Entscheidungsdatum
31.07.2020Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W258 2185525-1/13E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Gerold PAWELKA-SCHMIDT über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 27.05.2020 zu Recht:
A) Der Beschwerde wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Bescheid dahingehend abgeändert, dass die Spruchpunkte IV. bis VI. entfallen und es stattdessen zu lauten hat:
IV. Es wird gemäß § 9 Abs 1 iVm Abs 3 BFA-VG festgestellt, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.
V. XXXX , geb. XXXX wird gemäß § 55 Abs 2 Asylgesetz 2005 der Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ bis zum 31.07.2021 erteilt.
B) Die ordentliche Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der damals minderjährige Beschwerdeführer (in Folge kurz „BF1“) stellte am 18.11.2015 gemeinsam mit seiner damals ebenfalls noch minderjährigen Schwester (in Folge kurz „BF3“) und seinem minderjährigen Bruder (in Folge kurz „BF2“) in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz.
In seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 23.11.2015 gab der BF1 an, er sei am XXXX geboren und besitze die Staatsbürgerschaft der Islamischen Republik Afghanistan (in Folge kurz „Afghanistan“). Er spreche Dari, sei schiitischer Moslem und habe für fünf Jahre die Grundschule besucht. Er habe mit seiner Familie Afghanistan verlassen, weil sie Angst vor dem Krieg hatten.
In seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in Folge „belangte Behörde“) am 29.03.2017 gab der nunmehr volljährige BF1 ergänzend an, dass er in Bamyan geboren sei, seit er vier Jahre alt sei, habe er aber mit seiner Familie in Kabul gelebt. Er gehöre der Volksgruppe der Hazara an und habe ca. fünf Jahre als Schneider und Bäcker gearbeitet. Er habe in Begleitung seiner gesamten Familie (Eltern und Geschwister) Afghanistan verlassen. An der iranischen-türkischen Grenze habe er und die BF2 und BF3 den Rest der Familie verloren; sie seien dann alleine bis nach Österreich gekommen. Er gehe davon aus, dass seine Eltern in Iran leben, aber es bestehe kein Kontakt mehr. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF1 zusammenfassend an, dass sein Vater auf Grund seiner Arbeit, seiner Volksgruppenzugehörigkeit und seinem Glauben mehrmals von den Taliban angehalten und auch bedroht worden sei. Zudem sei er auch wegen der allgemein schlechten Sicherheitslage nach Österreich geflohen.
Mit Bescheid vom XXXX wies die belangte Behörde den Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und den Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.) und legte die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.). Begründend führte die belangte Behörde aus, der BF1 habe keine persönliche Verfolgung oder Gefährdung glaubhaft machen können, eine besondere Gefährdung des BF1 liege nicht vor. Aufgrund des Alters, seiner Gesundheit und der Arbeitsfähigkeit des BF1 sei es ihm möglich sich in Kabul erneut niederzulassen, um sich dort eine neue Lebensgrundlage aufzubauen.
Gegen die Spruchpunkte I.-V. des Bescheides wendet sich die gegenständliche Beschwerde des BF1 vom 01.02.2018. Der BF2 sei in seinem Herkunftsstaat aufgrund der prekären und sich stetig verschlechterten Sicherheitslage in Afghanistan vielfältiger individueller Gefahren ausgesetzt. Bei einer Rückkehr des BF1 wäre eine Verletzung von Art 2 und Art 3 EMRK höchstwahrscheinlich. Zudem zeigen Berichte über die Situation von Rückkehrenden, dass das Überleben ohne verlässliche Unterstützung durch bestehende soziale Netzwerke gefährdet sei.
Mit Schriftsatz vom 07.02.2018 legte die belangte Behörde dem erkennenden Gericht die Beschwerde unter Anschluss des Verwaltungsaktes vor.
Mit Schreiben vom 07.02.2018 übermittelte der BF1 weitere Dokumente zu seiner Integration.
In der am 27.05.2020 hg durchgeführten mündlichen Verhandlung wurde der BF1 neuerlich zu seinem Fluchtvorbringen und zu der Beziehung zu seinen Geschwistern in Österreich befragt.
Beweise wurden aufgenommen durch Einvernahme des BF1 und seiner Geschwister (BF2 und BF3) als Partei, der Einvernahme von XXXX (Z1) und XXXX (Z2) als Zeugen sowie Einsicht in den Verwaltungsakt (OZ 1) und in die folgenden Urkunden:
? UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (in Folge kurz „UNHCR“; Beilage ./I),
? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 13.11.2019, letzte Kurzinformation eingefügt am 18.05.2020 (in Folge kurz „LIB“; Beilage ./II),
? EASO – European Asylum Support Office: Country Guidance: Afghanistan; Guidance note and common analysis vom Juni 2019 (in Folge kurz „EASO Country Guidance“; Beilage ./III),
? Auszug aus dem Strafregister vom 29.07.2020 und
? die vorgelegten Beilagen des BF1:
o Schulnachricht 2017/18,
o Urkunde der Bezirksmeisterschaft im Ringen, Inn/Chiem 2018,
o Zeitungsausschnitt Bezirksblatt Mistelbach,
o Bestätigung über die Teilnahme am Vereinstraining bei Union West Wien (Sektion Ringen),
o ÖSD Zertifikat A1 Deutsch und
o zwei Lichtbilder, die den BF1 bei Siegerehrungen zeigen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Der folgende Sachverhalt steht fest:
1.1. Zur individuellen Situation des BF1:
1.1.1. Allgemeines:
Der männliche, volljährige und ledige BF1 ist afghanischer Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Hazara und der Konfession der schiitischen Moslems an. Seine Muttersprache ist Dari.
Er wurde am XXXX in der Provinz Bamiyan geboren, übersiedelte im Alter von vier Jahren mit seiner Familie in die Stadt Kabul und hat dort bis zur Ausreise im Jahr 2015 zusammen mit seiner Kernfamilie gelebt. Er hat in Afghanistan fünf Jahre die Grundschule besucht und danach etwa fünf Jahre Berufserfahrung als Schneider- und Bäckerlehrling gesammelt.
Die Kernfamilie des BF1 besteht aus seinen Eltern, drei Brüdern und drei Schwestern, wobei er mit zwei Geschwistern (B2 und B3) gemeinsam in Österreich wohnhaft ist. Die Familie reiste im Herbst 2015 aus Afghanistan aus und wurde an der iranischen-türkischen Grenze getrennt. Der BF1 gelangte gemeinsam mit BF2 und BF3 nach einem ca. dreimonatigen Aufenthalt in der Türkei weiter bis nach Österreich, wo sie gemeinsam am 18.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben. Der Aufenthaltsort der restlichen Familienmitglieder, zu denen kein Kontakt besteht, ist unbekannt. Es leben keine weiteren Verwandten der BF in Afghanistan.
Zum Zeitpunkt der Einreise und Stellung des Asylantrags am 18.11.2015 waren der BF1 16 Jahre, der BF2 7 Jahre und die BF3 17 Jahre alt.
Der BF1 besucht in Österreich eine Landwirtschaftliche Fachschule. Er versteht und spricht einfaches Deutsch. Der BF1 verfügt mittlerweile über einen großen Freundeskreis in Österreich. Er konsumiert gelegentlich Alkohol. Er ist seit drei Jahren aktives Mitglied in einem Ringsportverein (Union West-Wien) und erzielte als Ringer bereits erste Erfolge bei Wettkämpfen. Zudem verbringt er seine Freizeit gerne mit Freunden, geht ins Fitnesscenter und spielt mit seinem Bruder und Freunden Fußball. Er hat einmal eine gemeinnützige Tätigkeit in der Gemeinde übernommen. Der BF1 ist nicht selbsterhaltungsfähig.
Der BF1 leidet an keinen körperlichen oder psychischen Erkrankungen, er muss keine Medikamente nehmen und ist gesund und arbeitsfähig.
Der BF1 hat auf seinem linken Unterarm einen Wolf tätowiert, der beinahe seinen gesamten Unterarm umfasst.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der BF3 wurde mit hg Erkenntnis vom 24.07.2020, GZ 2190621-1/16E, der Status einer Asylberechtigten zuerkannt und dem BF2 wurde mit hg Erkenntnis vom 29.07.2020, GZ 2190616-1/8E, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm ein befristeter Aufenthaltstitel bis zum 29.07.2021 erteilt.
1.1.2. Zur Beziehung der BF zueinander:
Die BF1 und BF3 haben nach der Trennung vom Rest der Familie auf der weiteren Flucht die Elternrolle für den – nunmehr – zwölfjährigen BF2 übernommen und einander unterstützt. Während die BF3 auf die Familie aufgepasst hat, indem sie ua den BF1 von Auseinandersetzungen mit Dritten abgehalten hat, für die Familie die Kleidung gewaschen und zum Teil gekocht hat sowie psychische und emotionale Unterstützung geleistet hat, hat der BF1 für Nahrungsmittel gesorgt sowie den BF2 und das Gepäck der Familie getragen. In der Nacht haben der BF1 und die BF3 abwechselnd Wache gehalten. Der BF1 hat weiters, weil am Fluchtweg auch viele andere Männer unterwegs waren, die Rolle des „männlichen Beschützers“ für die BF3 übernommen.
In Österreich leben der BF1 und seine Geschwister BF2 und BF3 in einem gemeinsamen Haushalt. Zwischen den Geschwistern besteht eine innige und vertraute Beziehung. Die BF3 kümmert sich emotional und im Alltag (Wäsche, kochen, Haushalt, Freizeitgestaltung, etc.) um ihre Brüder, insbesondere um den noch minderjährigen BF2. Sie verwaltet das Geld des BF2. Manchmal unterstützt sie den BF1 finanziell. Auch der BF1 ist eine wichtige Bezugsperson für den BF2; er ist an jenen emotional gebunden. Der BF1 hilft dem BF2 bei der Hausübung, geht mit ihm Fußball spielen und ist ein Vorbild für den BF2. Der BF2 zeigt sich aber auch gegenüber seinem Bruder besorgt, beispielsweise wenn dieser Alkohol trinkt.
Weder dem BF1 noch der BF3 wurde die Obsorge für den BF2 übertragen. Rechtliche Angelegenheiten übernehmen für den BF2 nicht der BF1 oder die BF3, sondern Frau XXXX .
1.1.3. Zum Fluchtvorbringen:
Der Vater der BF hat als Fahrer für eine nicht näher bekannte Firma gearbeitet. Auf Grund seiner Tätigkeit für die Firma als auch auf Grund seiner Volksgruppenzugehörigkeit wurde er von den Taliban aufgefordert, seine Tätigkeit aufzugeben, was er wenige Wochen vor der Ausreise seiner Familie aus Afghanistan getan hat. Die Familie hat Afghanistan letztlich verlassen, weil der Vater der BF nicht wusste, wie er andere Arbeit finden könne.
Die BF selbst wurden in Afghanistan individuell weder bedroht noch kam es zu Übergriffen auf sie.
1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat des BF1:
1.2.1. Allgemeines (LIB Kapitel 3.):
1.2.1.1. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil, nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten. Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt – dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen. Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban.
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren. Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten. Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten. Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren. Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19 % im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. – 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen. Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten.
So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet. In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten. So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit – insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan.
Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5 %, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte.
Für den Berichtszeitraum 10.05. – 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle – eine Zunahme von 1 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63 % Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert. Für den Berichtszeitraum 08.02 – 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle – ein Rückgang von 7 % gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist.
Für den Berichtszeitraum 10.05. – 08.08.2019 sind 56 % (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7 % im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17 %. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44 % verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet – 57 % mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018.
Im Gegensatz dazu, registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit 29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge.
Von Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56 % auf 54 % der Distrikte ab, die Kontrolle bzw der Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15 % auf 12 %. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29 % auf 34 %. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5 % zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6 % der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand.
Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39 % der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37 % von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20 % der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4 % der Distrikte.
Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation. Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen. Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet.
1.2.1.2. Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. – 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) – dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41 % der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September – im Gegensatz zu 2019 – von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge).
Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) berichtet bzw dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5 % bzw 11 % bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl – Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) – 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24 % gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt.
Sowohl im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen. Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 High-Profile Angriffe (HPAs) in Kabul statt (Vorjahreswert: 73), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs.
Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge.
1.2.1.3. In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv – insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität.
1.2.2. Zur Sicherheits- und Versorgungslage in der Heimatregion des BF1, Kabul Stadt:
Die Provinz Kabul liegt im Zentrum Afghanistans. Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und auch ein Distrikt in der Provinz Kabul. Die Stadt Kabul ist die bevölkerungsreichste Stadt Afghanistans, sie hat 5.029.850 Einwohner. Kabul ist Zielort für verschiedene ethnische, sprachliche und religiöse Gruppen, und jede von ihnen hat sich an bestimmten Orten angesiedelt. Die Stadt Kabul ist über Hauptstraßen mit den anderen Provinzen des Landes verbunden und verfügt über einen internationalen Flughafen (LIB, Kapitel 2.2).
Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul. Nichtsdestotrotz, führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen, im gesamten Jahr 2018, als auch in den ersten fünf Monaten 2019, insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele durch, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen. Im Jahr 2019 gab es 1.563 zivile Opfer (261 Tote und 1.302 Verletzte) in der Provinz Kabul. Dies entspricht einem Rückgang von 16% gegenüber 2018. Die Hauptursache für die Opfer waren Selbstmordangriffe, gefolgt von improvisierten Sprengkörpern (improvised explosive devices, IEDs; ohne Selbstmordattentate) und gezielten Tötungen (LIB, Kapitel 2.2).
Die Angriffe richteten sich hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung, darunter die zivile Regierungsverwaltung, Gebetsstätten, Bildungseinrichtungen, Wahlorte und andere „weiche“ Ziele. Beispiele für Vorfälle sind mehrere komplexe Angriffe der ISKP, bei denen Zivilisten, vor allem die schiitische Bevölkerung, getötet und verletzt wurden; zum Beispiel ein Angriff auf ein Wählerregistrierungszentrum im Hazara-dominierten Viertel Dasht-e-Barchi und ein Selbstmordanschlag in der Nähe des Karte-Sakhi-Schreins, wo sich Hunderte, viele von ihnen Schiiten, versammelt hatten, um den Beginn von Nowruz, dem Neujahrsfest, zu feiern. Die Taliban führten 2018 auch in der Provinzhauptstadt Angriffe durch, bei denen Zivilisten getötet und verwundet wurden. Der prominenteste Sicherheitsvorfall ereignete sich Ende Januar 2018, als ein Lieferwagen, der wie ein Krankenwagen aussah, vor einem Regierungsgelände explodierte und 114 Zivilisten tötete und 229 Zivilisten verwundete. Die Taliban verübten auch einen Angriff auf das Hotel Intercontinental sowie Angriffe auf Wahllokale (EASO Country Guidance, S 102).
Im Zeitraum vom 1. Januar 2018 bis 28. Februar 2019 wurde keine Vertreibung aus der Hauptstadt verzeichnet, allerdings wurden 10 430 Personen in die Stadt vertrieben. Die in Kabul ankommenden und ansässigen Binnenvertriebenen üben zusätzlichen Druck auf die Gemeinschaft, die Grundversorgung und die soziale Infrastruktur aus, was die Aufnahmekapazität der Stadt stark beeinträchtigt. UNOCHA stuft die Hauptstadt Kabul in die höchste Kategorie der Konfliktschwere ein. Ein Blick auf die Indikatoren lässt den Schluss zu, dass in der Provinz Kabul und in der Stadt Kabul willkürliche Gewalt stattfindet, jedoch nicht auf einem hohen Niveau, und dementsprechend ist ein höheres Niveau einzelner Elemente erforderlich, um stichhaltige Gründe für die Annahme aufzuzeigen, dass eine Zivilperson, die in das Gebiet zurückgekehrt ist, tatsächlich der Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Artikel 15 Buchstabe c QD ausgesetzt wäre (EASO Country Guidance, S 102).
Die Wirtschaft der Provinz Kabul hat einen weitgehend städtischen Charakter, wobei die wirtschaftlich aktive Bevölkerung in Beschäftigungsfeldern, wie dem Handel, Dienstleistungen oder einfachen Berufen tätig ist. Kabul-Stadt hat einen hohen Anteil an Lohnarbeitern, während Selbstständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten Afghanistans weniger verbreitet ist. Zu den wichtigsten Arbeitgebern in Kabul gehört der Dienstleistungssektor, darunter auch die öffentliche Verwaltung. Die Gehälter sind in Kabul im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen, insbesondere für diejenigen, welche für ausländische Organisationen arbeiten. Kabul ist das wichtigste Handels- und Beschäftigungszentrum Afghanistans und hat ein größeres Einzugsgebiet in den Provinzen Parwan, Logar und Wardak. Menschen aus kleinen Dörfern pendeln täglich oder wöchentlich nach Kabul, um landwirtschaftliche Produkte zu handeln oder als Wachen, Hausangestellte oder Lohnarbeiter zu arbeiten (LIB, Kapitel 20).
Ergebnisse einer Studie ergaben, dass Kabul unter den untersuchten Provinzen den geringsten Anteil an Arbeitsplätzen im Agrarsektor hat, dafür eine dynamischere Wirtschaft mit einem geringeren Anteil an Arbeitssuchenden, Selbständigen und Familienarbeitern. Die besten (Arbeits-)Möglichkeiten für Junge existieren in Kabul. Trotz der niedrigeren Erwerbsquoten ist der Frauenanteil in hoch qualifizierten Berufen in Kabul am größten (49,6 Prozent) (LIB, Kapitel 20).
Hinsichtlich der Lebensmittelversorgung hat im Dezember 2018 FEWS Kabul als „unter Druck stehend“ bezeichnet, was bedeutet, dass selbst mit humanitärer Hilfe mindestens ein Fünftel der Haushalte zwar über ein Minimum an angemessenen Lebensmitteln verfügte, jedoch „nicht in der Lage war, sich einige wesentliche Non-Food-Artikel zu leisten, ohne Bewältigungsstrategien mit unumkehrbaren Folgen anzuwenden“ (EASO Country Guidance, S 132).
Laut einer Studie des International Growth Centre (IGC) lebten schätzungsweise 70 % der Bevölkerung in Kabul in informellen Siedlungen, die definiert sind als „Wohngebiete, die entweder auf Grundstücken errichtet wurden, auf die die Bewohner keinen Rechtsanspruch haben, und/oder Gebiete mit Wohneinheiten, die nicht den Planungs- und Bauvorschriften entsprechen“. Der größte Teil der Neubauten in der Stadt fällt unter diese Kategorie, und die Bevölkerungsdichte in informellen Gebieten kann mehr als doppelt so hoch sein wie in offiziellen Wohngebieten. Nach Angaben des IGC „bieten informelle Siedlungen in Kabul in erheblichem Umfang günstigen Wohnraum für die meisten Einwohner der Stadt“. Laut Fabrizio Foschini haben informelle Siedlungen zwar eine größere Obdachlosigkeitskrise verhindert, doch verschärfe das ungezügelte Wachstum bestehende Probleme wie das Fehlen von Abwassersystemen und die ineffiziente Müllentsorgung. Schlecht gebaute Häuser an Orten mit eingeschränkter Zugänglichkeit „haben die Not der in diesen Gebieten lebenden Rückkehrer, Wirtschaftsmigranten und Binnenvertriebenen noch verschlimmert“. Ein Programm „Stadt für alle“, das von der Regierung durchgeführt und von UN-Habitat unterstützt wird, untersuchte Immobilien in Kabul und stellte fest, dass es nur für 14 % hiervon eine förmliche Eigentumsurkunde gibt, was niedriger ist als in anderen Provinzstädten (17 %). Der Kaufpreis für formellen Wohnraum in Kabul lag bei etwa 35.000 bis 500.000 USD, während das durchschnittliche monatliche Haushaltseinkommen in Kabul und der Region Zentrum im Jahr 2017 auf 208 USD geschätzt wurde. Das Mieten von Wohnraum nimmt in den städtischen Gebieten Afghanistans zwar zu, gilt aber nur in Kabul als gängige Praxis. Von den privaten Haushalten in Kabul besitzen etwa 64,9 % ihre Wohnung und 27,6 % leben zur Miete. Laut dem Analysten Foschini gibt es bei Neusiedlern die Tendenz, sich an ihrem Herkunftsort niederzulassen, was ihnen die Möglichkeit gibt, in den Genuss von qawmi, nämlich Unterstützung durch ihre sozialen Netzwerke für die Nutzung und den Erhalt von Grundstücken zu erhalten. Viele städtische Haushalte beherbergen Mitglieder ihrer Großfamilie aus ländlichen Gebieten, die in die Stadt gekommen sind, um Arbeit zu suchen, vor allem in Kabul. Solche Haushalte sind in der Regel generationenübergreifend und geben auch älteren Verwandten Unterkunft. Die Bereitstellung von Grundversorgungsleistungen wie Wasser, Abwasser und Strom war für die wachsenden informellen Siedlungen, die sich in den zentral gelegenen Hügeln von Kabul herausgebildet haben, schwierig (grundsätzlich in EASO Country Guidance, S 132 f, der auf die hier zitierten detaillierteren Angaben in EASO COI Reports, Key socio-economic indicators, S 65 ff verweist).
Die 2017 durchgeführte Survey of the Afghan People der Asia Foundation ergab, dass signifikante Anteile der in Kabul und anderen zentralen Gebieten lebenden Afghanen (23,7 %) Probleme mit Trinkwasser als eines der größten Probleme vor Ort angaben. Die Stadt Kabul ist nach wie vor eine der wenigen Hauptstädte der Welt ohne zentrale Kanalisation. In der Folge kam es zu entsprechenden Problemen im Bereich Umweltverschmutzung und Gesundheit, die durch den starken Bevölkerungszuwachs, aber auch durch Verschmutzungen, vor allem den Fahrzeugverkehr, noch verschärft wurden. Anstelle eines Abwassersystems werden einzelne Klärgruben verwendet, die sich oft in der Nähe von Wasserbrunnen befinden. Das Austreten von Abwasser in das Grundwasser gilt als Hauptursache für die Wasserverunreinigung in der Stadt. Kabul gilt als eine der Städte weltweit, in denen das Wasser am knappsten ist. Der Grundwasserspiegel ist in den letzten Jahren aufgrund der gestiegenen Wassernachfrage und des übermäßigen Abpumpens stark gesunken. Die meisten der gemeinsam genutzten Wasserstellen und Brunnen in der Hauptstadt sind mit Haushalts- und Industrieabwässern verseucht, die in den Fluss Kabul eingeleitet wurden, was schwerwiegende gesundheitliche Probleme mit sich bringt. In der ALCS 2016/17 wurde festgestellt, dass fast die Hälfte der Bevölkerung in Kabul über grundlegende Sanitäranlagen verfügt, d. h. eine Anlage, die nicht mit anderen geteilt wird und bei der die Exkremente entweder sicher entsorgt oder entfernt werden. Der Wasserverbrauch in Kabul hat unhaltbar zugenommen, was zu einem eklatanten Ungleichgewicht zwischen Wasserverfügbarkeit und Wassernachfrage geführt hat. Die Qualität des Grundwassers hat sich verschlechtert, so dass der Zugang zu sauberem Wasser immer schwieriger wird. Der jährliche Wasserbedarf wird auf mehr als 32 Millionen m³ geschätzt, während die Grundwasseranreicherung im Einzugsgebiet des Flusses Kabul, auf den die Stadt für ihre Wasserversorgung vollständig angewiesen ist, auf weniger als 28 Millionen m³ gesunken ist. Die Wasserversorgungs- und Abwasserentsorgungsgesellschaft Afghanistans (AUWSSC) schätzt, dass nur 32 % der Bevölkerung von Kabul Zugang zu fließendem Wasser haben und nur 10 % der Einwohner Trinkwasser erhalten. Das unzureichende Wassersystem der Stadt zwingt die Menschen, die es sich leisten können, eigene Brunnen zu bohren. Viele in den Vororten und auf den felsigen Hügeln der Stadt lebende arme Einwohner von Kabul hängen von öffentlichen Wasserhähnen ab, die oft weit von ihren Häusern entfernt sind. In der Regel ist das Wasserholen Aufgabe junger Kinder, oft der Mädchen. Nach Angaben der AUWSSC gab es 2018 etwa 72 private Unternehmen, die Tausende von Familien in der Stadt Kabul illegal mit Wasser beliefern (grundsätzlich in EASO Country Guidance, S 133, der auf die hier zitierten detaillierteren Angaben in EASO COI Reports, Key socio-economic indicators, S 65 ff verweist).
1.2.3. Zur Lage der Hazara in Afghanistan:
1.2.3.1. Allgemeines (LIB Kapitel 16.1. und 17.3.):
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 9 bis 10 % der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt; der Hazaradjat [zentrales Hochland] umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz (Maidan) Wardak sowie Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pul. Jahrzehntelange Kriege und schwierige Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Hazara leben hauptsächlich in den zentralen und westlichen Provinzen sowie in Kabul.
Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild. Ethnische Hazara sind mehrheitlich Zwölfer-Schiiten, auch bekannt als Jafari Schiiten. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradjat lebt, ist ismailitisch.
Für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara hat sich die Lage grundsätzlich gebessert.
1.2.3.2. Umgang des Afghanischen Staates mit Hazara:
Die Verfassung garantiert die „Gleichheit aller ethnischen Gruppen und Stämme“ (UNHCR 30.08.2018 S 104). Hazara bekleiden inzwischen auch prominente Stellen in der Regierung und im öffentlichen Leben, sie sind jedoch in der öffentlichen Verwaltung nach wie vor unterrepräsentiert. Sie werden am Arbeitsmarkt diskriminiert. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung. Nichtsdestotrotz genießt die traditionell marginalisierte schiitische muslimische Minderheit, zu der die meisten ethnischen Hazara gehören, seit 2001 eine zunehmende politische Repräsentation und Beteiligung an nationalen Institutionen (LIB Kapitel 17.3.).
Die Regierung hat Pläne zur Verstärkung der Präsenz der afghanischen Sicherheitskräfte verlautbart (LIB Kapitel 17.3.).
Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitische Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demografischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiert. Vertreter der Sunniten hingegen geben an, dass Schiiten im Vergleich zur Bevölkerungszahl in den Behörden überrepräsentiert seien. Einige Mitglieder der ismailitischen Gemeinschaft beanstanden die vermeintliche Vorenthaltung von politischen Posten; wenngleich vier Parlamentssitze für Ismailiten reserviert sind (LIB Kapitel 16.1.).
Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die ua dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime 25 bis 30 %. Des Weiteren tagen regelmäßig rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB Kapitel 16.1.).
Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10 % in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert. NGOs berichten, dass Polizeibeamte, die der Hazara-Gemeinschaft angehören, öfter als andere Ethnien in unsicheren Gebieten eingesetzt werden oder im Innenministerium an symbolische Positionen ohne Kompetenzen befördert werden (LIB Kapitel 17.3.).
1.2.3.3. Umgang anderer ethnischer Gruppen mit Hazara (LIB Kapitel 16.1. und 17.3.):
Die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara, basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten, finden ihre Fortsetzung in Erpressung (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Inhaftierung.
Hazara neigen sowohl in ihren sozialen, als auch politischen Ansichten dazu, liberal zu sein, was im Gegensatz zu den Ansichten sunnitischer Militanter steht. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen führen weiterhin zu Konflikten und Tötungen (LIB Kapitel 17.3.).
In Randgebieten des Hazaradjat kommt es immer wieder zu Spannungen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Nomaden und sesshaften Landwirten, oftmals Hazara.
1.2.3.4. Umgang von Taliban und anderer regierungsfeindlicher Kräfte mit Hazara:
In jüngerer Zeit stiegen die Fälle von Schikanierung, Einschüchterung, Entführung und Tötung von Hazara durch Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (UNHCR 30.08.2018 S 107). Berichten zufolge halten Angriffe durch den ISKP und andere aufständische Gruppierungen auf spezifische religiöse und ethno-religiöse Gruppen – inklusive der schiitischen Hazara – an (LIB Kapitel 17.3.)
Im Jahr 2018 gab es 19 Fälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten, bei denen 223 Menschen getötet und 524 Menschen verletzt wurden; ein zahlenmäßiger Anstieg der zivilen Opfer um 34 %. In den Jahren 2016, 2017 und 2018 wurden durch den Islamischen Staat (IS) und die Taliban 51 terroristischen Angriffe auf Glaubensstätten und religiöse Anführer der Schiiten bzw Hazara durchgeführt. Im Jahr 2018 wurde die Intensität der Attacken in urbanen Räumen durch den IS verstärkt (LIB Kapitel 16.1.). Angriffe gegen Schiiten, davon vorwiegend gegen Hazara, forderten im Zeitraum 01.01.2018 bis 30.09.2018 211 Todesopfer. Das von schiitischen Hazara bewohnte Gebiet Dasht-e Barchi in Westkabul ist immer wieder Ziel von Angriffen. Angriffe werden auch als Vergeltung gegen mutmaßliche schiitische Unterstützung der iranischen Aktivitäten in Syrien durchgeführt (LIB Kapitel 17.3.).
1.2.4. Zur Lage von Schiiten in Afghanistan (LIB Kapitel 16.1.):
Der Anteil schiitischer Muslime an der Bevölkerung wird auf 10 bis 19 % geschätzt. Zuverlässige Zahlen zur Größe der schiitischen Gemeinschaft sind nicht verfügbar und werden vom Statistikamt nicht erfasst. Gemäß Gemeindeleitern sind die Schiiten Afghanistans mehrheitlich Jafari-Schiiten (Zwölfer-Schiiten), 90 % von ihnen gehören zur ethnischen Gruppe der Hazara. Unter den Schiiten gibt es auch Ismailiten.
Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind in Afghanistan selten. die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit ist zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen.
1.2.5. UNHCR Risikoprofile:
UNHCR ist der Auffassung, dass Personen, die einem oder mehreren in diesem Abschnitt beschriebenen Risikoprofilen entsprechen, abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles möglicherweise internationalen Schutz benötigen. Die Aufzählung der hier aufgeführten Profile ist nicht unbedingt vollständig; sie beruhen auf dem Kenntnisstand von UNHCR auf Grundlage der zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Richtlinien vorliegenden Informationen. (UNHCR, Kapitel III).
? Angehörige religiöser Minderheiten und Personen, die angeblich gegen die Scharia verstoßen
Schiiten
Laut Vertretern der Schiiten steht die Anzahl der schiitischen Parlamentsmitglieder nicht in einem angemessenen Verhältnis zum Anteil der Schiiten an der Gesamtbevölkerung. Während einige Quellen angeben, dass die offene Diskriminierung der Schiiten durch die Sunniten abgenommen habe, berichten andere, dass eine derartige Diskriminierung an bestimmten Orten weitergehe. Regierungsfeindliche Kräfte betrachten Schiiten Berichten zufolge als „Ungläubige“, „Abtrünnige“ oder „Halb-Muslime“. Ferner wird berichtet, dass die gewalttätigen Angriffe regierungsfeindlicher Kräfte gegen die schiitische Bevölkerung seit 2016 beträchtlich zugenommen haben. Diese Angriffe erfolgten in Form von Verschleppungen und Entführungen, gezielten Tötungen, Angriffen auf Schiiten an Gebetsstätten oder in Dörfern sowie komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen. Es ist darauf hinzuweisen, dass ethnische Zugehörigkeit und Religion in Afghanistan oftmals untrennbar miteinander verbunden sind, insbesondere in Bezug auf die vorwiegend schiitische ethnische Gruppe der Hazara. Daher kann oftmals nicht eindeutig zwischen einer Diskriminierung und Misshandlung aufgrund der Religion einerseits und Diskriminierung und Misshandlung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit andererseits unterschieden werden (UNHCR, Kapitel III).
? Angehörige ethnischer (Minderheiten-)Gruppen
Die Bevölkerung Afghanistans besteht aus mehreren unterschiedlichen ethnischen Gruppen, die traditionell ein hohes Maß an Autonomie gegenüber der Zentralregierung besitzen. Infolge verschiedener historischer Bevölkerungsbewegungen in der Vergangenheit – freiwilliger und erzwungener Art – wohnen einige Angehörige ethnischer Gruppen mittlerweile außerhalb der Gebiete, in denen sie traditionell der Mehrheit angehörten. Daher können Personen, die einer der größten ethnischen Gruppe des Landes angehören, tatsächlich an ihrem Wohnort zu einer ethnischen Minderheit gehören und dementsprechend aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit mit Diskriminierung oder Misshandlungen an ihrem Wohnort konfrontiert sein. Hingegen besteht möglicherweise für ein Mitglied einer ethnischen Gruppe oder eines Clans, der bzw. die auf nationaler Ebene eine Minderheit darstellt, kein Risiko aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit in Gebieten diskriminiert zu werden, in denen diese ethnische Gruppe bzw. dieser Clan lokal die Mehrheit bildet (UNHCR, Kapitel III).
Es sei ferner darauf hingewiesen, dass ethnische Zugehörigkeit und Religion oftmals untrennbar miteinander verbunden sind, insbesondere in Bezug auf die ethnische Gruppe der Hazara, die vorwiegend schiitisch ist. Daher ist es nicht immer möglich, zu unterscheiden, ob Religion oder die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe als primärer Grund für Vorfälle oder Spannungen anzusehen ist. Da die politische Zugehörigkeit wiederum oftmals von der ethnischen Zugehörigkeit abhängt, können (vermeintliche) politische Überzeugungen und ethnische Zugehörigkeit untrennbar miteinander verbundene Elemente in Konflikten und Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen sein (UNHCR, Kapitel III).
Es bestehen weiterhin starke Trennlinien zwischen den unterschiedlichen ethnischen Gruppen in Afghanistan. Im „Peoples under Threat”-Index von Minority Rights Group International ist Afghanistan als fünftgefährlichstes Land der Welt für ethnische Minderheiten aufgeführt, insbesondere aufgrund der gezielten Angriffe auf Personen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe und Religion. Der Index weist insbesondere Hazara, Paschtunen, Tadschiken, Usbeken, Turkmenen und Belutschen als gefährdete ethnische Gruppe in Afghanistan aus. Die Verfassung garantiert die „Gleichheit aller ethnischen Gruppen und Stämme“. Dennoch klagen Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen über Diskriminierung von staatlicher Seite auch in Form von ungleicher Behandlung bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst und beim Zugang zu medizinischer Versorgung in Gebieten, in denen sie eine Minderheit darstellen (UNHCR, Kapitel III).
Hazara
Von den Hazara wird berichtet, dass sie weiterhin gesellschaftlich diskriminiert und gezielt durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, körperliche Misshandlung und Inhaftierung erpresst werden. Hazara, die überwiegend Schiiten sind, wurden bereits in der Vergangenheit durch die sunnitische Bevölkerungsmehrheit ausgegrenzt und diskriminiert. Seit dem Ende des Taliban-Regimes im Jahr 2001 haben sie Berichten zufolge erhebliche wirtschaftliche und politische Fortschritte gemacht, doch mehren sich seit den letzten Jahren Berichten zufolge die Fälle von Schikanen, Einschüchterung, Entführung und Tötung durch die Taliban, den Islamischen Staat und andere regierungsfeindliche Kräfte (UNHCR, Kapitel III).
1.2.5.1. Individuen, die als „verwestlicht“ wahrgenommen werden (EASO Country Guidance, Kapitel 2, Pkt 13):
Dieses Profil bezieht sich auf Personen, die z.B. aufgrund ihres Verhaltens, ihres Aussehens und ihrer ausgedrückten Meinungen als „verwestlicht“ wahrgenommen werden, die als nicht afghanisch angesehen werden. Dazu können auch Personen gehören, die nach einem Aufenthalt in westlichen Ländern nach Afghanistan zurückkehren.
Allgemein lässt sich sagen, dass Afghanen, die sich mit westlichen Werten identifizieren, von aufständischen Gruppen ins Visier genommen werden können, da sie als unislamisch oder regierungsfreundlich wahrgenommen oder als Spione betrachtet werden können.
Was die Gesellschaft betrifft, so sollte hinsichtlich der Einstellungen gegenüber Männern einerseits und Frauen andererseits unterschieden werden.
Afghanische Frauen und Kinder, die sich an die Freiheiten und die Unabhängigkeit im Westen gewöhnt haben, können Schwierigkeiten haben, sich an die sozialen Einschränkungen Afghanistans anzupassen. Frauen können auch als „verwestlicht“ angesehen werden, wenn sie außer Haus arbeiten oder eine höhere Bildung haben. Frauen, die als „verwestlicht“ wahrgenommen werden, können als gegen kulturelle, soziale und religiöse Normen verstoßend empfunden werden und Gewalt von Seiten ihrer Familie, konservativer Elemente in der Gesellschaft und Aufständischer ausgesetzt sein.
In Bezug auf Männer sind die gesellschaftlichen Einstellungen gegenüber „verwestlichten“ Individuen gemischt. Es werden nur sehr wenige Fälle von Vorfällen im Zusammenhang mit „Verwestlichung“ gemeldet.
Die Gesellschaft, meist in Städten (z.B. Kabul), ist für westliche Ansichten offen, während andere Personen, meist in ländlichen oder konservativen Umgebungen, dagegen sind.
Risikoanalyse
Die Handlungen, denen Personen unter diesem Profil ausgesetzt sein könnten, könnten insbesondere für Frauen auf Verfolgung hinauslaufen (z.B. Gewalt durch Familienmitglieder, konservative Elemente in der Gesellschaft und Aufständische).
Nicht alle Personen unter diesem Profil wären einem Risiko ausgesetzt, das erforderlich ist, um eine begründete Furcht vor Verfolgung zu begründen. Bei der individuellen Beurteilung der Frage, ob für den Antragsteller ein vernünftiges Maß an Wahrscheinlichkeit besteht, dass er Verfolgung ausgesetzt ist, sollten risikobehaftete Umstände berücksichtigt werden, wie z.B.: Geschlecht (das Risiko ist für Frauen höher), das Verhalten des Antragstellers, Herkunftsgebiet (insbesondere in ländlichen Gebieten), konservatives Umfeld, Wahrnehmung traditioneller Geschlechterrollen durch die Familie, Alter (es kann für Kinder schwierig sein, sich an die sozialen Einschränkungen Afghanistans (wieder) anzupassen), Sichtbarkeit des Antragstellers usw.
Im Allgemeinen ist das Verfolgungsrisiko für Männer, die als „verwestlicht“ wahrgenommen werden, minimal und hängt von den spezifischen individuellen Umständen ab.
Zusammenhang mit einem Verfolgungsgrund
Die verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass bei diesem Profil die individuellen Umstände des Antragstellers berücksichtigt werden müssen, um festzustellen, ob ein Zusammenhang mit einem Verfolgungsgrund nachgewiesen werden kann oder nicht.
In Einzelfällen könnte ein Zusammenhang mit der Religion und/oder der (unterstellten) politischen Meinung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hergestellt werden (z.B. könnten „verwestlichte“ Frauen als eine bestimmte soziale Gruppe angesehen werden, die auf einem gemeinsamen Merkmal oder einer gemeinsamen Überzeugung beruht, die so grundlegend für die Identität oder Gewissen, dass sie nicht gezwungen werden sollten, darauf zu verzichten, und auf der Grundlage ihrer eigenen Identität in der umgebenden Gesellschaft).
1.2.6. Grundversorgung:
Afghanistan ist nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt und stark von internationalen Hilfsgeldern abhängig. Dabei bleibt das Gefälle zwischen urbanen Zentren und ländlichen Gebieten Afghanistans eklatant. Lebensgrundlage für rund 80% der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (LIB, Kapitel 20).
1.2.6.1. Arbeitsmarkt:
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Persönliche Kontakte, Empfehlungen sowie ein Netzwerk sind wichtig um einen Job zu finden. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Ebenso korreliert ein Mangel an Bildung mit Armut, wobei ein niedriges Bildungsniveau und Analphabetismus immer noch weit verbreitet sind. In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit (LIB, Kapitel 20).
In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5% der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen auf negative Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderehen, Kinderarbeit und Betteln zurück, von denen insbesondere Binnenvertriebene betroffen sind. Der Zugang zu einer produktiven oder entgeltlichen Beschäftigung ist begrenzt, 80% der Beschäftigung gelten als anfällig und unsicher in Form von Selbst- oder Eigenbeschäftigung, Tagarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (rund 20%), während sie im Winter 32,5% erreichen kann (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
Aufgrund der COVID-19 Maßnahmen der afghanischen Regierung sorgen sich zehntausende Tagelöhner in Kabul und Herat um ihre Existenz. UNICEF zufolge, arbeiten allein in Kabul mindestens 60.000 Kinder, um das Familieneinkommen zu ersetzen. Offiziellen Schätzungen zufolge können z.B. in Herat-Stadt 150.000 Tagelöhner aufgrund des Lockdowns nicht arbeiten und haben somit kein Einkommen. Weil es in Herat an Ressourcen mangelt, um Hunderttausende zu ernähren, nimmt die Bevölkerung die Bedrohung durch das Virus nicht ernst. Zwar hat die Bevölkerung anfangs großzügig gespendet, aber auch diese Spenden werden weniger, nachdem die langfristigen wirtschaftlichen Auswirkungen auf Unternehmen sichtbar werden (LIB, Landesspezifische Anmerkungen COVID-19).
1.2.6.2. Lebensmittelversorgung:
Im Zeitraum von 2016 bis 2017 waren 44,6% der afghanischen Bevölkerung – 13 Millionen Menschen – sehr stark bis mäßig von Lebensmittelunsicherheit betroffen. In allen Wohnbevölkerungsgruppen war seit 2011 ein Anstieg festzustellen, wobei der höchste Anstieg in den ländlichen Gebieten zu verzeichnen war. Während der Winterpflanzsaison von Dezember 2017 bis Februar 2018 erlebte Afghanistan eine längere Dürreperiode. UNOCHA stellte fest, dass mehr als zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung von der Dürre im Jahr 2018 betroffen waren, Gesundheitsprobleme verursachten, negative Bewältigungsmechanismen auslösten und die Einkommen um die Hälfte reduzierten. Das Hungerfrühwarnsystem (FEWS) bezeichnete sowohl Kabul als auch Mazar-e Sharif im Dezember 2018 als „gestresst“, was bedeutet, dass selbst mit humanitärer Hilfe mindestens einer von fünf Haushalten einen minimal angemessenen Nahrungsmittelkonsum hatte, sich aber "einige wesentliche Ausgaben für andere als Nahrungsmittel nicht leisten konnte, ohne irreversible Bewältigungsstrategien zu verfolgen". Herat wurde in die Kategorie "Krise" eingestuft, was bedeutet, dass trotz humanitärer Hilfe mindestens einer von fünf Haushalten Lücken beim Nahrungsmittelverbrauch oder eine akute Unterernährung über dem üblichen Niveau aufwies oder nur geringfügig in der Lage war, den Mindestnahrungsmittelbedarf zu decken (EASO, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.2.6.3. Wohnraum:
Afghanistans jährliche Wachstumsrate der städtischen Bevölkerung gehört zu den höchsten der Welt. Kabul war das Zentrum des Wachstums, und der Rest der städtischen Bevölkerung konzentriert sich hauptsächlich auf vier andere Stadtregionen: Herat, Mazar-e Sharif, Kandahar und Jalalabad. Die große Mehrheit (72%, basierend auf ALCS-Zahlen für 2016-2017) der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums oder in ungenügenden Wohnungen. 86% der städtischen Häuser in Afghanistan können (gemäß der Definition von UN-Habitat) als Slums eingestuft werden. Der Zugang zu angemessenem Wohnraum stellt für die Mehrheit der Afghanen in den Städten eine große Herausforderung dar. Laut einer Untersuchung des International Growth Centre (IGC) lebten schätzungsweise 70 % der Bevölkerung Kabuls in informellen Siedlungen. Dem IGC zufolge bieten "informelle Siedlungen in Kabul der Mehrheit der Einwohner der Stadt entscheidenden kostengünstigen Wohnraum" (EASO Country Guidance, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
In den Städten besteht grundsätzlich die Möglichkeit sicheren Wohnraum zu mieten. Darüber hinaus bieten die Städte die Möglichkeit von „Teehäusern“, die mit 30 Afghani (das sind ca. € 0,35) bis 100 Afghani (das sind ca. € 1,20) pro Nacht relativ günstig sind. „Teehäuser“ werden von Reisenden, Tagesarbeitern, Straßenhändlern, jungen Menschen, alleinstehenden Männern und anderen Personen, die in der Gegend keine ständige Unterkunft haben, als vorübergehende Unterkunft genutzt (EASO Country Guidance, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.2.6.4. Wasserversorgung:
Der Zugang zu sauberem Trinkwasser sowie angemessenen sanitären Einrichtungen hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Der Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen, wie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, war in den Städten im Allgemeinen besser als auf dem Land. Der Zugang zu Trinkwasser ist für viele Afghanen jedoch nach wie vor ein Problem, und die sanitären Einrichtungen sind weiterhin schlecht (EASO Country Guidance, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.2.7. Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit (LIB Kapitel 21.):
Am Arbeitsmarkt müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neuankömmlinge in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Somit treten jedes Jahr sehr viele junge Afghanen in den Arbeitsmarkt ein, während die Beschäftigungsmöglichkeiten aufgrund unzureichender Entwicklungsressourcen und mangelnder Sicherheit nicht mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten können. In Anbetracht von fehlendem Wirtschaftswachstum und eingeschränktem Budget für öffentliche Ausgaben, stellt dies eine gewaltige Herausforderung dar. Letzten Schätzungen zufolge sind 1,9 Millionen Afghan/innen arbeitslos – Frauen und Jugendliche haben am meisten mit dieser Jobkrise zu kämpfen. Jugendarbeitslosigkeit ist ein komplexes Phänomen mit starken Unterschieden im städtischen und ländlichen Bereich. Schätzungen zufolge sind 877.000 Jugendliche arbeitslos; zwei Drittel von ihnen sind junge Männer (ca. 500.000).
Der afghanische Arbeitsmarkt ist durch eine starke Dominanz des Agrarsektors, eine Unterrepräsentation von Frauen und relativ wenigen Möglichkeiten für junge Menschen gekennzeichnet. Fähigkeiten, die sich Rückkehrer/innen im Ausland angeeignet haben, können eine wichtige Rolle bei der Arbeitsplatzsuche spielen. Bei der Arbeitssuche spielen persönliche Kontakte eine wichtige Rolle.
In Afghanistan existiert keine finanzielle oder sonstige Unterstützung bei Arbeitslosigkeit. Lediglich beratende Unterstützung wird vom Ministerium für Arbeit und Soziale Belange (MoLSAMD) und der NGO ACBAR angeboten; dabei soll der persönliche Lebenslauf zur Beratung mitgebracht werden. Auch Rückkehrende haben dazu Zugang – als Voraussetzung gilt hierfür die afghanische Staatsbürgerschaft.
Afghanistan sah sich seit 2011-2012 mit einem starken Anstieg der Armut konfrontiert, mit einem Anstieg der Armutsraten sowohl in den Städten als auch auf dem Land. In den Jahren 2016-2017 lebten 54,5 % der Bevölkerung unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Immer mehr Menschen greifen zu negativen Bewältigungsmechanismen wie Kleinkriminalität, Kinderheirat, Kinderarbeit und Betteln auf der Straße, von denen Binnenvertriebene besonders betroffen sind. Der Zugang zu produktiver oder einträglicher Beschäftigung ist begrenzt, 80 % der Beschäftigung gilt als gefährdet und unsicher in Form von selbstständiger oder auf eigene Rechnung ausgeübter Arbeit, Tagelöhnerarbeit oder unbezahlter Arbeit. Der saisonale Effekt ist erheblich. Die Arbeitslosenquote ist in den Frühlings- und Sommermonaten relativ niedrig (etwa 20 %), während sie im Winter 32,5 % erreichen kann. ALCS 2016-2017 stellte fest, dass nur 19,8 % aller Erwerbstätigen in Afghanistan in einem öffentlichen oder privaten Angestelltenverhältnis stehen oder Arbeitgeber sind, was bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer eine gefährdete Beschäftigung darstellt. 52,6 % der Landbevölkerung sind in der Landwirtschaft beschäftigt, während in den Städten eine größere Vielfalt bei der Beschäftigung zu verzeichnen ist, wo 36,5 % der arbeitenden Bevölkerung in verschiedenen Dienstleistungen tätig sind und nur 5,5 % in der Landwirtschaft. In der Hauptstadt ist der Anteil der angestellten Arbeitnehmer hoch, während die Selbständigkeit im Vergleich zu den ländlichen Gebieten des Landes weniger verbreitet ist. Die Gehälter in Kabul sind im Allgemeinen höher als in anderen Provinzen (EASO Country Guidance, Kapitel Common analysis: Afghanistan, V).
1.2.8. Sozialbeihilfen, wohlfahrtsstaatliche Leistungen und Versicherungen (LIB Kapitel 21.1.):
Der afghanische Staat gewährt seinen Bürgern kostenfreie Bildung und Gesundheitsleistungen, darüber hinaus sind keine Sozialleistungen vorgesehen. Ein Sozialversicherungs- oder Pensionssystem gibt es, von einigen Ausnahmen abgesehen (zB Armee und Polizei), nicht. Es gibt kein öffentliches Krankenversicherungssystem. Ein eingeschränktes Angebot an privaten Krankenversicherungen existiert, jedoch sind die Gebühren für die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung zu hoch. Ein Pensionssystem ist nur im öffentlichen Sektor etabliert. Manche Arbeitgeber zahlen ihren Angestellten Abfertigungen, welche die Angestellten sich nach einem gewissen Zeitraum ausbezahlen lassen können. Die weitgehende Informalität der afghanischen Wirtschaft bedeutet, dass die Mehrheit der Arbeitskräfte nicht in den Genuss von Pensionen oder Sozialbeihilfen kommt.
Im Rahmen des zeh