde;

6. ob aufgrund des Ergebnisses der Befragung, der Durchsuchung oder der erkennungsdienstlichen Behandlung anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, insbesondere sofern

a. der Fremde bereits mehrere Anträge auf internationalen Schutz in den Mitgliedstaaten gestellt hat oder der Fremde falsche Angaben hierüber gemacht hat,

b. der Fremde versucht hat, in einen dritten Mitgliedstaat weiterzureisen, oder

c. es aufgrund der Ergebnisse der Befragung, der Durchsuchung, der erkennungsdienstlichen Behandlung oder des bisherigen Verhaltens des Fremden wahrscheinlich ist, dass der Fremde die Weiterreise in einen dritten Mitgliedstaat beabsichtigt;

7. ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt;

8. ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebietsbeschränkungen, Meldeverpflichtungen oder Anordnungen der Unterkunftnahme gemäß §§ 52a, 56, 57 oder 71 FPG, § 38b SPG, § 13 Abs. 2 BFA-VG oder §§ 15a oder 15b AsylG 2005 verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutzes durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme;

9. der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes.

(4) Die Schubhaft ist schriftlich mit Bescheid anzuordnen; dieser ist gemäß § 57 AVG zu erlassen, es sei denn, der Fremde befände sich bei Einleitung des Verfahrens zu seiner Erlassung aus anderem Grund nicht bloß kurzfristig in Haft. Nicht vollstreckte Schubhaftbescheide gemäß § 57 AVG gelten 14 Tage nach ihrer Erlassung als widerrufen.

(5) Wird eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (Z 1 oder 2) durchsetzbar und erscheint die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig, so gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab diesem Zeitpunkt als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

(6) Stellt ein Fremder während einer Anhaltung in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, so kann diese aufrechterhalten werden, wenn Gründe zur Annahme bestehen, dass der Antrag zur Verzögerung der Vollstreckung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt wurde. Das Vorliegen der Voraussetzungen ist mit Aktenvermerk festzuhalten; dieser ist dem Fremden zur Kenntnis zu bringen. § 11 Abs. 8 und § 12 Abs. 1 BFA-VG gelten sinngemäß. 3.2.

3.2. Die Anwendung dieser Rechtslage auf den hier maßgeblichen Sachverhalt ergibt Folgendes:

Die belangte Behörde begründete die verfahrensgegenständliche Anordnung der Schubhaft vor allem damit, dass hinsichtlich des BF Fluchtgefahr besteht. Ihm sei in Italien eine befristete „Duldung“ ausgestellt worden, diese ist bereits abgelaufen. Aufgrund dieser Duldung käme ihm keine Berechtigung zu, im Schengenraum zu reisen. Er sei illegal nach Wien gereist und habe die Ausstellung seines Reisepasses beantragt. Trotz der aktuellen Situation im Zusammenhang mit dem Corona-Virus (COVID-19) sei die Anordnung der Schubhaft auch als verhältnismäßig einzustufen, da seine Abschiebung nach Nigeria bereits für den XXXX fixiert sei, wodurch die Schubhaft an sich unter vier Wochen sein werde.

In der Beschwerde wird die behauptete Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides im Wesentlichen zusammengefasst damit begründet, dass der BF über eine gültige Aufenthaltsberechtigung für Italien verfüge, ihm somit lediglich eine Anordnung zur Rückkehr nach Italien zu erteilen gewesen wäre, die Schubhaft so somit absolut unverhältnismäßig sei.

3.3. Zunächst ist festzuhalten, dass der BF in der mündlichen Verhandlung eine Aufenthaltsberechtigungskarte für Italien vorlegen konnte, die eine Befristung bis XXXX aufweist. Diese „permesso di soggiorno“ stellt eine normale Aufenthaltsberechtigung dar, die den BF zur Ausübung einer Beschäftigung berechtigt. Somit waren die Angaben des BF diesbezüglich richtig. Damit hat sich der BF aber auch im XXXX rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, ihm war eine legale Einreise nach Österreich möglich. Die Einreise in Österreich im XXXX erfolgte laut Angaben des BF, um sich bei der nigerianischen Botschaft einen Reisepass ausstellen zu lassen. Dieser habe ihn auch erhalten, hat in Italien jedoch seine Tasche mit dem Pass verloren, wodurch er nochmals nach Wien reisen musste, um sich einen neuen ausstellen zu lassen.

Sein Aufenthalt im XXXX wäre nur dann illegal gewesen, wenn die von ihm bereits beantragte Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung für Italien nicht bewilligt worden wäre bzw. ihm durch die (von ihm vorgebrachte) bereits erfolgte Beantragung auf Verlängerung des Aufenthaltstitels gar nicht bestanden hätte.

Die belangte Behörde brachte in der mündlichen Verhandlung vor, dass kein Hinweis aus der Beantwortung von der PKZ XXXX hervorgekommen wäre, dass der BF in Italien eine Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung beantragt habe. Eine Nachfrage bei den italienischen Behörden (oder der PKZ) sei nicht erfolgt. Jedoch wurde von der belangten Behörde auch keine weiterführenden Ermittlungen durchgeführt, obwohl die an das PKZ gestellten Fragen nicht zur Gänze beantwortet wurden.

Was die Frage des Vorliegens eines konkreten Sicherungsbedarfs wegen Fluchtgefahr und der Notwendigkeit der Anordnung der Schubhaft anbelangt, so schließt sich das erkennende Gericht im Ergebnis der Beurteilung der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid daher nicht an.

Die Schubhaft stellt eine ultima ratio dar, daher darf diese erst als allerletztes Mittel angewendet werden. Das BVwG hat im vorliegenden Verfahren ohne weitere Ermittlungen sofort (binnen 7 Tagen) zu entscheiden.

Gegen den BF wurde aufgrund der vorgeworfenen illegalen Aufenthalts eine Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot verhängt, diese ist zum Zeitpunkt der verfahrensgegenständlichen Entscheidung dem BVwG noch nicht vorgelegt worden.

Ohne dem vorgreifen zu wollen, muss hier jedoch festgestellt werden, dass zur Abklärung des wesentlichen Sachverhaltes weitere Ermittlungen durch die belangte Behörde erforderlich gewesen wären, da der BF durch seinen gültigen Reisepass sofort freiwillig nach Italien zurückreisen hätte können – und dies auch wollte. Die Frage, ob ihm die Einreise nach Italien (ev. aufgrund des von ihm vorgebrachten Verlängerungsantrag auf Aufenthaltsberechtigung) auch erlaubt worden wäre, wurde vom PKZ XXXX nicht beantwortet und hat die belangte Behörde nicht ermittelt.

Auch wenn nicht verkannt wird, dass im Vorbringen des BF gewisse Ungereimtheiten vorliegen, war festzustellen, dass der BF über ein gültiges nigerianischen Reisedokument, verfügt, sowie über finanzielle Mittel, um nach Italien zurückzukehren.

Die Frage, ob ihm die Einreise nach Italien auch erlaubt worden wäre, wäre von der belangten Behörde zu ermitteln gewesen, da aufgrund dessen eine Anordnung zur Rückkehr nach Italien durch die belangte Behröde zu erfolgen gewesen wäre.

Schubhaft darf stets nur "ultima ratio" sein. Dem entspricht nicht nur die in § 80 Abs. 1 FrPolG 2005 ausdrücklich festgehaltene behördliche Verpflichtung, darauf hinzuwirken, dass die Schubhaft so kurz wie möglich dauere, vielmehr ist daraus auch abzuleiten, dass die Behörde (das BFA) schon von vornherein angehalten ist, im Fall der beabsichtigten Abschiebung eines Fremden ihre Vorgangsweise nach Möglichkeit so einzurichten, dass Schubhaft überhaupt unterbleiben kann. Unterlässt sie das, so wäre die Schubhaft unverhältnismäßig. Das muss auch auf den Fortsetzungsausspruch durchschlagen. Eine sich aus den Umständen des Einzelfalles ergebende andere Sicht wäre nachvollziehbar zu begründen (Hinweis E 25. April 2014, 2013/21/0209).

Unzureichend begründete Schubhaftbescheide sind nach Maßgabe der erhobenen Schubhaftbeschwerde für rechtswidrig zu erklären, sofern es sich um einen wesentlichen Begründungsmangel handelt, also um einen solchen, der zur Folge hat, dass die behördliche Entscheidung in ihrer konkreten Gestalt die konkret verhängte Schubhaft nicht zu tragen vermag (vgl. VwGH 5.10.2017, Ro 2017/21/0007; VwGH vom 16.07.2020, Ra 2019/32/0312).

Nach der Bestimmung des § 52 Abs. 7 FrPolG 2005, mit dem Art. 6 Abs. 3 der RückführungsRL (Richtlinie 2008/115/EG) umgesetzt wurde IST von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 FrPolG 2005 abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 FrPolG 2005 vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll. Liegt die in § 45 Abs. 1 Z 1 FrPolG 2005 geregelte Konstellation im Zusammenhang mit Italien vor, so ist das Abkommen zwischen der Bundesregierung der Republik Österreich und der Regierung der Italienischen Republik über die Übernahme von Personen an der Grenze, BGBl. III Nr. 160/1998, in den Blick zu nehmen. Nach dessen Art. 2 Abs. 1 übernimmt nämlich jede Vertragspartei auf Ersuchen der anderen Vertragspartei auf ihr Gebiet Drittstaatsangehörige, welche nicht oder nicht mehr die auf dem Gebiet der ersuchenden Vertragspartei (hier: Österreich) gültigen Bedingungen zur Einreise oder zum Aufenthalt erfüllen, sofern nachgewiesen wird, dass diese Staatsangehörigen in das Gebiet dieser Vertragspartei eingereist sind, nachdem sie sich auf dem Gebiet der ersuchten Vertragspartei (hier: Italien) aufgehalten haben. Demzufolge hätte vorrangig eine Zurückschiebung des Fremden anstelle der Einleitung eines Verfahrens zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und anstelle der Schubhaftverhängung zu dessen Sicherung in Betracht gezogen werden müssen. Dem Schubhaftbescheid kann aber nicht entnommen werden, weshalb diese Vorgangsweise - deren Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 1 FrPolG 2005 entgegengestanden wäre - nicht in Frage gekommen ist. Es fehlt somit eine Begründung, weshalb trotz der offenbar gegebenen Möglichkeit einer Zurückschiebung des Fremden nach Italien die verhängte Schubhaft zur Sicherung (letztlich) einer Abschiebung nach Nigeria als notwendig iSd § 76 Abs. 2 Z 2 FrPolG 2005 angesehen wurde (VwGH 16.07.2020, Ra 2020/21/0146)

Eine Gesamtabwägung aller angeführten Umstände ergibt daher, dass das öffentliche Interesse an der Sicherung der Abschiebung das Interesse an der Schonung der persönlichen Freiheit nicht überwogen und ein konkretes Sicherungsbedürfnis nicht bestanden hat.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden und der Beschwerde stattzugeben.

Die beschwerdeführende Partei hat im Zuge der Beschwerde schriftlich beantragt, ihr Kostenersatz in gesetzlicher Höhe zuzusprechen.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden und der belangten Behörde als unterlegene Partei der zu leistende Aufwandersatz in der Gesamthöhe von Euro 1.659,60 (inklusive Verhandlungsaufwand) aufzuerlegen.

3.4. Zu Spruchpunkt B. (Unzulässigkeit der Revision):

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen.

Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der einschlägigen Erkenntnisse des VwGH vom 19.02.2015, Zl. Ro 2013/21/0075, vom 23.04.2015, Zl. Ro 2014/21/0077, und vom 19.05.2015, Zl. Ro 2014/21/0071, sowie auch der die Schubhaft betreffenden Erkenntnisse des VfGH vom 12.03.2015, G 151/2014 ua., und E 4/2014.

Schlagworte

Interessenabwägung Rechtswidrigkeit Schubhaft Schubhaftbeschwerde Voraussetzungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2021:G312.2238229.1.00

Im RIS seit

11.03.2021

Zuletzt aktualisiert am

11.03.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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