TE Vwgh Erkenntnis 2020/11/26 Ro 2019/21/0007

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Veröffentlicht am 26.11.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

B-VG Art140 Abs7
VVG §5 Abs1
VVG §5 Abs3
VVG §6 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des T D in W, im Zeitpunkt der Einbringung der Revision vertreten durch Mag. Roland Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24. Jänner 2019, W250 2213305-1/6E, betreffend Zwangsstrafe nach § 5 VVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Kirgisistans, stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet am 4. September 2007 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 28. Oktober 2008, verbunden mit einer Ausweisung nach Kirgisistan, vollinhaltlich abgewiesen. Eine dagegen erhobene Beschwerde wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 23. Februar 2012 als unbegründet ab.

2        Nachdem schon in der Vergangenheit mehrere Versuche, bei der Botschaft der Republik Kirgisistan ein (mangels verfügbaren Reisedokuments erforderliches) Heimreisezertifikat für den Revisionswerber zu erlangen, infolge seiner wiederholten Angabe von Aliasidentitäten gescheitert waren und sich der Revisionswerber auch im Zuge von Einvernahmen gegenüber dem BFA wiederholt geweigert hatte, (ihm vorgelegte) Formblätter der Vertretungsbehörde Kirgisistans zur Klärung seiner Identität auszufüllen, hatte das BFA dem Revisionswerber mit Bescheid vom 3. Juli 2018 gemäß § 46 Abs. 2a und 2b FPG iVm § 19 AVG aufgetragen, an der Erlangung eines Ersatzreisedokumentes mitzuwirken. Er habe zwei beigelegte Formblätter zur Ausstellung eines Heimreisezertifikates mit seinen richtigen Identitätsangaben vollständig auszufüllen und diese innerhalb einer Woche ab Zustellung des Bescheides dem BFA zurückzusenden. Für den Fall, dass er diesem Auftrag ohne wichtigen Grund nicht Folge leiste, wurde dem Revisionswerber eine Haftstrafe von 14 Tagen angedroht. Dieser Bescheid wurde dem Revisionswerber am 8. Juli 2018 zugestellt.

3        Da der Revisionswerber der aufgetragenen Mitwirkungsverpflichtung nicht nachkam, verhängte das BFA über ihn mit Bescheid vom 23. August 2018 gemäß § 5 VVG die angedrohte Haftstrafe von 14 Tagen. Dieser Bescheid wurde dem Revisionswerber am 28. August 2018 persönlich übergeben. Zugleich wurde der Revisionswerber festgenommen und bis zum 11. September 2018 (ohne Erfolg) in Beugehaft angehalten.

4        Mit weiterem Bescheid vom 6. September 2018 trug das BFA dem Revisionswerber, der sich bei einer unmittelbar vorangehenden Einvernahme wiederum geweigert hatte, entsprechende Formblätter auszufüllen, gemäß § 46 Abs. 2a und 2b FPG iVm § 19 AVG neuerlich eine inhaltsgleiche Mitwirkungsverpflichtung (wie im Bescheid vom 3. Juli 2018) auf. Für den Fall, dass er auch diesem Auftrag ohne wichtigen Grund nicht Folge leiste, wurde ihm eine Haftstrafe von 21 Tagen angedroht.

5        Der Revisionswerber kam erneut seiner Mitwirkungsverpflichtung nicht nach, sodass das BFA mit Bescheid vom 20. September 2018 gemäß § 5 VVG die zuletzt angedrohte Haftstrafe von 21 Tagen über den Revisionswerber verhängte.

6        Da eine Zustellung wegen Abwesenheit des Revisionswerbers von seiner Wohnadresse scheiterte, erließ das BFA am 15. Oktober 2018 einen Festnahmeauftrag gemäß § 34 Abs. 3 Z 4 BFA-VG. Die Haftstrafe von 21 Tagen wurde am 16. Jänner 2019 (nach Festnahme des Revisionswerbers und Zustellung des Bescheides vom 20. September 2018) in Vollzug gesetzt.

7        Mit Eingabe vom 18. Jänner 2019 erhob der Revisionswerber Beschwerde gegen den genannten Bescheid vom 20. September 2018. Darin stellte er (insbesondere) die Anträge, den angefochtenen Bescheid zu beheben und die darauf gestützte Festnahme sowie die darauffolgende bisherige Anhaltung für rechtswidrig zu erklären, weiters binnen der verfassungsgesetzlichen Frist von einer Woche festzustellen, dass die für die Fortsetzung der Haft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorliegen.

8        Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 24. Jänner 2019 wies das BVwG „die Beschwerde gegen die Festnahme“ vom 16. Jänner 2019 als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Ebenso wies es die vom Revisionswerber gegen den Bescheid des BFA vom 20. September 2018 erhobene Beschwerde als unbegründet ab und stellte fest, dass der Freiheitsentzug rechtmäßig sei (Spruchpunkt A.II.). Es wies schließlich das Kostenersatzbegehren des Revisionswerbers ab und verpflichtete ihn zum Aufwandersatz an den Bund nach § 35 Abs. 1 und 3 VwGVG (Spruchpunkte A.III. und A.IV.). Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es aus, dass die Revision gegen Spruchpunkt A.II. zulässig, im Übrigen aber nicht zulässig sei.

Begründend bejahte das BVwG die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Akte auf Grundlage einer korrekten Anwendung der vom BFA herangezogenen gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere des § 5 VVG. Gründe für eine Unverhältnismäßigkeit der Zwangsstrafe seien nicht hervorgekommen. Die Zulässigkeit der (ordentlichen) Revision folge aus dem Fehlen von Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 46 Abs. 2a und 2b FPG iVm § 5 VVG.

9        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende - ordentliche und zugleich außerordentliche - Revision. Im Rahmen des Vorverfahrens wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.

10       Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt.

Aus Anlass der Revision stellte der Verwaltungsgerichtshof anknüpfend an den Prüfungsbeschluss des Verfassungsgerichtshofes vom 26. Februar 2020, E 76/2019, mit Beschluss vom 16. Juli 2020, A 2020/0002, an den Verfassungsgerichtshof den Antrag,

„im Verwaltungsvollstreckungsgesetz 1991 (VVG), BGBl. Nr. 53/1991 (WV), als verfassungswidrig aufzuheben:

die Wortfolge ‚oder durch Haft‘ in § 5 Abs. 1,

die Zeichen- und Wortfolge ‚ , an Haft die Dauer von vier Wochen‘ in § 5 Abs. 3 idF BGBl. I Nr. 137/2001 und

§ 6 Abs. 2.“

11       Mit Erkenntnis vom 7. Oktober 2020, G 164/2020 u.a., hob der Verfassungsgerichtshof die Wortfolge „oder durch Haft“ in § 5 Abs. 1 VVG, die Zeichen- und Wortfolge „ , an Haft die Dauer von vier Wochen“ in § 5 Abs. 3 VVG und § 6 Abs. 2 VVG als verfassungswidrig auf. Weiters sprach er aus, dass die Aufhebungen mit Ablauf des 31. Dezember 2021 in Kraft treten und frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten.

12       Gemäß Art. 140 Abs. 7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannten Normen bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätten (vgl. zuletzt etwa VwGH 18.5.2020, Ra 2018/15/0121, Rn. 12, mwN).

13       Der vorliegende Revisionsfall bildet einen der Anlassfälle für die in Rn. 11 dargestellte teilweise Gesetzesaufhebung durch den Verfassungsgerichtshof.

14       Da das BVwG das angefochtene Erkenntnis - letztlich auch dessen Spruchpunkt A.I. - auf die aufgehobenen Passagen des § 5 VVG gestützt hat, die nach dem Gesagten im Revisionsfall nicht (mehr) anzuwenden sind, war es schon deshalb wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

15       Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. November 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RO2019210007.J01

Im RIS seit

23.02.2021

Zuletzt aktualisiert am

23.02.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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