TE Bvwg Erkenntnis 2020/9/18 G310 2232896-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.09.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

18.09.2020

Norm

BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55

Spruch


G310 2232896-1/4E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Gaby WALTNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Serbien, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 09.06.2020, Zl. XXXX , betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbots zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird Folge gegeben und der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text


Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin (BF), die über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ verfügt, wurde im Bundesgebiet 12 Mal strafgerichtlich verurteilt. Am 23.04.2018 wurde die BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich einvernommen. Mit Schreiben des BFA vom 08.10.2018 wurde die BF aufgefordert, sich zur beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbots zu äußern. Die BF erstattete keine entsprechende Stellungnahme.

Mit dem oben angeführten Bescheid wurde gegen die BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 5 FPG erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Serbien zulässig sei (Spruchpunkt II.), gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.) und gemäß § 55 Abs. 1-3 FPG eine Frist von vierzehn Tagen für die freiwillige Ausreise festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Dies wurde im Wesentlichen mit den strafgerichtlichen Verurteilungen begründet. Mit der Rückkehrentscheidung sei wegen der überwiegenden öffentlichen Interessen an Ordnung und Sicherheit kein unverhältnismäßiger Eingriff in ihr Privat- und Familienleben verbunden.

Dagegen richtet sich die mit 06.07.2020 datierte Beschwerde mit den Anträgen, eine Beschwerdeverhandlung durchzuführen, den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben, in eventu das Einreiseverbot auf eine verhältnismäßige Dauer herabzusetzen, in eventu den angefochtenen Bescheid ersatzlos zu beheben und zur neuerlichen Entscheidung an die Behörde erster Instanz zurückzuverweisen. Begründend wird zusammengefasst ausgeführt, dass von der BF keine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit ausgehe, da die BF in den vergangenen 10 Jahren zwar durch Diebstähle straffällig aufgefallen sei, es jedoch überwiegend lediglich beim Versuch geblieben sei. Inwiefern (unqualifizierte) Diebstähle die öffentliche Sicherheit gefährden würden sei nicht nachvollziehbar. Die BF sei - trotz mehrfachen Verurteilungen – primär zu bedingten Freiheitsstrafen verurteilt worden. Die BF befinde sich aufgrund ihrer Kleptomanie in Therapie und gehe auch nicht mehr alleine einkaufen, damit sie nicht stehle. Darüber hinaus wäre zu berücksichtigen gewesen, dass die meisten Verurteilungen (mitunter jene wegen Körperverletzung) mehr als 10 Jahre zurückliegen würden. Seit zweieinhalb Jahren sei die BF nicht mehr straffällig geworden. Seit ihrer letzten Verurteilung habe sie sich wohl verhalten. In diesem Zusammenhang sei insbesondere darauf hinzuweisen, dass die generelle Einvernahme- bzw. Dispositionsfähigkeit der BF in Zweifel stehe und in vorangegangenen Strafverfahren bereits eine geminderte Dispositionsfähigkeit der BF festgestellt worden sei. Die belangte Behörde habe auch nicht ausreichend berücksichtigt, dass die Tochter und das Enkelkind der BF in Österreich aufhältig seien. Stattdessen sei das BFA davon ausgegangen, dass kein schützenswertes Familienleben der BF in Österreich vorliege. Die BF habe in Serbien nie gelebt und es gebe seit ihrer Scheidung von ihrem serbischen Ex-Ehegatten auch keine Bindungen oder Anknüpfungspunkte mehr.

Das BFA legte die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vor, wo sie am 10.07.2020 einlangten, und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

Feststellungen:

Die BF wurde am XXXX in XXXX in Bosnien und Herzegowina geboren. Sie hat dort ihre Schulausbildung von sechs bis 14 Jahren absolviert. Sie spricht Deutsch, Bosnisch und Serbisch. Durch ihre Verehelichung am XXXX .2000 am Standesamt XXXX mit ihrem serbischen Ex-Ehegatten ist die BF Staatsangehörige von Serbien. Die Ehe wurde mit Urteil des BG Hernals vom XXXX .2003 geschieden. Die BF hat in Serbien weder Bezugspersonen noch eine Unterkunft. Die BF hat nie in Serbien gelebt, es bestehen keinerlei verwandtschaftliche oder sonstigen Anknüpfungspunkte.

In Österreich lebt die Tochter der BF, XXXX , die am XXXX in XXXX geboren wurde. Die Tochter der BF ist verheiratet und hat eine Tochter. Der Sohn der BF, XXXX , wurde am XXXX in Österreich geboren.

Die BF ist seit 1995 im Bundesgebiet mit Hauptwohnsitz melderechtlich erfasst. Am 26.11.2007 wurde der BF ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt-EG“ – gültig bis 26.11.2012 - erteilt. Am 03.10.2017 wurde der BF aufgrund eines Zweckänderungsantrages der bis 03.10.2023 befristete Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ erteilt.

Die BF ist geschieden, hat den Beruf der Verkäuferin angelernt und war von 11.01.1991 bis 23.01.2013 mit Unterbrechungen als Arbeiterin berufstätig. In den Jahren 2013 bis 2018 bezog die BF ausschließlich Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und die bedarfsorientierte Mindestsicherung. Von 01.04.2018 bis 06.04.2018 und von 24.04.2018 bis 31.08.2018 bezog die BF einen Pensionsvorschuss. Seit 01.04.2018 bezieht die BF krankheitsbedingt Rehabilitationsgeld.

Die BF leidet an physischen und psychischen Erkrankungen, konkret an Adipositas permagna, an einer Depression mit Ängsten sowie somatischen Beschwerden. Die BF hatte vor Jahren eine Magenbypassoperation. Im ärztlichen Gutachten der PV vom 15.03.2018 wurde eine befristete Pensionierung empfohlen.

In der vom BFA beauftragen ärztlichen Stellungnahme vom 08.04.2020, ob eine weitere Behandlung der Erkrankungen der BF in Serbien möglich sind, kam der Amtsarzt des polizeiärztlichen Dienstes Dr. XXXX , XXXX , zum Ergebnis, dass aus den vorgelegten Unterlagen eine weitere medizinische Behandlung der BF in Serbien zugänglich und daher eine Abschiebung trotz der Erkrankungen problemlos möglich ist.

Die BF wurde in Österreich 12 Mal strafgerichtlich verurteilt.

Mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .1990, XXXX , wurde die BF wegen des Vergehens des versuchten gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 15, 127, 130 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten unter einer Probezeit von drei 3 Jahren verurteilt. Die Strafe wurde mit XXXX .1990 vollzogen. Mit Beschluss des STRAFBEZIRKSGERICHT XXXX vom XXXX .1991, XXXX , wurde die Probezeit auf insgesamt 5 Jahre verlängert. Mit Entscheidung des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .1997, XXXX , wurde ein Teil der Freiheitsstrafe endgültig nachgesehen.

Mit Urteil des Strafbezirksgerichts XXXX vom XXXX .1990, XXXX , wurde die BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Geldstrafe von 30 Tagsätzen zu je 30,00 ATS (900,00 ATS) bzw. im Nichteinbringungsfall (NEF) zu 15 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt.

Mit Urteil des Strafbezirksgerichts XXXX vom XXXX .1991, XXXX , wurde die BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB, für schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten, bedingt unter einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt.

Mit Beschluss des BG XXXX vom XXXX .1993, XXXX , wurde die Probezeit auf insgesamt 5 Jahre verlängert.

Mit Beschluss des Strafbezirksgerichts XXXX vom XXXX .1996, XXXX , wurde ein Teil der Freiheitsstrafe endgültig nachgesehen.

Mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .1992, XXXX , wurde die BF wegen des Vergehens der Unterlassung der Verhinderung einer mit Strafe bedrohten Handlung gemäß § 286 Abs 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 3 Monaten unter einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt. Gemäß §§ 31, 40 StGB wurde unter Bedachtnahme auf das Urteil des Strafbezirksgerichts XXXX , XXXX , eine Zusatzstrafe verhängt.

Mit Beschluss des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .1998, XXXX , wurde ein Teil der Freiheitsstrafe endgültig nachgesehen.

Mit Urteil des Strafbezirksgerichts XXXX vom XXXX .1992, XXXX , wurde die BF wegen des Vergehens der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB zu einer Geldstrafe von 60 Tagsätzen zu je 40,00 ATS (2.400,00 ATS) im NEF 30 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt.

Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX .1993, XXXX , wurde die BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 6 Wochen verurteilt.

Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX .2002, XXXX wurde die BF wegen der Vergehen der Körperverletzung und Sachbeschädigung nach §§ 83 Abs 1, 125 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Monaten, bedingt, unter einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt.

Mit Beschluss des BG XXXX vom XXXX .2006, XXXX , wurde ein Teil der Freiheitsstrafe endgültig nachgesehen.

Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX .2009, XXXX , wurde die BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls zu einer Geldstrafe von 70 Tags zu je 4,00 EUR (280,00 EUR) im NEF 35 Tage Ersatzfreiheitsstrafe verurteilt.

Mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .2010, XXXX wurde die BF wegen des Vergehens des gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 1. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten, davon 8 Monate bedingt unter einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt. Der unbedingte Teil der Freiheitsstrafe wurde am 15.06.2011 vollzogen.

Mit Beschluss des BG XXXX vom XXXX .2013, XXXX , wurde die Probezeit des bedingten Strafteils auf insgesamt 5 Jahre verlängert.

Mit Beschluss des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .2014, XXXX , wurde der bedingt nachgesehene Teil der Freiheitsstrafe widerrufen.

Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX .2013, XXXX wurde die BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten bedingt unter einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt.

Mit Beschluss des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .2014, XXXX , wurde die bedingte Nachsicht der Strafe widerrufen.

Mit Urteil des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .2014, XXXX , wurde die BF wegen des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB, bei einem Strafrahmen von bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bis zu 360 Tagsätzen, zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt.

Mit Beschluss des LG XXXX vom XXXX , XXXX , wurde die BF aus der Freiheitsstrafe am 11.09.2015 unter einer Probezeit von 3 Jahren bedingt entlassen sowie eine Bewährungshilfe angeordnet.

Mit Beschluss des BG XXXX vom XXXX .2018, XXXX wurde die Probezeit der bedingten Entlassung betreffend die Urteile des LG f. Strafsachen XXXX vom XXXX .2014, XXXX , des BG XXXX vom XXXX .2013, XXXX und des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .2010, XXXX , auf insgesamt 5 Jahre verlängert.

Mit Beschluss des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .2018, XXXX , wurde die BF am 11.09.2015 endgültig aus der Freiheitsstrafe entlassen.

Mit Urteil des BG XXXX vom XXXX .2018, XXXX , wurde die BF wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls nach §§ 15 StGB, 127 StGB für schuldig erkannt und bei einem Strafrahmen von bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bis zu 360 Tagsätzen, zu einer bedingten Freiheitsstrafe auf 4 Monate unter einer Probezeit von 3 Jahren verurteilt. Der Verurteilung liegt zugrunde, dass die BF am XXXX .2017 versucht hat, fremde bewegliche Sachen, nämlich eine optische Sonnenbrille und drei Brillenschnüre im Gesamtwert von EUR 8,47 aus einem Kaufhaus mit dem Vorsatz wegzunehmen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem sie die Waren in ihrer Handtasche verbarg und die Kassa ohne zu bezahlen passierte. Als mildernd wurden der Versuch, das reumütige Geständnis und die eingeschränkte Dispositionsfähigkeit berücksichtigt, die neun einschlägigen Vorstrafen dagegen als erschwerend. Vom Widderruf der mit Beschluss des LG für Strafsachen XXXX vom XXXX .2015, XXXX bedingt ausgesprochenen Entlassung von einem Monat wurde abgesehen, jedoch die Probezeit auf 5 Jahre verlängert.

Bei sieben von zehn Strafdelikten handelt es sich jeweils um versuchte Diebstähle. Die beiden Delikte wegen Körperverletzung liegen rund 28 bzw. 18 Jahre zurück und kam es zu keiner Wiederholungstat der BF.

Bei der BF wird vom Strafgericht BG XXXX eine eingeschränkte Dispositionsfähigkeit aufgrund ihrer Krankheit „Kleptomanie“ festgestellt. Die BF ist sich ihrer Krankheit bewusst und geht in regelmäßige Therapie.

Die BF befand sich von 04.01.2010 bis 18.01.2010, von 01.03.2010 bis 15.06.2010 und von 12.04.2014 bis 22.07.2014, von 22.07.2014 bis 04.09.2014 und von 04.09.2014 bis 11.09.2015 in Justizanstalten im Bundesgebiet.

Seit ihrer letzten Verurteilung am 11.01.2018 hat sich die BF wohlverhalten und keine Straftat mehr begangen.

Beweiswürdigung:

Der Verfahrensgang ergibt sich ohne entscheidungserhebliche Widersprüche aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Akten des Verwaltungsverfahrens und des Gerichtsakts des BVwG.

Die Identität der BF ergibt sich aus den amtswegig eingeholten Registerauszügen sowie dem Gerichtsurteil des BG XXXX vom XXXX .2018, XXXX und dem in Kopie im Akt aufliegendem Reisepass.

Die Verehelichung der BF mit ihrem serbischen Ehegatten gründet auf der im Akt inliegenden Heiratsurkunde des Standesamtes XXXX vom XXXX .2000. Die Scheidung der BF von ihrem serbischen Ehegatten beruht auf dem Scheidungsurteil des BG XXXX vom XXXX .06.2003.

Bosnischkenntnisse sind aufgrund der Herkunft der BF plausibel, ebenso die Serbisch-Kenntnisse aufgrund ihrer Heirat mit ihrem serbischen Ex-Ehegatten und der damit verbundenen serbischen Staatsangehörigkeit der BF. Die Deutschkenntnisse der BF ergeben sich aus ihrem langen Inlandsaufenthalt und dem Umstand, dass sie hier von 1991 bis 2013 als unselbständig Erwerbstätige berufstätig war.

Der Umstand, dass die BF seit 1995 im Bundesgebiet gemeldet ist, ergibt sich aus dem ZMR. Ihre Aufenthaltstitel werden durch die Eintragungen im Fremdenregister bestätigt. Aufgrund ihrer Beschäftigungszeiten ist von einem Aufenthalt im Bundesgebiet seit zumindest 1991 auszugehen.

Die gesundheitlichen Probleme der BF bzw. Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit der BF gründen auf den Hauptdiagnosen des ärztlichen Gutachtens vom 15.03.2018 von Dr. XXXX , Ärztin für Allgemeinmedizin, für die Pensionsversicherungsanstalt, in dem eine befristete Pensionierung empfohlen wurde.

Die Teilnahme an regelmäßigen psychotherapeutischer Sitzungen durch die BF wird durch die dem Akt inliegende Bestätigung vom 02.05.2018 der Psychotherapeutin DAS XXXX , XXXX , belegt.

Die medizinische Einschätzung zur Abschiebefähigkeit der BF gründet sich auf die – vom BFA eingeholte – dem Akt inliegende - Stellungnahme des Amtsarztes des polizeiärztlichen Dienstes Dr. XXXX , XXXX vom 08.04.2020.

Die bis 2013 langjährige unselbständige Erwerbstätigkeit der BF im Inland sowie der Bezug von Arbeitslosen, Notstandshilfe Mindestsicherung Pensionsvorschussbezug und Rehabilitationsgeld ergeben sich aus dem Versicherungsdatenauszug.

Der geschiedene Familienstand der BF ergibt sich aus dem ZMR sowie aus dem Beschwerdevorbringen.

Die Feststellungen zu den von der BF in Österreich begangenen Straftaten, zu ihren Verurteilungen und zu den Strafzumessungsgründen basieren auf den vorliegenden Strafurteilen und dem Strafregisterauszug, in dem keine weiteren Verurteilungen der BF aufscheinen.

Es gibt keine Hinweise dafür, dass sie sich je für einen längeren Zeitraum in Serbien aufhielt oder in Kontakt zu jemandem, der dort lebt, steht.

Rechtliche Beurteilung:

Die BF ist als Staatsangehörige von Serbien Drittstaatsangehörige iSd § 2 Abs. 4 Z 10 FPG. Da sie über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ verfügt, kommt ihr nach § 20 Abs. 3 NAG in Österreich - unbeschadet der befristeten Gültigkeitsdauer des diesem Aufenthaltstitel entsprechenden Dokuments - ein unbefristetes Niederlassungsrecht zu. Die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung ist daher am Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG zu prüfen, wobei sich Einschränkungen der Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung auch noch aus § 9 BFA-VG ergeben (VwGH 29.05.2018, Ra 2018/21/0067).

Gemäß § 52 Abs. 5 FPG setzt eine Rückkehrentscheidung gegen die BF zunächst voraus, dass die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG die Annahme rechtfertigen, dass ihr weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde. Dies ist (soweit hier relevant) gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG dann der Fall, wenn sie von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt wurde.

Bei der Prüfung, ob die Annahme einer solchen Gefährdung gerechtfertigt ist, muss eine das Gesamtverhalten der Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorgenommen werden. Dabei ist auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme (hier: eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit, vgl. § 53 Abs. 3 erster Satz FPG) gerechtfertigt ist. Es ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (VwGH 21.06.2018, Ra 2016/22/0101 mwN).

Die BF erfüllt den Tatbestand des § 53 Abs. 3 Z 1 zweiter und dritter Fall FPG, weil sie mehr als einmal wegen Vermögensdelikten (insbesondere versuchter Diebstahl) rechtskräftig verurteilt wurde, zuletzt zu einer bedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten. Für den Wegfall oder eine maßgebliche Minderung der von ihr ausgehenden, durch die strafgerichtlichen Verurteilungen indizierten Gefährlichkeit bedarf es daher noch eines weiteren, entsprechend langen Zeitraums des Wohlverhaltens in Freiheit (VwGH 30.04.2020; Ra 2019/20/0399, VwGH 16.01.2020; Ra 2019/21/0360, VwGH 26.06.2019; Ra 2019/21/0118). Dieser Zeitraum ist umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich die Gefährlichkeit des Fremden - etwa in Hinblick auf das der strafgerichtlichen Verurteilung zu Grunde liegende Verhalten oder einen raschen Rückfall - manifestiert hat (VwGH 10.09.2018, Ra 2018/19/0169).

Einschränkungen der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gegen die BF ergeben sich auch noch aus § 9 BFA-VG. Erweist sich demnach eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 5 FPG - aus welchem Grund auch immer - als unzulässig, besteht das Aufenthaltsrecht aufgrund des Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt – EU“ weiter. Allenfalls kann nach § 28 Abs. 1 NAG von der Niederlassungsbehörde eine "Rückstufung" vorgenommen werden.

Da die Rückkehrentscheidung in das Privat- und Familienleben der BF eingreift, deren Lebensmittelpunkt seit knapp 30 Jahren in Österreich liegt, ist unter dem Gesichtspunkt von Art. 8 EMRK ihre Verhältnismäßigkeit am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen. Nach § 9 Abs. 1 BFA-VG ist (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingreift, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Dabei ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 18.05.2020, Ra 2019/18/0390 mwN.).

Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art. 8 Abs. 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze ergibt sich hier, dass die BF seit knapp 30 Jahren Österreich niedergelassen ist, sich viele Jahre rechtmäßig hier aufhält und daueraufenthaltsberechtigt ist. Sie hat ihr ganzes Berufsleben im Bundesgebiet verbracht und es ist ihr von 1991 bis 2013 mit Unterbrechungen nachhaltig gelungen, am österreichischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Aufgrund ihrer Erkrankungen fällt die derzeit fehlende Integration am Arbeitsmarkt demgegenüber weniger ins Gewicht.

Bei ihren strafgerichtlichen Verurteilungen konnte bis zu ihrer letzten Verurteilung am XXXX .2018, die - unter Berücksichtigung der aufgrund ihrer Kleptomanie eingeschränkten Dispositionsfähigkeit - zu einer kurzen bedingten Freiheitsstrafe führte, mit Geldstrafen, bedingten Freiheitsstrafen und drei unbedingten Freiheitsstrafen das Auslangen gefunden werden. Bei sieben von zehn Diebstählen ist es beim Versuch geblieben, bei ihrer letzten Straftat versuchte die BF eine optische Sonnbrille im Wert von 8 [sic!] EUR zu stehlen, auch dies zeigt den geringen monetären Unwert ihrer Tat und zeugt von ihrer kleptomanischen Veranlagung. Das Strafgericht hat zuletzt trotz der Vorstrafen mit einer bedingten Freiheitsstrafe im unteren Bereich das Auslangen gefunden und das reumütige Geständnis sowie die eingeschränkte Dispositionsfähigkeit der BF im Rahmen der Strafzumessungsgründe berücksichtigt. Es mussten erst zwei bedingte Strafnachsichten widerrufen werden; die BF hat auch schon mehrfach (verlängerte) Probezeiten bestanden. Auch zeigte sich die BF einsichtig und reumütig und hat sich erkennbar bemüht, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken.

Aufgrund des sehr langen rechtmäßigen Aufenthalts der BF in Österreich und ihrer familiären und sozialen Kontakte, insbesondere zu ihrer hier lebenden Tochter sowie zu ihrem Enkelkind, hat sie ein erhebliches privates Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet. Durch ihre Deutschkenntnisse ist sie hier auch sprachlich verankert. Die Rückkehrentscheidung greift – auch aufgrund der fehlenden Bindung der BF zu Serbien, wo sie nie gelebt und seit der Scheidung von ihrem serbischen Ex-Ehegatten auch keine nahen Bezugspersonen sowie kein soziales Netz hat – trotz der fehlenden Unbescholtenheit und der Wirkungslosigkeit strafgerichtlicher Sanktionen unverhältnismäßig in ihre Rechte nach Art. 8 EMRK ein. Der Stellungnahme des Amtsarztes des polizeiärztlichen Dienstes Dr. XXXX ist zu entgegnen, dass die Krankheiten der BF zwar – auch aufgrund der von der belangten Behörde eingeholten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation – in Serbien behandelbar sind, die BF jedoch die serbische Staatsbürgerschaft ausschließlich durch die Eheschließung mit ihrem serbischen Ex-Ehegatten erhielt und wie bereits ausgeführt keinerlei Bezugspunkte der BF, die in Bosnien und Herzegowina geboren wurde und bis zu ihrem 22. Lebensjahr dort aufgewachsen ist , zu Serbien bestehen.

Trotz des großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung von Vermögensdelikten sowie am Schutz der öffentlichen Ordnung ist angesichts der beruflichen (derzeit Bezug von Rehabilitationsgeld), privaten, familiären und sozialen Integration der BF während ihres langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen sie Abstand zu nehmen.

Ihr privates Interesse an einem Verbleib überwiegt, auch unter Bedachtnahme auf die wiederholten strafgerichtlichen Verurteilungen, das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Dies bedingt auch den Entfall der übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheids, der somit in Stattgebung der Beschwerde ersatzlos zu beheben ist.

In der Folge wird allenfalls die Niederlassungsbehörde zur Prüfung einer allfälligen "Rückstufung" gemäß § 28 Abs 1 NAG zu befassen sein, zumal die BF trotz Ausstellung eines Daueraufenthaltstitels straffällig wurde.

Eine Beschwerdeverhandlung entfällt gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint und die mündliche Erörterung keine weitere Klärung der Rechtssache erwarten lässt, zumal das Gericht ohnehin von der Richtigkeit der in der Beschwerde aufgestellten, glaubhaften Behauptungen der BF zu ihrem Privat- und Familienleben sowie ihrer gesundheitlichen Situation ausgeht.

Zu Spruchteil B):

Die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung ist im Allgemeinen nicht revisibel. Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose und für die Bemessung der Dauer des Einreiseverbots (VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0285). Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sich das BVwG dabei an bestehender höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs. 4 B-VG zu lösen war.

Schlagworte

Aufenthaltsdauer Aufenthaltstitel Daueraufenthalt EU (int. Schutzberechtigte) Einreiseverbot aufgehoben Gefährdungsprognose Gesundheitszustand Integration Interessenabwägung öffentliche Ordnung öffentliche Sicherheit Privat- und Familienleben psychische Erkrankung Rückkehrentscheidung behoben Straffälligkeit strafrechtliche Verurteilung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:G310.2232896.1.00

Im RIS seit

16.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

16.02.2021
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten