TE Vfgh Erkenntnis 2020/10/7 E1524/2020 ua

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Veröffentlicht am 07.10.2020
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55
VfGG §7 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status subsidiär Schutzberechtigter betreffend eine Familie irakischer Staatsangehöriger; keine hinreichende Auseinandersetzung mit der Situation Minderjähriger im Herkunftsstaat sowie der medizinischen Versorgung eines kranken Kindes

Spruch

I. 1. Die Beschwerdeführer sind durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise mit der Maßgabe abgewiesen werden, dass die Frist für die freiwillige Ausreise sieben Monate beträgt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 3.139,20 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind verheiratet und Eltern der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin und des minderjährigen Viertbeschwerdeführers. Die Beschwerdeführer sind irakische Staatsangehörige. Sie gehören der arabischen Volksgruppe an und bekennen sich zum schiitisch-muslimischen Glauben. Der Erst- und der Viertbeschwerdeführer sind gesund. Die Zweitbeschwerdeführerin hat bei einem Terroranschlag im Irak Verbrennungen an 20 Prozent ihrer Hautoberfläche und eine schwere Beinverletzung erlitten, die zu einer Unterschenkelamputation geführt hat, wobei auf Grund von Wundheilungsstörungen in Österreich ein neuerlicher operativer Eingriff erforderlich war. Durch eine Beinprothese kann sie sich ohne Gehhilfe fortbewegen, sie leidet aber an immer wieder auftretenden, medikamentös behandelbaren Schmerzen und ist dadurch gesundheitlich beeinträchtigt und eingeschränkt arbeitsfähig. Bei der Drittbeschwerdeführerin wurde im Jahr 2017 eine Absencen-Epilepsie diagnostiziert. Diese Krankheit wurde medikamentös behandelt, wobei zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes keine medikamentöse Behandlung erforderlich war. Es kann aber in einer gewissen Anzahl von Fällen zu neuerlichen Anfällen und damit erneut zum Bedarf einer medikamentösen Behandlung kommen.

2. Die Beschwerdeführer stellten am 7. September 2015 Anträge auf internationalen Schutz, die das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheiden vom 19. September 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten als unbegründet abwies. Es erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer in den Irak zulässig ist, und setzte eine zweiwöchige Frist zur freiwilligen Ausreise.

3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Erkenntnis vom 29. April 2020 mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass es wegen der neuerlichen Schwangerschaft der Zweitbeschwerdeführerin eine siebenmonatige Frist zur freiwilligen Ausreise setzte. Es begründet die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten im Wesentlichen damit, dass das Vorbringen der Beschwerdeführer nicht glaubhaft sei.

Auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten erachtet das Bundesverwaltungsgericht für nicht gegeben, weil eine Rückkehr nach Bagdad zur Verfügung stehe. Bei den minderjährigen Beschwerdeführern handle es sich zwar um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe. Es seien jedoch keine spezifischen, unter dem Blickwinkel des Art2 und 3 EMRK aufzugreifenden Gefahren erkennbar. Ebenso wenig stehe die gesundheitliche Situation der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin einer Rückkehr entgegen. Die Zweitbeschwerdeführerin bedürfe keiner weiteren Behandlung und sei eingeschränkt arbeitsfähig. Auch hinsichtlich der Drittbeschwerdeführerin sei zwar derzeit keine medikamentöse Behandlung erforderlich, das Auftreten neuer epileptischer Anfälle aber auch nicht auszuschließen. Diesfalls wäre eine (medikamentöse) Behandlung in Bagdad sichergestellt.

Bei einer Rückkehr nach Bagdad stehe den Beschwerdeführern ein familiäres Unterstützungsnetzwerk zur Verfügung. Zudem hätten die Beschwerdeführer keine Befürchtungen im Hinblick auf eine fehlende Lebensgrundlage im Herkunftsstaat vorgebracht.

Die Sicherheitslage in Bagdad sei stabil, sie habe sich in den letzten Jahren entscheidend verbessert und es ereigneten sich nur vereinzelt terroristische Anschläge mit einer vergleichsweise geringen Anzahl ziviler Opfer. Auch unter Berücksichtigung der besonderen Vulnerabilität der Drittbeschwerdeführerin und des Viertbeschwerdeführers stehe die Sicherheitslage einer Rückkehr nach Bagdad nicht entgegen. Dies decke sich auch mit den im Mai 2019 veröffentlichten UNHCR-Erwägungen. Die darin geschilderten erhöhten Zumutbarkeitskriterien seien fallgegenständlich nicht einschlägig, da die Beschwerdeführer nicht auf eine innerstaatliche Fluchtalternative verwiesen würden, wobei selbst unter Anwendung dieser Kriterien eine Rückkehr zumutbar erscheine.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird. Insbesondere wird darin vorgebracht, dass es sich bei der beschwerdeführenden Familie um eine äußerst vulnerable Personengruppe handle. Eine Rückkehr nach Bagdad sei vor diesem Hintergrund nicht zulässig. Zwar treffe das Bundesverwaltungsgericht umfangreiche Feststellungen zur Situation von Kindern im Irak, die jedoch eine teilweise sehr prekäre Lage für Kinder zeichneten. So wären Kinder Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre und überproportional von der schwierigen humanitären Lage betroffen. Sehr viele Kinder und Jugendliche wären infolge der Kämpfe von Gewaltakten gegen sie selbst oder Familienangehörige betroffen. Darüber hinaus sei der Gesundheitszustand der Drittbeschwerdeführerin mangelhaft ermittelt worden.

5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der es dem Beschwerdevorbringen mit näherer Begründung entgegentritt.

II. Erwägungen

A. Soweit sich die – zulässige – Beschwerde gegen die Abweisung der Beschwerden durch das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung, der Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und der Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise mit der Maßgabe, dass diese Frist sieben Monate beträgt, richtet, ist sie auch begründet:

1. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg cit gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten unterlaufen:

2.1. Bei der Behandlung der Anträge auf internationalen Schutz von Minderjährigen sind, unabhängig davon, ob sie unbegleitet sind oder gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, bei entsprechend schlechter allgemeiner Sicherheitslage zu deren Beurteilung einschlägige Herkunftsländerinformationen, in die auch die Erfahrungen in Bezug auf Kinder Eingang finden, jedenfalls erforderlich (vgl UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Art1 [A] 2 und 1 [F] des Abkommens von 1951 bzw des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 22.12.2009, Rz 74). Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt die Bedeutung der Länderfeststellungen im Hinblick auf Minderjährige als besonders vulnerable Antragsteller hervorgehoben (vgl zB VfGH 8.6.2020, E3524/2019 ua mwN). Dieses Verständnis steht im Einklang mit Art24 Abs2 GRC bzw ArtI zweiter Satz des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBl I 4/2011, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (VfGH 2.10.2013, U2576/2012 mit Verweis auf EuGH 6.6.2013, Rs C-648/11, MA ua, Rz 56 und 57).

Bei den Beschwerdeführern handelt es sich um eine Familie mit zwei minderjährigen Kindern und somit schon deshalb um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe. Dazu kommen die Schwangerschaft der Zweitbeschwerdeführerin und die gesundheitlichen Einschränkungen der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin. Nach den UNHCR-Erwägungen ("International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Republic of Iraq", S 115) vom Mai 2019 ist bei der Prüfung, ob subsidiärer Schutz zuzuerkennen ist, auf solche besonderen Vulnerabilitäten besonders Bedacht zu nehmen.

Ausweislich der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht machen die Beschwerdeführer insbesondere geltend, dass sie auf Grund der konkreten hochgefährlichen Sicherheitslage im Irak als Familie nicht in ihre Herkunftsregion zurückkehren könnten, wobei die Zweitbeschwerdeführerin in diesem Zusammenhang auch auf ihre Behinderung und die dadurch einhergehenden Einschränkungen hinweist. Hinsichtlich der Versorgungslage äußern die Beschwerdeführer demgegenüber keine Bedenken.

2.2. In Bezug auf die Sicherheitslage in Bagdad ergibt sich aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationen folgendes Bild:

Die Sicherheitslage im Irak habe sich zwar merklich verbessert, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen worden sei. Staatliche Stellen seien aber nach wie vor für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verantwortlich und nicht in der Lage, die in der Verfassung verankerten Rechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten. Es sei staatlichen Stellen zudem nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen.

Unter dem Kapitel "Aktuelle Ereignisse" listet das Bundesverwaltungsgericht in kurzen Abständen sich ereignende sicherheitsrelevante Vorfälle auf, die vor allem im Zusammenhang mit den seit Oktober 2019 landesweit stattfindenden Massenprotesten stünden und sich zu einem wesentlichen Teil in Bagdad ereigneten. Daneben komme es ua in Bagdad weiterhin zu nichtprotestbezogenen sicherheitsrelevanten Vorfällen. Allein seit Beginn der Proteste am 1. Oktober bis zum 29. Oktober 2019 wären 250 Menschen getötet und mehr als 8.000 Personen verletzt worden. An anderer Stelle verweist das Bundesverwaltungsgericht darauf, dass mittlerweile bis zu 600 Todesopfer zu verzeichnen seien.

Aus der zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes bereits verfügbaren, aber der angefochtenen Entscheidung nicht zugrunde gelegten Fassung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 17. März 2020 ist zudem ersichtlich, dass der IS seine im Zuge der Massenproteste ins Stocken geratenen Bemühungen, in Bagdad wieder Fuß zu fassen, mittlerweile wieder aufgenommen habe und dass die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle seit Ende 2019 dem IS zuzuordnen seien. Ebenso wird dort berichtet, dass seit Beginn der Proteste bis zu 600 Demonstranten getötet und mehr als 22.000 Menschen verletzt worden seien.

Mit Blick auf die Lage von Kindern in Bagdad trifft das Bundesverwaltungsgericht zwar in Bezug auf den Zugang zu Bildung, Grundnahrungsmitteln und medizinischer Versorgung, in Bezug auf die soziale Lage, häusliche Gewalt, Menschenhandel, Bettelei, Drogenkriminalität und sexuelle Ausbeutung sowie schließlich hinsichtlich Zwangsrekrutierungen umfangreiche Feststellungen. Hinsichtlich der Sicherheitslage hält es aber nur fest, dass

Kinder "Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre" und "nach Angaben der Vereinten Nationen in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage betroffen" seien. "Sehr viele Kinder und Jugendliche" seien dabei "infolge der Kämpfe von Gewaltakten gegen sie selbst oder gegen Familienmitglieder betroffen" gewesen. Dass die Situation in Bagdad mit Blick auf die Situation von Kindern anders wäre, ergibt sich aus den Feststellungen nicht (vgl zur Sicherheitslage auf Grund einer vergleichbaren Berichtslage VfGH 26.6.2019, E2838/2018 ua; 23.9.2019, E2050/2019 ua; VwGH 13.2.2020, Ra 2019/19/0245 ua).

2.3. Auf dieser Basis kommt das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen der Beweiswürdigung zu folgender Bewertung:

Die Sicherheitslage im Gouvernement Bagdad sei ausweislich der ausführlichen Feststellungen stabil. Vereinzelte terroristische Aktivitäten konzentrierten sich auf die Vororte und seien vorrangig gegen exponierte Personen gerichtet, um eine Verunsicherung in der Bevölkerung zu erzielen. In Anbetracht dieser Gefahrendichte könne nicht erkannt werden, dass schon auf Grund der bloßen Präsenz der Beschwerdeführer in Bagdad davon ausgegangen werden müsse, dass diese wahrscheinlich das Opfer eines terroristischen Anschlages, krimineller Aktivitäten oder anderweitiger willkürlicher Gewalt werden würden.

Es sei aber auch festzuhalten, dass im Rahmen der derzeit stattfindenden Proteste tausende, zumeist junge Menschen auf die Straße gingen, um ua gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung zu protestieren. Anlässlich der Proteste käme es auch in Bagdad zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Es würden Regierungsgebäude, Fernsehstationen, das iranische Konsulat und die Hauptquartiere von Milizen und Parteien, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen und teilweise besetzt oder angezündet. Die Sicherheitskräfte hätten mancherorts die Kontrolle verloren und setzten Tränengas und scharfe Munition gegen Demonstranten ein. In Bagdad würden tageweise Ausgangssperren verhängt. Außerdem gäbe es Berichte über nichtidentifizierte Scharfschützen, die sowohl (auch unbewaffnete) Demonstranten als auch Sicherheitskräfte ins Visier genommen haben sollen. Seit dem Ausbruch der Proteste sollen über 250 Personen getötet und mehr als 8.000 Personen verletzt worden sein.

Das Bundesverwaltungsgericht zieht daraus den Schluss, dass am Rande der wiederholt stattfindenden Massenproteste Ausschreitungen und gewalttätige Übergriffe stattfinden würden. Da die Beschwerdeführer aber vorgebracht hätten, nicht an gewalttätigen Ausschreitungen teilnehmen zu wollen, sondern nur die Bereitschaft zu einer allfälligen Teilnahme an friedlichen regierungskritischen Protesten bekundet hätten, geht das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass aus einer allfälligen Teilnahme oder zufälligen Verwicklung in Bezug auf friedliche regierungskritische Proteste für die Beschwerdeführer keine reale Gefahr einer drohenden Verletzung der durch Art3 EMRK garantierten Rechte bestünde. Risikoerhöhende Umstände wie etwa ein politisches Engagement oder eine exponierte Stellung lägen im Hinblick auf den Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin nicht vor.

In Bezug auf die minderjährigen Beschwerdeführer findet sich in diesem Zusammenhang – einzig – folgende Aussage:

"Im Hinblick auf die minderjährigen Beschwerdeführer ist im Übrigen davon auszugehen, dass sie sich an den gegenwärtigen Protesten nicht beteiligen werden, da sie noch im Kindesalter sind und deshalb weder von einem eigenen Interesse an einer Demonstrationsteilnahme auszugehen ist, noch davon, dass sie von einem Dritten zu solchen Protesten mitgenommen werden."

In der rechtlichen Beurteilung wiederholt das Bundesverwaltungsgericht weitgehend bloß wörtlich die in der Beweiswürdigung dargelegten Ausführungen.

2.4. Auf die Tatsache, dass es sich bei den Beschwerdeführern um eine Familie mit zwei Minderjährigen und (dann) einem neugeborenen Kind handelt, wobei die Beschwerdeführer zusätzliche Vulnerabilitäten durch die gesundheitlichen Einschränkungen der Zweit- und Drittbeschwerdeführerin aufweisen, geht das Bundesverwaltungsgericht in seiner rechtlichen Würdigung nicht näher ein. Es unterlässt mit Blick auf die Vulnerabilitäten der Beschwerdeführer gänzlich, die Feststellungen zur Sicherheitslage in Bezug auf die von den beschriebenen Massenprotesten geprägte Umgebung und hinsichtlich des Umstandes, dass Kinder in überproportionaler Weise von den Gewaltakten betroffen seien, unter Art2 und 3 EMRK rechtlich zu beurteilen. Der Hinweis allein, dass Kinder nicht von sich aus aktiv an Protesten teilnehmen, reicht angesichts der Feststellungen für eine nachvollziehbare Beurteilung nicht aus.

Weiters geht das Bundesverwaltungsgericht mit Blick auf die Drittbeschwerdeführerin davon aus, dass im Falle neu auftretender Anfälle eine entsprechende medikamentöse Behandlung in Bagdad sichergestellt sei. Die Verfügbarkeit entsprechender Medikamente bejaht es gestützt auf entsprechende Berichte aus den Jahren 2017 und 2018. Im Kapitel "Aktuelle Ereignisse" stellt es demgegenüber fest, dass sich das irakische Gesundheitssystem Berichten zufolge aktuell "in einer Krise" befinde, "die vor allem durch fehlende Medikamente und ausgebildetes Personal" bestimmt sei, und der schlechte Zustand des Gesundheitssystems ein Hauptgrund für die aktuellen Proteste sei. Dabei führt es auch eine Studie des irakischen Gesundheitsministeriums an, derzufolge "die Mehrheit der notwendigen Medikamente nicht ausreichend oder gar nicht zur Verfügung" stünde. Mit Blick auf diese widersprüchlichen Feststellungen ist die rechtliche Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichtes aber nicht nachvollziehbar.

2.5. Indem das Bundesverwaltungsgericht es somit bei seiner rechtlichen Beurteilung unterlassen hat, eine nachvollziehbare Prüfung der Art2 und 3 EMRK im Hinblick auf die (minderjährigen) Beschwerdeführer als besonders vulnerable Antragsteller vorzunehmen, hat es sein Erkenntnis im angegebenen Umfang mit Willkür belastet.

B. Im Übrigen, soweit sich die Beschwerde gegen die Abweisung der Anträge auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Die Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführer sind somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerden gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak, gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, gegen die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, gegen die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und gegen die Festsetzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise mit der Maßgabe abgewiesen werden, dass die Frist für die freiwillige Ausreise sieben Monate beträgt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 523,20 sowie ein Streitgenossenzuschlag in der Höhe von € 436,– enthalten.

5. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Schlagworte

Asylrecht / Vulnerabilität, Entscheidungsbegründung, Kinder, Rückkehrentscheidung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:E1524.2020

Zuletzt aktualisiert am

15.01.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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