Entscheidungsdatum
19.11.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W268 1259724-2/7E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Iris Gachowetz als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.05.2020, Zl. XXXX , zu Recht:
A)
I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass der Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides zu lauten hat:
"Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 13.06.2019 wird gemäß § 68 Abs. 1 Allgemeines Verfahrensgesetz (AVG) wegen entschiedener Sache zurückgewiesen".
II. Hinsichtlich Spruchpunkten III. bis VIII. wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Erstes Verfahren auf internationalen Schutz
1.1. Der Beschwerdeführer (in weiterer Folge: BF) den im Spruch genannten Namen, ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an, war in seinem Heimatland zuletzt in Gudermes wohnhaft und reiste am 31.10.2004 unter Umgehung der Grenzbestimmungen in das Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Asylantrag.
Im Rahmen der Einvernahme beim Bundesasylamt am 24.03.2005 führte der BF aus, dass sein Vater im Jahr 2001 getötet worden sei. Seinen Fluchtgrund schildert er dahingehend, dass sein Bruder XXXX im ersten Krieg und sein Bruder XXXX zu Beginn des zweiten Krieges gefallen sei. Für die Russen sei es egal, ob man Kämpfer sei oder nicht. Wenn man Tschetschene sei, werde man verdächtigt. Er sei insgesamt zwei Mal mitgenommen worden und habe beschlossen das Land zu verlassen. Seine Probleme hätten bereits zu Beginn des ersten Tschetschenienkrieges begonnen. Sie seien immer wieder gekommen und hätten sie sekkiert. Er habe die ganze Zeit gehofft, dass der Krieg irgendwann zu Ende sei.
1.2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.04.2005 wurde der Asylantrag des BF gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs 1 AsylG für zulässig beschieden und dieser aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen.
Mit Urteil vom 04.02.2009 wurde der BF vom BG Favoriten gemäß § 27 Abs. 1/1 (1., 2. Fall) SMG, §§ 15, 127 StGB, § 27 Abs. 2 SMG, § 50 Abs. 1/2 WaffG zu einer Geldstrafe von 80 Tagsätzen zu je 2,00 Euro bestraft.
Mit Urteil des LG für Strafsachen Wien vom 01.06.2011 wurde der BF gemäß §12 3.Fall StGB, §75 StGB, §15 StGB, §103 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 16 Jahren verurteilt.
1.3. Die gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 04.04.2005 erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 12.12.2011 gemäß § 7 und § 8 Abs.1 AsylG idF BGBl 101/2003 und § 10 Abs.1 Ziffer 2 AsylG 2005, BGBl. I 38/2011, mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt III. lautete: Der Beschwerdeführer wird gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005, BGBl. I 38/2011 aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. Die Entscheidung erwuchs mit 31.01.2012 in Rechtskraft.
1.4. Mit Beschluss des OLG Wien vom XXXX , wurde entschieden, dass den Berufungen wegen Strafe gegen das Urteil des LG für Strafsachen Wien vom 01.06.2011 nicht Folge gegeben wird. Das Gerichtsurteil erwuchs somit am 17.04.2012 in Rechtskraft.
2. Erster Folgeantrag auf internationalen Schutz
2.1. Im Rahmen eines Parteiengehörs im Zusammenhang mit der beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung wurde dem BF am 15.12.2014 schriftlich Gelegenheit gegeben, zum Sachverhalt Stellung zu nehmen bzw. sein Privat- und Familienverhältnisse darzulegen und wurde er weiters darüber informiert, dass beabsichtigt sei, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu verhängen. Es wurde ihm außerdem Gelegenheit gegeben, zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zur Russischen Föderation, Stand 16.09.2014 (letzte Kurzinformation eingefügt am 05.12.2014), Stellung zu nehmen.
In seiner schriftlichen Stellungnahme vom 13.01.2015 gab er im Wesentlichen folgendes an:
Da sich die Zustände in Tschetschenien bisher nicht verändert hätten, obwohl der Krieg offiziell vorbei sei, würden er sich nicht vorstellen können, in die Heimat zurückzukehren. Wenn er zurückkehren würde, hätte er keine Zukunftsperspektive, da es keine Arbeit gäbe. Aber das, was am meisten das Problem wäre, sei, dass er nicht wüsste, was auf ihn zukommen würde. Zwei von seinen Brüdern hätten im Krieg gegen Russland gekämpft und wären dabei getötet worden. Vielleicht würde man ihn auch umbringen. Er habe Angst, da er schon gehört habe, dass die Familienmitglieder getötet oder vertrieben worden wären, weil jemand von der Familie im Krieg gekämpft hätte. Vor einem Monat hätte man in den Nachrichten wieder gesehen, dass eine ganze Familie ohne Kleidung vertrieben und deren Haus angezündet worden wäre. Daher würde er denken, dass es für ihn sicherer wäre, in Österreich zu bleiben und würde er eine freiwillige Ausreise ablehnen. Er sei am 31.10.2004 nach Österreich gekommen. In Russland habe er 8 Klassen Schule besucht und dann bei seinem Vater, der schon gestorben sei, auf der Landwirtschaft gearbeitet. Einen Beruf habe er nicht erlernt. In Österreich würden zwei seiner Brüder leben: XXXX würde in Linz wohnen, genaue Adresse nicht bekannt, 1970 geboren, russische Staatsbürgerschaft, verheiratet und habe 3 Kinder. Zu ihm hab er jetzt keinen Kontakt. Zudem XXXX , würde in 1230 Wien, XXXX wohnen, XXXX geboren, russische Staatsbürgerschaft, verheiratet mit XXXX , 3 Kinder im Alter von 18, 10 und 2 Jahren. Er habe in Österreich nicht gearbeitet, da er keine Arbeitsbewilligung gehabt habe. Er habe Sozialgeld erhalten und eine eCard gehabt. Gewohnt habe er zuerst in XXXX in einer Pension, dann in XXXX privat und zuletzt in XXXX in einer Pension. Er sei gesund. In Österreich habe er keine Freunde, nur Kontakt zu seinen Brüdern. In der Heimat würden seine Mutter, fünf Schwestern, die alle verheiratet seien, und ein Bruder leben. Er würde in Österreich bleiben wollen, da er in Tschetschenien mit dem Schlimmsten rechnen müsste. Die Adresse, wo seine Mutter wohne, wäre nur ein Ortsname, da würde es keine Straßennamen geben: XXXX . In einem anderen Land hätte er keine Familienangehörigen. Bezüglich Gerichtsverfahren, Zeuge oder ähnlichem sei ihm nichts bekannt. Er habe eine weiße Asylkarte. Ein Reisepass sei vorhanden. Er würde Österreich nicht freiwillig verlassen wollen. Der Reisepass würde sich in der Justizanstalt in der Verwahrungsstelle befinden. Er sei arbeitswillig. Er würde nochmals betonen wollen, dass er nicht nach Tschetschenien zurückkehren könne. Wenn dort bekannt würde, dass er wieder zurück wäre, müsste er mit dem Schlimmsten rechnen.
Der Inhalt dieser schriftlichen Stellungnahme wurde als Folgeantrag gewertet.
In Rahmen seiner Erstbefragung am 27.01.2015 vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen folgendes an:
Er habe seit der Entscheidung seines letzten Asylantrages Österreich nicht verlassen. Er könne nur seine Gründe, wie er sie schon angegeben habe, nur noch wiederholen. Er könne unter keinen Umständen nach Tschetschenien zurück, da sich die Zustände kaum verändert hätten. Er habe Angst, als Familienmitglied getötet zu werden, da zwei seiner Brüder im Krieg gegen Russland gekämpft hätten. In Tschetschenien würden immer noch Säuberungsaktionen stattfinden. Es würden im Zentrum zwar keine Kämpfe mehr stattfinden, aber im Hinterland würde es nach wie vor Auseinandersetzungen zwischen russischen Soldaten und den Aufständischen geben. Aufgrund des schon oben beschriebenen Sachverhalts habe er Angst, dass er bei seiner Rückkehr umgebracht werden würde. Der derzeitige Präsident Kadyrow würde auch weitere Familienmitglieder verfolgen und diese würden dann vertrieben werden. Der BF habe in Österreich bei seiner Gerichtsverhandlung eine Aussage gegen den Präsidenten Kadyrow gemacht. Bei der Verhandlung habe er einige Namen bekanntgegeben und deswegen würde er befürchten, dass eine Rückkehr nach Tschetschenien für ihn sehr gefährlich wäre. In Tschetschenien wäre die Situation in keiner Weise besser geworden. Es habe sich seit seiner Flucht im Jahr 2004 kaum etwas verändert. Für die Russen wäre es egal, ob man gekämpft hat oder nicht. Wenn man ein Tschetschene sei, würde man verdächtigt werden.
Am 27.06.2017 wurde der BF niederschriftlich vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in weiterer Folge: BFA) einvernommen. Im Rahmen dieser Einvernahme brachte der BF vor, dass er in der Angelegenheit, in welcher er eine Haftstrafe verbüße, ein unliebsamer Zeuge sei und deshalb befürchte, bei seiner Rückkehr nach Russland umgebracht zu werden. Dies sei bereits bei einem anderen unliebsamen Zeugen passiert, den man durch einen vorgetäuschten Autounfall umgebracht habe. Befragt, welche Aussage der BF gegen Kadyrow gemacht habe und welche Namen er genannt habe, gab der BF an, dass er seine Familie dort habe und Angst habe, zu viel zu sagen. Bei der Gerichtsverhandlung seien viele Leute gewesen und er habe befürchtet, dass es jemand weitererzähle, daher habe er nicht alles erzählt. Für Kadyrow sei eine Familie zu töten wie eine Fliege zu erschlagen, weshalb er Asyl wolle. Auf Nachfrage, weshalb der BF ein Unliebsamer sein soll, brachte der BF vor, dass er dort gewesen sei, wo die Tötung stattgefunden habe, aber er sei nicht im Einverständnis mit denen gewesen, weshalb sie geglaubt haben, dass er Aussagen gegen sie machen werde. Er könne nicht angeben, weshalb er diese Angaben nicht schon im ersten Asylverfahren gemacht habe. Nachweise für sein Vorbringen habe er keine.
Im Rahmen der Amtshilfe beantragte das BFA am 06.07.2017 beim BVT Unterlagen mit den niederschriftlichen Einvernahmen des BF im Rahmen des Mordprozesses betreffend XXXX .
Am 14.09.2017 wurde der Bruder des BF, XXXX , als Zeuge auf Wunsch des BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Im Rahmen dieser Einvernahme gab dieser an, dass der BF zu 100 % in Tschetschenien wegen des Verfahrens befragt und gefoltert werden würde. In diesem Prozess sei auch der tschetschenische Präsident involviert. Sie hätten auch ihn verdächtigt, Informationen an den Verfassungsschutz weitergegeben zu haben. Mit Sie seien der Präsident Kadyrov und seine Leute, darunter XXXX , gemeint. XXXX habe gesagt, dass er ihn und den BF umbringen würde. Befragt, weshalb der BF von Kadyrov getötet werden sollte, zumal er für diesen gearbeitet habe, gab der BF an, dass Kadyrov und XXXX wissen würden, dass der BF nichts damit zu tun habe. Er sei absichtlich hineingezogen worden. Weiters gab der Bruder des BF an, dass auch einige Mitarbeiter des BMI wissen würden, dass der BF unschuldig sei. Er selbst sei schon nach Tschetschenien gefahren und habe persönlich den Präsidenten getroffen und ihm gesagt, dass ihre Familie nichts mit dieser Sache zu tun habe.
Mit Bescheid des BFA vom 23.01.2018 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF vom 12.01.2015 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen. Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Es wurde weiters gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist. Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 5 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wurde gegen den BF ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen. Gemäß § 55 Absatz 1a FPG wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt. Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Absatz 1 Ziffern 2, 5, 6 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. Nr. 87/2012, (BFA-VG) idgF, die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 13 Absatz 2 Ziffer 1 Asylgesetz verlor der BF sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 03.02.2015.
Der Bescheid erwuchs mangels Erhebung einer Beschwerde am 24.02.2018 in Rechtskraft in erster Instanz.
3. Gegenständlicher Antrag auf internationalen Schutz
3.1. Am 13.06.2019 stellte der BF seinen dritten Antrag auf internationalen Schutz.
In der am 08.07.2019 durchgeführten Erstbefragung begründete er seinen Antrag damit, dass im Jahr 2009 ein Tschetschene in Wien erschossen worden sei und er als Zeuge dabei gewesen sei. Dies sei damals ein Auftrag des tschetschenischen Präsidenten Kadyrov gewesen. Falls er nach Tschetschenien abgeschoben werden würde, würden ihn Kadyrov und seine Leute nicht am Leben lassen. Alle Leute, die in diese Sache involviert gewesen seien und abgeschoben wurden, seien ermordet worden. Die Änderung seiner Fluchtgründe sei ihm seit 2004 bekannt, aber er habe aus Angst erst jetzt die Fluchtgründe genannt.
3.2. Am 26.11.2019 fand seine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl statt. Dabei brachte der BF auf die Frage, weshalb er neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz stelle, ua vor, dass er die Information bekommen habe, dass er auf keinen Fall nach Hause kommen solle, da er das 100%ig nicht überleben werde. Er sei Zeuge eines politischen Mordes und diese Leute würden niemanden herumspazieren und reden lassen. Wenn man irgendetwas über das Kriminalleben von Kadyrov wisse, dann würde er dich nicht am Leben lassen. Er habe von seinem Verwandten erfahren, dass er keinesfalls nach Hause dürfe. Wenn er zwangsweise abgeschoben werde, dann solle er keinesfalls nach Russland gebracht werden. Es habe sich herausgestellt, dass Kadyrow diesen Mord beauftragt habe und er habe diesen Mord verraten. Kadyrov habe wegen ihm, da er diese Sache verraten habe, ein großes Minus erhalten und dürfe daher nicht mehr nach Europa reisen. XXXX , der hier umgebracht worden sei, habe hier ein Zeugnis über die Taten von Kadyrov abgelegt. XXXX habe für Kadyrov gearbeitet und habe dessen Taten auf einem USB-Stick dokumentiert, den er an Straßburg weitergeben wollte. Mittlerweile habe der Vater von Kadyrov diesen USB-Stick an die österreichischen Behörden weitergegeben. Deshalb könne der BF keinesfalls nach Russland zurückkehren. Im Falle einer Rückkehr habe der BF Angst zu sterben. Viele hätten ihn bereits gewarnt. Er könne jedoch nicht die Namen dieser Leute nennen, da diese ihn gebeten hätten, auf keinen Fall ihren Namen zu nennen. Kadyrov könne ihn in der ganzen Russischen Föderation finden.
3.3. Mit dem im Spruch genannten Bescheid vom 04.05.2020 wurde der Antrag auf internationalen Schutz des BF vom 13.06.2019 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen. Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem BF gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Es wurde weiters gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist. Gemäß § 55 Absatz 1a FPG wurde keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt. Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde gemäß § 18 Absatz 1 Ziffern 2, 6 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. Nr. 87/2012, (BFA-VG) idgF, die aufschiebende Wirkung aberkannt. Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 5 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wurde gegen den BF ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen.
Die Abweisung des Antrags begründete das Bundesamt kurz zusammengefasst damit, dass die Ausführungen des BF im Hinblick auf seine Befürchtungen, als Familienmitglied seiner Brüder getötet zu werden, zumal zwei seiner Brüder im Krieg gegen Russland gekämpft hätten, keinen neuen Fluchtgrund darstellen würden. Erst als der BF das fünfte Mal nach seinen Asylgründen gefragt worden sei, habe er angeben, dass er aufgrund seiner Aussagen in seiner Gerichtsverhandlung gegen Kadyrow in Tschetschenien verfolgt werden würde. Diese Angaben seien jedoch nicht glaubwürdig und auch nicht plausibel. Weiters wurde darauf hingewiesen, dass die Mutter und manche der Geschwister des BF weiterhin ohne Probleme in Tschetschenien leben würden. Die einzig neuen Sachverhalte, die sich seit der letzten Asylentscheidung ergeben hätten, sei das Vorbringen betreffend eine Aussage gegen Kadyrow in einer Gerichtsverhandlung. In den daraufhin angeforderten Gerichtsprotokollen sei jedoch kein Hinweis auf derartige Aussagen des BF gefunden worden und habe der BF diesbezüglich auch nur vage Angaben machen können. Auch habe der BF nicht begründen können, weshalb er ein „unliebsamer Zeuge“ sei und es sei letztendlich nicht ersichtlich, weshalb der BF in Tschetschenien anders behandelt werden solle als die anderen Täter. Auch der Bruder des BF habe letztendlich keine überzeugenden bzw. glaubhaften Angaben machen können. Es habe weiters auch nicht festgestellt werden können, dass der BF im Falle einer Rückkehr in eine lebensbedrohende Lage versetzt werden würde. Der BF könne zu seiner Familie zurückkehren und könnten ihn die Verwandten anfangs unterstützen. Betreffend die Erlassung des Einreiseverbots wurde angeführt, dass der BF aufgrund seiner Straftaten eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstelle. Der BF habe zu einem geplanten Auftragsmord kaltblütig beigetragen und sei daher die Erlassung eines unbefristeten Einreiseverbots absolut gerechtfertigt.
3.4. Der BF erhob gegen sämtliche Spruchpunkte des Bescheids fristgerecht Beschwerde. Der genannte Bescheid werde wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften in seiner Gesamtheit angefochten. Entgegen der Ansicht des BFA habe der BF sein Vorbringen sehr detailliert und lebensnah gestaltet. Der BF befürchte, aufgrund seiner Beteiligung am Mord von XXXX in seiner Heimat aus politischen Motiven verfolgt zu werden. Die Aussage der Behörde, wonach der BF bereits in Österreich umgebracht worden wäre, wenn er tatsächlich ein unliebsamer Zeuge sei, erweise sich faktisch als schwer durchführbar, da sich der BF in Strafhaft befinde. Die Behörde habe keinen Abgleich mit den einschlägigen Länderinformationen vorgenommen, aus denen hervorgehe, das Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt anwendet. Es bestehe der Verdacht, dass Kadyrow auch außerhalb von Russland die Ermordung von unliebsamen Personen in Auftrag gebe. Damit wäre der BF jedenfalls unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt. Dem Umstand Rechnung tragend, dass der BF aufgrund der Beteiligung eines politisch in Auftrag gegebenen Mordes staatlich verfolgt werde, lasse für ihn die Definition eines Flüchtlings im Sinne der GFK zutreffen. Da dem BF unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung drohe, wäre ihm zumindest der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Im Hinblick auf das Einreiseverbot wurde ausgeführt, dass hinsichtlich der Gefährdungsprognose zu Gunsten des BF berücksichtigt werden müsse, dass sich der BF hinsichtlich seiner Taten reumütig zeige und er sein zukünftiges Leben in Freiheit mit einem ordentlichen Lebenswandel fortsetzen möchte. Der BF gehe zudem einer Arbeit in der Justizanstalt nach und verfüge über zwei Brüder, zu welchen regelmäßiger Kontakt bestehe und die ihn auch finanziell unterstützen würden. Ein unbefristetes Einreiseverbot stelle letztendlich einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privat- und Familienleben des BF dar. Schließlich wurden Anträge auf aufschiebende Wirkung sowie auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt.
3.5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte den Verfahrensakt samt dem Beschwerdeschriftsatz dem Bundesverwaltungsgericht am 09.12.2019 vor.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zum Verfahrensgang:
Das Bundesverwaltungsgericht stellt den Verfahrensgang fest, wie dieser bei Punkt I wiedergegeben ist.
Kurz zusammengefasst ergibt sich daraus folgendes:
Der BF reiste im Oktober 2004 in das Österreichische Bundesgebiet ein. Als Fluchtgrund führte er im Wesentlichen den Tschetschenienkrieg an. Dieser erste Asylantrag wurde mit Bescheid des BFA vom 04.04.2005 gemäß § 7 AsylG 1997 abgewiesen, die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des BF in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs 1 AsylG für zulässig beschieden und dieser aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen. Gegen diesen Bescheid wurde Beschwerde erhoben, welche letztendlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 12.12.2011 abgewiesen wurde.
Mit Urteil vom 04.02.2009 wurde der BF vom BG Favoriten gemäß § 27 Abs. 1/1 (1., 2. Fall) SMG, §§ 15, 127 StGB, § 27 Abs. 2 SMG, § 50 Abs. 1/2 WaffG zu einer Geldstrafe von 80 Tagsätzen zu je 2,00 Euro bestraft.
Diesem Urteil liegt zu Grunde, dass der BF zu nachstehenden Zeiten in Wien und anderen Orten
I. versucht hat, fremde bewegliche Sachen, anderen mit dem Vorsatz wegzunehmen, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern und
1. am 21. August 2007 in Wien Margareten eine Weste und Socken im Gesamtwert von € 25,80 Gewahrsamsträgern der H&M Hennes & Mauritz GmbH und
2. am 5. September 2007 in Wien Neubau einen Pullover im Wert von € 19,90 Gewahrsamsträgern der C&A Mode Gesm.b.H & Co KG
II. bis zum 30. April 2008 in Unterwaltersdorf eine verbotene Waffe, nämlich einen Schlagring, unbefugt besessen haben und
III. am 19. Mai 2007 in Wien Innere Stadt vorschriftswidrig Suchtgift, nämlich vier Stück Codidol, zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen haben.
Als mildernd wurden vom Gericht der bisher ordentliche Lebenswandel, der Umstand, dass es teilweise beim Versuch geblieben ist, und das reumütige Geständnis im Vorverfahren gewertet. Erschwerend musste jedoch das Zusammentreffen mehrerer Vergehen festgestellt werden.
Mit Urteil des LG für Strafsachen Wien vom 01.06.2011 wurde der BF gemäß §12 3.Fall StGB, §75 StGB, §15 StGB, §103 (1) StGB zu einer Freiheitsstrafe von 16 Jahren verurteilt.
Diesem Urteil liegt zu Grunde, dass XXXX und der BF
II. am 13. Jänner 2009 im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit dem abgesondert verfolgten XXXX . den in Wien aufhältigen XXXX ohne dessen Einwilligung mit Gewalt Verantwortlichen der russischen Teilrepublik Tschetschenien, sohin einer ausländischen Macht, zu überliefern versucht haben, wobei die Tatausführung am unerwarteten Widerstand des Opfers scheiterte, und zwar
B) der BF, indem er
sein Fahrzeug über Anweisung durch D. und B. im Bereich XXXX im Nahebereich des Eingangs zum Wohnhaus des XXXX positionierte, um die Aufnahme des I. nach dessen Überwältigung darin zu ermöglichen;
sich gemeinsam mit XXXX im Bereich XXXX im Besitz einer Faustfeuerwaffe bereithielt, XXXX zu überwältigen und zu verbringen;
nach der Erstansprache gemeinsam mit XXXX den flüchtenden I. mit gezogener Faustfeuerwaffe verfolgte und kurzfristig stellte, wobei es Genannten gelang, sich zu befreien und weiter zu flüchten, bis er von den Schüssen des B. tödlich getroffen zusammenbrach;
III. dadurch dazu beigetragen habe, dass der abgesondert verfolgte XXXX . am 13. Jänner 2009 in Wien, nachdem der primär auf die Entführung des XXXX gerichtete Tatplan gescheitert war, in Umsetzung der auf dessen Tötung gerichteten Tatplanalternative Genannten durch Abgabe mehrerer Schüsse aus einer Faustfeuerwaffe auf sein flüchtendes Opfer, wodurch dieses Durchschüsse im Bereich der linken Hüfte und der Bauchhöhle sowie einen Steckschuss, dessen Schusskanal vom Rücken links der Wirbelsäule schräg bis in den Brustkorb verlief, in die Bauchhöhle eindrang, das Zwerchfell eröffnete, Milz und Magen durchschlug und tödliche Einblutungen in Bauch- und Brusthöhle verursachte, erlitt, vorsätzlich tötete, und zwar
B) der BF durch die im Punkt II./B. dargestellten Tathandlungen.
Als mildernd wurden vom Gericht der bisher ordentliche Lebenswandel des BF und der Umstand, dass es bezüglich II./B. beim Versuch geblieben ist, gewertet. Erschwerend wurde jedoch das Zusammentreffen von zwei Verbrechen festgestellt.
Im 13.01.2015 gab der BF im Rahmen eines Parteiengehörs im Zusammenhang mit der beabsichtigten Erlassung einer Rückkehrentscheidung eine schriftliche Stellungnahme ab, welche letztendlich als Folgeantrag gewertet wurde. In dieser führte er seine früheren Fluchtgründe in Zusammenhang mit dem Tschetschenienkrieg neuerlich an. Im Rahmen der daraufhin erfolgten Erstbefragung bzw. Einvernahme vor dem BFA behauptete der BF jedoch zusätzlich, dass er in Österreich bei seiner Gerichtsverhandlung eine Aussage gegen den Präsidenten Kadyrow gemacht habe. Bei der Verhandlung habe er einige Namen bekanntgegeben und deswegen würde er befürchten, dass eine Rückkehr nach Tschetschenien für ihn sehr gefährlich wäre.
Dieser Folgeantrag wurde in allen Spruchpunkten mit Bescheid des BFA vom 23.01.2018 abgewiesen und erwuchs in Folge mangels Erhebung einer Beschwerde in Rechtskraft.
Am 13.06.2019 stellte der BF den gegenständlichen dritten Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete er insofern, als er angab, dass er Zeuge eines politischen Mordes sei, welcher Kadyrow beauftragt habe und welchen er verraten habe. Er werde deshalb von Kadyrow gesucht.
Dieser zweite Folgeantrag wurde mit Bescheid des BFA vom 04.05.2020 in allen Spruchpunkten abgewiesen und weiters auch ein unbefristetes Einreiseverbot ausgesprochen.
1.2. Zur Person und den Lebensumständen des BF und seinen Fluchtgründen:
Der BF ist russischer Staatsangehöriger und gehört zur Volksgruppe der Tschetschenen. Er stammt aus Tschetschenien und besuchte dort acht Jahre die Schule. Anschließend war er auf dem Bauernhof seines Vaters tätig. Er ist geschieden und war ein Jahr lang in seiner Heimat verheiratet. Seine Ex-Frau befindet sich in der Russischen Föderation. Er hat keine Sorgepflichten.
In Österreich leben zwei Brüder des BF, XXXX . XXXX lebt mit seiner Familie in Linz und hat inzwischen die österreichische Staatsbürgerschaft. XXXX hat Asyl bekommen und lebt mit seiner Familie in Wien. Der BF hat zurzeit zu beiden Kontakt, wobei er über längere Zeit mit XXXX nicht in Verbindung standen.
Ein weiterer Bruder des BF ist inzwischen türkischer Staatsbürger und lebt in der Türkei. Die Mutter, seine fünf Schwestern sowie ein Bruder leben im Heimatland des BF. Sein Vater und zwei weitere Brüder sind bereits verstorben.
In Österreich hat der BF trotz seines Aufenthalts seit 2004 außer zu den Familien seiner Brüder keine weiteren privaten oder sozialen Bindungen, auch berufliche Bindungen fehlen. Der BF hat, außer in der Justizanstalt, keinen aufrechten Wohnsitz im Österreich. In der Justizanstalt befindet sich der BF seit März 2009.
Der BF bezieht sich in seinem (dritten) Antrag auf internationalen Schutz im Wesentlichen auf Umstände, die bereits zum Zeitpunkt seiner ersten bzw. zweiten Asylantragstellung bestanden haben. Im Rahmen des in Österreich gegen den BF geführten Strafverfahrens aufgrund dessen Beteiligung am Auftragsmord gegen XXXX tätigte dieser keine spezifischen Aussagen gegen Kadyrov bzw. das tschetschenische Regime. Das Vorbringen, wonach der BF aufgrund seiner Aussagen gegen Kadyrov im Strafprozess von diesem verfolgt wird, kann letztendlich nicht verifiziert werden. Der BF konnte seit Rechtskraft der Entscheidung über seinen ersten Asylantrag kein neues entscheidungsrelevantes individuelles Vorbringen glaubhaft dartun. Es wird nicht festgestellt, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation Drohungen oder Gewalthandlungen von staatlicher oder privater Seite zu erwarten hätte. Ebenso wird nicht festgestellt, dass er in eine seine Existenz bedrohende Notlage geriete.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat (vgl. die Feststellungen, die dem angefochtenen Bescheid zugrunde liegen):
Politische Lage
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 29.7.2019, vgl. GIZ 8.2019c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 8.2019a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 8.2019a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als „obere Parlamentskammer“ das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178
Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Sieben-Prozent-Klausel.
Wichtige Parteien sind: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern , die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 5.2019a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 14.2.2019b). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die Nicht-Systemopposition unterstützt zwar die parlamentarische Demokratie als Organisationsform der Politik, nimmt aber nicht an Wahlen teil, da ihnen die Teilnahme wegen der restriktiven Regeln oder vermeintlicher Formalfehler versagt wird (Dekoder 24.5.2016).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 8.2019a, vgl. AA 14.2.2019b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 8.2019a).
Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum („exekutive Machtvertikale“) deutlich (GIZ 8.2019a).
Bei den Regionalwahlen am 8.9.2019 in Russland hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu Protesten geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten alles wählen – nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall. Umfragen hatten der Partei wegen der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage im Land teils massive Verluste vorhergesagt (Zeit Online 9.9.2019).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (14.2.2019b): Russische Föderation – Außen- und Europapolitik, https:// www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/ russischefoederation/201534, Zugriff 6.8.2019
- CIA – Central Intelligence Agency (29.7.2019): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/ publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 6.8.2019
- EASO – European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff
6.8.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff
5.9.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 5.9.2019
- Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau, https://www.kleinezeitung.at/politik/5666169/Russland_Mehr-als-1300-Festnahmen-beiKundgebung-in-Moskau, Zugriff 24.9.2019
- ORF – Observer Research Foundation (18.9.2019): Managing democracy in Russia: Elections 2019, https://www.orfonline.org/expert-speak/managing-democracy-in-russia-elections-201955603/, Zugriff 30.9.2019
- OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report, https://www.osce.org/odihr/elections/383577? download=true, Zugriff 6.8.2019
- Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen", https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volkschliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 6.8.2019
- Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident, https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 6.8.2019
- Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 6.8.2019
- Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 24.9.2019
Tschetschenien
Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2019 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS
24.1.2019), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben – eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert , teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2018). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen zu sein (Rüdisser 11.2012).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z.B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.2.2019, vgl. AA 13.2.2019).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als „Fußsoldat Putins“ zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute „föderale Machtvertikale“ dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum „inneren Ausland“ Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation,
https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019
- FH – Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff
6.8.2019
- GKS – Staatliches Statistikamt (24.1.2019): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2019, https://www.ppn2018.ru/novosti/naselenie-rossii-sokratilos-vpervye-za-10-let.html, Zugriff 6.8.2019
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019
- Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,
http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 6.8.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https:// www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 6.8.2019
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
- AA – Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise, https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019
- BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reiseaufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019
- Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden, https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
- EDA – Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019
- GIZ – Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag, https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff „low level insurgency“ umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz‘, eine ‚Provinz Kaukasus‘, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen‘ Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus.
Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft.
Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in KabardinoBalkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konfliktopfer und bewaffneten Zwischenfälle mehr (Caucasian Knot 30.8.2019).
Quellen:
- AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueberdie-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-201813-02-2019.pdf, Zugriff 3.9.2019
- Caucasian Knot (30.8.2019): In 2018, the count of conflict victims in Northern Caucasus dropped by 38%, https://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/reduction_number_victims_2018/, Zugriff 3.9.2019
- DW – Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt", https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 3.9.2019
- ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (10.2015): Reaktionen auf den »Islamischen Staat« (ISIS) in Russland und Nachbarländern, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/ aktuell/2015A85_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
- SWP – Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus,
https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019