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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des AH, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Jänner 2020, W155 2202896-1/13E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein - im maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses - minderjähriger afghanischer Staatsangehöriger, beantragte am 3. Dezember 2015 internationalen Schutz. Seine Flucht aus Afghanistan begründete er zusammengefasst damit, aufgrund der Trennung seiner Schwester von ihrem afghanischen Ehemann und deren anschließender Wiederverheiratung (ohne vorherige Scheidung) in einen gewalttätigen Konflikt mit der Familie des ersten Ehemannes geraten zu sein (Blutfehde), wogegen ihm im Herkunftsstaat kein Schutz gewährt werde.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag - in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 21. Juni 2018 - ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3 Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, es könne nicht festgestellt werden, dass dem Revisionswerber in Afghanistan im Zusammenhang mit der Wiederverheiratung seiner Schwester Verfolgung durch die Familie des ehemaligen Ehemannes drohe. Der Schwester sei zwar wegen dieses Konfliktes Asyl in Österreich gewährt worden; eine konkrete und persönliche Bedrohung des Revisionswerbers habe sich im Asylverfahren aber nicht ergeben. Daher erübrige sich die Prüfung des Zusammenhangs der vorgebrachten Streitigkeiten mit einem Konventionsgrund. Auch subsidiärer Schutz sei dem Revisionswerber, der nicht besonders vulnerabel sei, nicht zu gewähren.
4 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache unter anderem geltend macht, das BVwG habe in Abweichung von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung die Begründungspflicht von Erkenntnissen verletzt und sich mit dem Kern der geltend gemachten Rückkehrbefürchtungen des Revisionswerbers (dem Thema der „Blutrache“) nicht hinreichend auseinandergesetzt. Das BVwG habe auf einschlägige Berichte des UNHCR nicht Bedacht genommen und einen dazu gestellten Beweisantrag auf Einholung eines länderkundlichen Sachverständigengutachtens sowie Anträge auf zeugenschaftliche Einvernahme des neuen Ehemanns der Schwester und des Bruders dieses Ehemanns zum Beweis des Fluchtvorbringens ohne Begründung übergangen.
5 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und begründet.
8 Das BVwG führte im angefochtenen Erkenntnis zwar aus, es könne nicht festgestellt werden, dass dem Revisionswerber „im Zusammenhang mit der Wiederverheiratung seiner Schwester Verfolgung durch die Familie des Exmannes“ drohe. Der Begründung der angefochtenen Entscheidung lässt sich aber nicht entnehmen, welche Teile des Fluchtvorbringens im Einzelnen für glaubhaft befunden wurden und welche nicht.
9 Unstrittig ist jedenfalls, dass der Schwester des Revisionswerbers mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 9. März 2018 der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden ist, weil sie, wie in einem Aktenvermerk des Bundesamts festgehalten worden ist, glaubwürdig belegt habe, dass sie sich aufgrund von Misshandlungen von ihrem ersten Ehemann getrennt und dies zu erheblichen Bedrohungen geführt habe bzw. ihr auch strafrechtlich - in Afghanistan - unverhältnismäßige Strafen drohen würden.
10 In der Beschwerde und in der mündlichen Verhandlung hatte der Revisionswerber ausgeführt, das Verhalten seiner Schwester habe zu massiven tätlichen Angriffen von Familienmitgliedern des ersten Ehemannes auch gegen seinen Vater und die Person des Revisionswerbers geführt. Dem Revisionswerber drohe bei Rückkehr - aus näher dargestellten Gründen - Rache der verfeindeten Familie.
11 Zu Recht macht die Revision geltend, dass sich das BVwG mit diesem Themenkomplex nicht hinreichend beschäftigt hat. Im angefochtenen Erkenntnis fehlen nicht nur präzise Feststellungen, welcher Sachverhalt der Entscheidung zugrunde gelegt wurde, sondern es findet sich darin auch keine Beschäftigung mit dem Thema „Blutrache“ vor dem Hintergrund einschlägiger Länderberichte. Beweisanträge des Revisionswerbers auf Einholung eines länderkundlichen Gutachtens zur Frage der „Blutrache“ und auf Einvernahme weiterer Zeugen (des neuen Ehemannes der Schwester des Revisionswerbers und dessen Bruder) zum Nachweis des Fluchtvorbringens wurden überdies begründungslos übergangen.
12 Zu erwähnen ist auch, dass das BVwG den Revisionswerber als „nicht besonders vulnerabel“ bezeichnet, obwohl dieser im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung mehrere Elemente einer besonderen Vulnerabilität, nämlich sein minderjähriges Alter und eine festgestellte posttraumatische Belastungsstörung, aufwies.
13 Schon aufgrund dieser Verfahrens- bzw. Begründungsmängel kann das angefochtene Erkenntnis keinen Bestand haben und war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß
§ 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
14 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 27. August 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180056.L01Im RIS seit
28.09.2020Zuletzt aktualisiert am
28.09.2020