TE Bvwg Erkenntnis 2019/7/3 L504 2219711-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.07.2019
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Entscheidungsdatum

03.07.2019

Norm

BFA-VG §18 Abs2 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs4

Spruch

L504 2219711-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. R. ENGEL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , XXXX geb., StA. Türkei, vertreten durch Dr. Ulrich KLIMSCHA, dieser vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 25.04.2019, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrenshergang

Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid hat das Bundesamt Folgendes entschieden:

"I. Gemäß § 52 Absatz 5 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung erlassen.

II. Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig ist.

III. Gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, wird gegen Sie ein

- auf die Dauer von 6 Jahren befristetes

Einreiseverbot erlassen.

IV. Gemäß § 55 Absatz 4 FPG wird eine Frist für die freiwillige Ausreise nicht gewährt.

V. Gemäß § 18 Absatz 2 Ziffer 1 BFA-Verfahrensgesetz, BGBI I Nr. 87/2012 (BFA VG) idgF, wird die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung aberkannt."

Aus dem unbestritten gebliebenen Verfahrensgang des Bescheides ergibt sich:

"- Sie reisten im Jahr 2004 in das österreichische Bundesgebiet ein. Derzeit sind Sie im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung Daueraufenthalt EU.

- Im Sommer 2004 haben Sie die Ehe mit Frau D.-N. S. geschlossen. Die Scheidung wurde im Winter 2006 eingeleitet.

- Seit 12.09.2006 ist ein Waffenverbot, GZ: [...], gegen Sie vollstreckbar, welches am 23.01.2024 außer Kraft tritt.

- Laut Anlass-Abschluss Bericht des Landeskriminalamtes Salzburg vom 16.12.2008, GZ: [...] standen Sie in Verdacht der Schlepperei als Beitragstäter.

- Laut Meldung vom 22.01.2009 des Stadtpolizeikommandos Penzing-Fünfhaus, GZ: [...] wurden Sie wegen Verdacht der Körperverletzung nach § 83 StGB, 228 / 4 StGB angezeigt.

- Am XXXX 2010 wurden Sie vom Landespolizeikommando Wien wegen Verdacht der fahrlässigen Körperverletzung im Straßenverkehr angezeigt.

- Das Bezirksgericht Leopoldstadt verurteilte Sie am 02.03.2011 (RK 07.03.2011), GZ: [...], wegen fahrlässiger Tötung nach § 80 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je ? 4,- (? 360,-), im Nichteinbringungsfall 45 Tage Ersatzfreiheitsstrafe.

- Mit Beschluss vom 29.07.2014 des Bezirksgerichts Favoriten, GZ: [...] wurde ein Psychiatrisch-Neurologisches Gutachten angeordnet. Dem Psychiatrisch-Neurologischen Gutachten von Univ. Doz. Dr. K. M. vom 03.11.2014, zufolge befanden Sie sich im [...] in stationärer Behandlung im Frühling 2014. Zum damaligen Zeitpunkt wurde die Diagnose einer Schizophrenie gestellt. Aufgrund eines Selbstfürsorgedefizites in der Handhabung Ihrer Angelegenheiten wurde für Sie die Einleitung einer Sachwalterschaft angeregt.

- Am 14.01.2015 wurde mit Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten, GZ: [...] ein Sachwalter, nämlich Dr. K. gem. § 268 ABGB bestellt, welcher folgende Angelegenheiten zu besorgen hat: Vertretung vor Gerichten, Behörden und Sozialversicherungsträgern; Verwaltung von Einkünften, Vermögen und Verbindlichkeiten; Vertretung bei Rechtsgeschäften, die über die Geschäfte des täglichen Lebens hinausgehen.

- Das Landesgericht für Strafsachen Wien verurteilte Sie am 15.05.2017 (RK 18.05.2017), GZ: [...] wegen einer Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist und die Ihnen, wären Sie zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen, als Verbrechen der absichtlich schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs. 1 StGB zuzurechnen wäre, gem. § 21 Abs. 1 StGB zu der Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher.

- Im Zuge des Parteiengehörs vom 13.09.2018 wurden Sie über die Beabsichtigung der Erlassung einer Rückkehrentscheidung iVm einem Einreiseverbot in Kenntnis gesetzt. Gleichzeitig wurde Ihnen die Möglichkeit zur Stellungnahme bezüglich Ihren persönlichen Verhältnissen geboten. Als Beilage wurden Ihnen die Länderfeststellungen zur Türkei übermittelt.

- Ihre Stellungnahme, übermittelt durch Ihren Erwachsenenvertreter vom 19.09.2018 lautet im Wesentlichen wie folgt:

1. Sie wären im Verfahren von Dr. R. Z. im Zuge der Verfahrenshilfe vertreten worden.

2. Laut Meldeverlauf wären Sie 2004 nach Österreich eingereist. Sie hätten eine Arbeit finden wollen und eine Familie gründen wollen.

3. Sie wären legal nach Österreich eingereist, der Pass würde sich in der Justizanstalt befinden, eine Kopie würde beiliegen.

4. Sie würden sich seit 2004 im Bundesgebiet aufhalten.

5. Sie würden sich im Maßnahmenvollzug befinden, wären also nicht als gesund zu beurteilen. Ein Gutachten würde sich im Anhang befinden.

6. Sie hätten eine abgeschlossene Elektrikerlehre in der Türkei absolviert. Im Zuge der Reha-Maßnahmen sollte die Anerkennung des ausländischen Zeugnisses erfolgen, was leider nicht abgeschlossen werden hätte können.

7. Sie wären geschieden, zu Ihrem Kind würde aufgrund der Haft kaum Kontakt bestehen. Hier sind die zuletzt bekannten Daten: Exfrau: XXXX , geb. XXXX , XXXX laut Scheidung, Sohn: XXXX , geb. XXXX , Obsorge würde allein der Mutter obliegen - Besuchscafe hätte bei Familienbund XXXX stattgefunden, zuständig wäre BG Hernals zu GZ [...].

8. Ihre Familienangehörigen wären die Exfrau XXXX und Ihr Sohn XXXX .

9. Sie hätten keine Aufenthaltsberechtigung in einem anderen Europäischen Staat.

10. Im Anhang würde sich der Versicherungsdatenauszug mit den zuletzt bekannten Arbeitgebern befinden.

11. Zuletzt wäre Ihnen ein Rehabilitationsgeld zuerkannt worden, siehe Beilage.

12. Sie hätten einen großen Freundeskreis in Österreich, konkretere Angaben wären nicht möglich.

13. Sie würden Türkisch und Deutsch sprechen.

14. Sie hätten Arbeit gesucht und die Sprache gelernt.

15. Die Eltern würden sich noch in der Türkei befinden, wie auch drei Schwestern und ein Bruder. Die Mutter wäre allerdings vor kurzem verstorben.

16. Der letzte Besuch in der Türkei wäre 2014 gewesen. Zweck - Besuch der Tante, Urlaub und einen Arztbesuch aufgrund Ihrer Depressionen.

17. Wohnanschrift in der Türkei wäre: XXXX

18. Derzeit würden sich knapp ? 100,- am Konto befinden.

19. Es wäre versucht worden Sie über die Rehabilitationsmaßnahme wieder im Arbeitsmarkt zu integrieren, dem wäre leider die Erkrankung im Wege gestanden.

20. Sie würden in Österreich bleiben wollen.

21. Die psychische Erkrankung würde einen Grund für das gezeigte Verhalten darstellen.

Als Beilage wurden das Psychiatrisch-Neurologische Gutachten vom 03.11.2014 und die Urkunde des Bezirksgericht Favoriten, GZ: 2 P 137/14p-18 bezüglich der Bestellung eines Sachwalters beigelegt.

- Mit Schreiben vom 08.01.2019 des Bundesamtes wurde um eine weitere Stellungnahme bezüglich der absolvierten Therapien und der benötigten Medikamente ersucht. Aus der Stellungnahme vom 15.01.2019 geht hervor, dass Sie neben den medizinischen Therapien seitens der JA zweimal wöchentlich ein Arbeitstraining bei Neustart sowie hausinterne tagesstrukturelle Aktivitäten absolvieren. Diese Aktivitäten umfassen neben den obligatorischen Betreuungsgesprächen, Gruppengespräche sowie der sozialarbeiterischen, psychologischen und sozialpädagogischen Begleitung, Reinigungsarbeiten und zuletzt die Teilnahem an der tagesstrukturellen Aktivität "Cafeteria". Insgesamt tätigten Sie bisher 72 Arbeitsstunden bei Neustart (November bis Jänner).

- Weiters wurde eine Medikamentenliste übermittelt und bekannt gegeben, dass Sie sich derzeit in der Nachsorgeeinrichtung XXXX befinden würden, wo Sie an Therapien teilnehmen würden. Eine genaue Angabe würde noch nachgeschickt werden.

- Am 08.01.2019 und am 31.01.2019 wurde Ihrer Exfrau, [...] eine Aufforderung zur Stellungnahme übermittelt. Am 11.02.2019 langte eine Stellungnahme von Ihrer Exfrau ein und lautet im Wesentlichen wie folgt:

1. Sie hätte Sie im Sommer 2004 geheiratet.

2. Die Scheidung würde im Winter 2006 eingeleitet worden.

3. Sie würde seit 1995 die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen.

4. Sie hätte Ihre Freizügigkeit nicht in Anspruch genommen.

5. Sie hätte seit der Scheidung keinen Kontakt mehr zu Ihnen.

6. Ihr Sohn würde Sie auch nicht sehen wollen und hätte auch keinen Kontakt zu Ihnen.

7. Das Verhältnis wäre vor dem Freiheitsentzug gleich wie jetzt, d.h. der Sohn hätte keinen Kontakt zu Ihnen.

8. Ihr Sohn (Teenager, bald 14, geboren 2005) würde überhaupt keinen Kontakt zum Vater wollen und sie könne ihn dazu nicht zwingen, weil er ein Teenager wäre.

- Mit Schreiben vom 15.02.2019 wurden Ihnen die aktualisierten Länderinformationsblätter zur Türkei, mit dem Hinweis der Möglichkeit der Stellungnahme übermittelt. Das Poststück wurde nachweislich am 19.02.2019 übernommen. Weder in der vorgesehenen Frist noch bis dato langte eine Stellungnahme ein.

- Einer Anfragebeantwortung vom 19.02.2019 des AMS zufolge, können Sie keine Rechte nach Art. 6 ARB Nr. 1/ 80 ableiten. Durch die Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin würden Sie auch keinen Anspruch nach Art. 7 ARB Nr. 1/80 ableiten können.

- Mit Verfahrensanordnung vom heutigen Tag wurde Ihnen ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt.

[...]

- Von Ihnen vorgelegte Beweismittel:

- Stellungnahme vom 19.09.2018

- Psychiatrisch Neurologisches Gutachten von Univ. Doz. Dr. K. M. vom 03.11.2014

- Urkunde des BG Favoriten vom 14.01.2015 - Bestellung eines Sachwalters

- Stellungnahme vom 15.01.2019

- Medikamentenliste Stand 14.01.2019

- Stellungnahme vom 14.01.2019

- Weitere von der Behörde herangezogene Beweismittel:

- Länderfeststellungen zu Ihrem Herkunftsland

- Auszüge aus ZMR und EKIS

- Vollzugsinformationen

- Anlass-Abschluss Bericht vom 16.12.2008, GZ: [...] des Landeskriminalamtes Salzburg

- Meldung des Stadtpolizeikommandos Penzing- Fünfhaus vom 22.01.2009, GZ: [...]

- Meldung des Landespolizeikommandos Wien vom 23.06.2010, GZ: [...]

- Beschluss des Bezirksgericht Favoriten, GZ: [...] vom 14.01.2015

- schriftliche Urteilsausfertigung des Bezirksgericht Leopoldstadt vom 02.03.2011, GZ: [...]

- schriftliche Urteilsausfertigung des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15.05.2017 (RK 18.05.2017), GZ: [...]

- Stellungnahme von Frau D.-N. S., vom 11.02.2019

- Versicherungsdatennachweis

- AMS Anfragebeantwortung vom 19.02.2019

- gesamter Akt zu IFA: XXXX

- türkischer Reisepass mit der Nr.:

[...]"

Das Bundesamt begründete seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass auf Grund des Verhaltens der bP die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung die privaten bzw. familiären Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet überwiegen würden. Im Zusammenhang mit der Situation in der Türkei würde keine relevante Gefährdung bestehen. Auf Grund des Verhaltens der bP und der dadurch zu Tage tretenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sei ein Einreiseverbot für die festgesetzte Dauer notwendig und angemessen. Eine Frist für die freiwillige Ausreise werde angesichts ds Umstandes, dass die aufschiebende Wirkung der Beschwerde aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit abzuerkennen war, nicht eingeräumt.

Dagegen wurde innerhalb offener Frist durch den Erwachsenenvertreter, dieser vertreten durch ARGE Rechtsberatung, Beschwerde eingebracht.

Moniert wird im Wesentlichen, dass die Behörde

* sich nicht im ausreichenden Maße mit dem Privat- und Familienleben und der Gefahrenprognose auseinandergesetzt habe, da - nach Ansicht der bP - die Mutter den Sohn manipuliere und dieser deshalb die bP nicht sehen wolle; die bP wolle aber regelmäßig Kontakt zu diesem haben, was in der Türkei nicht möglich wäre; leicht hätte feststellen können, dass es nicht den Tatsachen entspräche, dass die bP zum Sohn "überhaupt keinen Kontakt" gehabt hätte;

* "vollkommen unberücksichtigt" ließ, dass die bP kurz vor der bedingten Entlassung stehe; die bP habe zu keiner Zeit der Entlassungsvorbereitungen selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten gezeigt;

* sich durch eine "unmittelbare Einvernahme des BF" ein "umfassendes Bild" vom Sachverhalt hätten machen können und müssen; hätte sich die Behörde einen persönlichen Eindruck verschafft, so wäre sie zur Erkenntnis gelangt, dass die bP "ihre Fehler der Vergangenheit einsieht und sich geläutert zeigt";

* verkannt habe, dass die bP die Voraussetzungen des Art 6 ARB Nr. 1/80 erfüllen würde und daher zur Aufenthaltsbeendigung ein Aufenthaltsverbot und keine Rückkehrentscheidung iVm Einreiseverbot hätte erlassen dürfen;

* die Länge des Einreiseverbotes unangemessen bemessen habe;

* zu Unrecht die aufschiebende Wirkung aberkannt habe, da keine Gefährdung vorliege.

Die Beschwerde langte am 05.06.2015 beim BVwG in Wien ein.

Auf Grund der Entscheidung in der Sache erging keine separate Entscheidung über die aufschiebende Wirkung.

Auf Grund gegebener Deutschkenntnisse kann eine Übersetzung von Spruch und Rechtsmittelbelehrung entfallen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Das BVwG hat durch den Inhalt des übermittelten Verwaltungsaktes der belangten Behörde, einschließlich der Beschwerde Beweis erhoben.

1. Feststellungen (Sachverhalt)

Das Bundesamt traf im angefochtenen Bescheid nachfolgende Feststellungen, denen sich das BVwG folglich anschließt:

" Zu Ihrer Person:

Ihre Identität steht fest.

Sie sind der türkische Staatsbürger XXXX , geboren am XXXX .

Sie sind geschieden und tragen die Sorgepflicht für einen Sohn.

In der Türkei haben Sie fünf Jahre die Volksschule, drei Jahre die Hauptschule und die Elektrikerlehre abgeschlossen.

Sie leiden zumindest seit 2010 an einer Anpassungsstörung. Im Jahr 2014 wurde erstmals eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis diagnostiziert.

Es kann nicht festgestellt werden, ob Sie seither in diesbezüglicher fachärztlicher Behandlung standen oder entsprechende Medikamente einnahmen.

Aktuell leiden Sie an einer paranoiden Schizophrenie mit derzeit noch nicht erreichter Remission unter neuroleptischer Medikation.

In Österreich weisen Sie insgesamt zwei rechtskräftige Verurteilungen und ein bestehendes Waffenverbot auf.

Ihr Vater sowie drei Schwestern und ein Bruder leben noch im Herkunftsstaat.

Ihre Wohnanschrift in der Türkei lautet: XXXX .

Zu Ihrem Aufenthalt in Österreich:

Sie reisten im Jahr 2004, also im Alter von 23 Jahren in das österreichische Bundesgebiet und halten sich seither hier auf. Derzeit sind Sie im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung Daueraufenthalt EU.

Im Jahr 2004 haben Sie eine Ehe geschlossen, welche im Jahr 2006 geschieden wurde.

Seit 2010 leiden Sie zumindest an einer Anpassungsstörung und im Jahr 2014 wurde erstmals eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis diagnostiziert.

Während Ihres Aufenthaltes in Österreich wurden Sie zweimal rechtskräftig verurteilt. Zuletzt legten Sie eine massive gewalttätige Energie an den Tag. Gepaart mit Ihrer Krankheit wurden Sie so zu der Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt. Seit 03.07.2017 befinden Sie sich im Forensischen Zentrum XXXX . Davor befanden Sie sich von 04.03.2017 bis 03.07.2017 in einer Justizanstalt.

Seit März 2004 waren Sie insgesamt 53 Monate in einer aufrechten ordnungsgemäßen Beschäftigung. Ab 01.09.2008 waren Sie 43 Monate bei diversen Dienstgebern beschäftigt. Zeitweise bezogen Sie Notstandshilfe bzw. diverse Sozialleistungen. Seit 30.09.2013 gehen Sie keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Zuletzt erhielten Sie seit 01.09.2014 Rehabilitationsgeld.

Zu Ihrem Privat- und Familienleben:

Sie reisten im Jahr 2004 nach Österreich und halten sich seither durchgehend hier auf.

Im Sommer 2004 haben Sie die Ehe mit Frau XXXX , geboren am XXXX , österreichische Staatsbürgerin geschlossen. Der Ehe entstammte ein Sohn, XXXX , geboren am XXXX , österreichischer Staatsbürger. Die Obsorge liegt bei der Mutter.

Die Scheidung wurde im Jahr 2006 eingeleitet.

Seither haben Sie weder zu Ihrer Exfrau noch zu Ihrem Sohn Kontakt.

Ihr Vater sowie Ihre Schwestern und Ihr Bruder leben in der Türkei.

Ihre Mutter ist verstorben.

Die Wohnanschrift in der Türkei lautet: XXXX .

In Ihrem Heimatland haben Sie Ihre Schulpflicht und eine Elektrikerlehre abgeschlossen.

Seit Ihrer Einreise gingen Sie insgesamt ca. 96 Monate einer Beschäftigung nach. Teilweise erhielten Sie Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe. Seit 01.09.2014 beziehen Sie Rehabilitationsgeld. Seit 30.09.2013 gehen Sie keiner Erwerbstätigkeit mehr nach.

Sie beherrschen die deutsche Sprache und verfügen über einen Freundeskreis im Bundesgebiet.

Zu den Gründen für die Erlassung des Einreiseverbots:

Das Bezirksgericht Leopoldstadt verurteilte Sie am 02.03.2011 (RK 07.03.2011), GZ: XXXX , wegen fahrlässiger Tötung nach § 80 StGB zu einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je ? 4,- (? 360,-), im Nichteinbringungsfall 45 Tage Ersatzfreiheitsstrafe.

Dem Urteil liegt zugrunde, Sie sind schuldig, Sie haben am XXXX 2010, in Wien 2. im Kreuzungsbereich Dr. Natterergasse 6/ Wehlistraße, als Lenker des LKW Marke XXXX , mit dem behördlichen Kennzeichen XXXX , durch Außerachtlassung der beim Rückwärts fahren gebotenen Aufmerksamkeit und Sorgfalt, indem Sie Ihren LKW zunächst auf der linken Fahrbahnhälfte der Dr. Naterrerergasse zwecks Umkehrmanöver anhielten, anschließend den Rückwärtsgang einlegten und Ihr Fahrzeug in Richtung der dort befindlichen Einfahrt einige Meter zurückschoben und dabei die hinter Ihrem Fahrzeug befindliche, sich mit einer Gehhilfe (Rollator) fortbewegende, Fußgängerin Anna L. übersahen und sie mit der rechten Heckseite Ihres LKWs niederstießen, wodurch diese ein Schädelhirntrauma mit Hirnblutung und wässriger Hirnschwellung erlitt und am 28.06.2010 an den Folgen dieser Verletzung durch Hirnlähmung starb, fährlässig den Tod der Anna L. herbeigeführt.

Als Strafbemessungsgründe wirkte sich das reumütige Geständnis als mildernd aus. Kein Umstand schlug als erschwerend zu Buche.

Das Landesgericht für Strafsachen Wien verurteilte Sie am 15.05.2017 (RK 18.05.2017), GZ: XXXX wegen einer Tat, die mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist und die Ihnen, wären Sie zur Tatzeit zurechnungsfähig gewesen, als Verbrechen der absichtlich schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs. 1 StGB zuzurechnen wäre, gem. § 21 Abs. 1 StGB zu der Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher.

Das Landesgericht für Strafsachen Wien hat als Schöffengericht zu Recht erkannt:

Sie haben am 03.03.2017 in Wien unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes (§ 11 StGB), der auf einer geistigen und seelischen Abartigkeit von höherem Grad, und zwar eines akutpsychotischen Zustandbildes im Rahmen einer vorbestandenen Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis mit wahnhaft verzerrtem Realitätsbezug und paranoider Erlebnisverarbeitung beruht, XXXX K. eine schwere Körperverletzung absichtlich zuzufügen versucht (§ 15 StGB), indem Sie ihm mit einem Messer mit 4 cm Klingenlänge gegen den linken Brustbereich stachen, wodurch dieser eine 1 cm tiefe, blutende Stichwunde im Bereich des linken Brustmuskels erlitt.

Mit 12.09.2006 wurde ein Waffenverbot, gültig bis 23.01.2024 vollstreckbar.

Ihr Aufenthalt stellt eine gegenwärtige, tatsächliche und schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar."

- Zur Lage in Ihrem Herkunftsstaat / im Zielstaat:

Länderinformationsblatt zur Türkei Stand: 18.10.2018

Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen: [...]

Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Quellen: [...]

Gülen- oder Hizmet-Bewegung

Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).

Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).

Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).

Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).

Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).

Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).

Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).

Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).

Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).

Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).

Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].

Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).

Quellen: [...]

Terroristische Gruppierungen: [...]

Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte. Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führten zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 3.8.2018).

Das türkische Justizsystem besteht aus zwei Säulen: Der ordentlichen Gerichtsbarkeit (Straf- und Zivilgerichte), und der außerordentlichen Gerichtsbarkeit (Verwaltungs- und Verfassungsgerichte). Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden die Militärgerichte abgeschafft. Deren Kompetenzen wurden auf die Straf- und Zivilgerichte sowie Verwaltungsgerichte übertragen. Letztinstanzliche Gerichte sind gemäß der Verfassung der Verfassungsgerichtshof (Anayasa Mahkemesi), der Staatsrat (Danistay), der Kassationshof (Yargitay) und das Kompetenzkonfliktgericht (Uyusmazlik Mahkemesi). Die Staatssicherheitsgerichte (Devlet Güvenlik Mahkemeleri-DGM) wurden im Zuge der Reformen für die EU-Beitrittsverhandlungen 2004 abgeschafft und die laufenden Fälle an die Großen Strafkammern (Agir Ceza Mahkemeleri) abgegeben (ÖB 10.2017).

Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC 17.4.2018, vgl. AI 22.2.2018).

Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).

Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden (FH 1.2018).

Insgesamt wurden seit dem Putschversuch über 4.000 Richter und Staatsanwälte aus ihren Ämtern entlassen, von denen 454 später vom HSK wieder in ihre Ämter eingesetzt wurden. Gegenwärtig gibt es über 4.000 Richter und Staatsanwälte, gegen die rechtliche Schritte eingeleitet wurden (Entlassung oder Suspendierung). Richter und Staatsanwälte, die sich in Untersuchungshaft befanden, blieben im Durchschnitt mehr als ein Jahr lang ohne Anklage inhaftiert (EC 17.4.2018).

Die Vereinigung der Richter und Staatsanwälte (YARSAV), eine unabhängige Vereinigung der Mitglieder der Justiz in der Türkei, wurde nach dem Putschversuch aufgelöst und ihr Vorsitzender, Murat Arslan, sowie andere Mitglieder inhaftiert (PACE 15.12.2016, vgl. AM 9.11.2016). YARSAV gehörte zu den ersten, die auf internationaler Ebene über die Bedrohungen der Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei sprachen, und alsbald als einzige türkische Organisation der Internationalen Richtervereinigung sowie den "Europäischen Richtern für Demokratie und Freiheitsrechte" (MEDEL) beitrat. Obwohl YARSAV sich einst vehement gegen die Aufnahme von Gülen-Mitgliedern in die Justiz ausgesprochen hatte, wurde die Schließung von YARSAV mit der Nähe zur Gülen-Bewegung begründet (AM 9.11.2016).

Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen (AA 3.8.2018).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten (AA 3.8.2018).

Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre (ÖB 10.2017).

Während des Ausnahmezustandes hat der Ministerrat mehr als 30 Dekrete erlassen, die nach der Verfassung "rechtskräftig" sind. Diese Notverordnungen betrafen die Einschränkung bestimmter bürgerlicher und politischer Rechte, der Ausweitung der Polizeibefugnisse und der Befugnisse der Staatsanwälte für Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen, die massiven Entlassungen von Beamten und die Schließung von Körperschaften sowie die Liquidation ihres Vermögens durch den Staat. Sie betreffen zudem Schlüsselrechte im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention, wie das Recht auf ein faires Verfahren, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbeistand und das Recht auf Schutz des Eigentums. Sie enthalten Änderungen für andere wichtige Rechtsmaterien, die auch nach dem Ausnahmezustand Wirkung zeigen werden, insbesondere in Bezug auf Eigentumsrechte, lokale Behörden, öffentliche Verwaltung und Telekommunikation. Die Dekrete werfen ernsthafte Fragen die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen betreffend auf. Sie wurden vom Parlament nicht sorgfältig und wirksam geprüft und zudem verspätet verabschiedet. Folglich standen die Dekrete lange Zeit nicht der gerichtlichen Überprüfung offen, da die Verabschiedung durch das Parlament ein notwendiger Schritt vor jeder rechtlichen Anfechtung vor dem Verfassungsgericht ist. Keines der Dekrete war bisher Gegenstand einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes (EC 17.4.2018).

Ein am 9.12.2016 von den Verfassungsrechtsexperten des Europarates - der Venedig-Kommission - verabschiedetes Gutachten kommt zum Schluss, dass die türkischen Behörden zwar "mit einer gefährlichen bewaffneten Verschwörung" konfrontiert waren und "gute Gründe" hatten, den Ausnahmezustand auszurufen, doch dass die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen über das hinausgingen, was gemäß der türkischen Verfassung und dem Völkerrecht zulässig ist. Obwohl die Bestimmungen der türkischen Verfassung zur Ausrufung des Ausnahmezustands in Einklang mit den europäischen Normen zu stehen scheinen, übte die Regierung ihre Notstandsbefugnisse mithilfe einer Anlassgesetzgebung aus. Etwa die Massenentlassungen zehntausender Beamter auf der Grundlage von den Notdekreten beigefügten Listen, erwecken stark den Anschein von Willkür. Der Begriff der Verbindung (zur Gülen-Bewegung) ist zu vage definiert, und selbst wenn Mitglieder des Gülen-Netzwerks an dem gescheiterten Staatsstreich beteiligt waren, sollte dieser Umstand nicht dazu verwendet werden, gegen alle Personen vorzugehen, die in der Vergangenheit mit dem Netz irgendwie in Kontakt standen (CoE-VC 9.12.2016).

Die Verfassung sieht das Recht auf ein faires öffentliches Verfahren vor, obwohl Anwaltsverbände und Rechtsvereinigungen geltend machten, dass die zunehmende Einmischung der Exekutive in die Justiz und Maßnahmen der Regierung durch Notstandsbestimmungen dieses Recht gefährdet hätten. Richter können den Zugang von Rechtsanwälten zu den Akten der Angeklagten während der Strafverfolgungsphase einschränken. Zwar haben Angeklagte das Recht, bei der Verhandlung anwesend zu sein und rechtzeitig einen Anwalt hinzuzuziehen, doch stellten Beobachter fest, dass die Gerichte es insbesondere in hochkarätigen Fällen verabsäumen, den Angeklagten diese Rechte auch einzuräumen (USDOS 20.4.2018).

Die Regierung setzte auch ihre groß angelegte Entlassung von Beamten aus dem öffentlichen Dienst fort. Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden insgesamt 115.158 Beamte, Richter und Staatsanwälte entlassen. Das breite Spektrum und der kollektive Charakter dieser Maßnahmen wirft ernsthafte Fragen im Hinblick auf die mangelnde Transparenz der Verwaltungsverfahren, die zur Entlassung aus dem öffentlichen Dienst führen, und die Unklarheit der Kriterien für die Bestimmung angeblicher Verbindungen zur Gülen-Bewegung und die persönliche Beteiligung am Putschversuch auf. Von den Entlassungen waren vor allem das Innen- und Bildungsministerium betroffen. Tausende von Polizeibeamten, Lehrern, Akademikern, Gesundheitspersonal und Angehörigen der Justiz gehören zu denen, die aus dem Amt entfernt wurden (EC 17.4.2018).

Die Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen, die am 23.1.2017 gegründet wurde, hat am 17.7.2017 begonnen, Einsprüche von aufgrund der Notstandsdekrete entlassenen Personen, Vereinen und Firmen entgegenzunehmen (HDN 8.8.2017). Das Verfassungsgericht hatte zuvor rund 70.800 Individualbeschwerden in Zusammenhang mit Handlungen auf der Basis der Notstandsdekrete zurückgewiesen, da die Beschwerden nicht der Kommission zur Untersuchung der Notstandsmaßnahmen vorgelegt, und somit nicht alle Rechtsmittel ausgeschöpft wurden (bianet 7.8.2017, vgl. EC 17.4.2018). Nebst den direkt bei der Kommission eingereichten Beschwerden werden auch jene, die vor der Gründung der Kommission bei den Verwaltungsgerichten und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht wurden, übernommen. Der EGMR hatte zuvor 24.000 Beschwerden abgelehnt. Negative Bescheide der Kommission können bei den Verwaltungsgerichten beeinsprucht werden (HDN 8.8.2017). Bis zur Einsetzung der Kommission wurden 3.604 Personen per Dekret wieder ins Amt eingesetzt, während weitere 36.000 Wiedereinsetzungen nach einem unklaren und undurchsichtigen Verwaltungsverfahren in verschiedenen Institutionen erfolgten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat auch etwa 28.000 bei ihm eingegangene Beschwerden an die Berufungskommission weitergeleitet. Infolgedessen hat die Beschwerdekommission bis Anfang März 2018 insgesamt rund 107.000 Beschwerdeanträge erhalten. Die Urteilsverkündungen begannen im Dezember 2017. Bis Anfang März 2018 wurden insgesamt 6.400 Fälle untersucht, darunter 1.984 vorläufige Prüfungsentscheidungen zu Personen, die per Dekret wieder eingegliedert wurden. Die Beschwerdekommission hat über 4.400 Prüfungsentscheidungen getroffen. Von diesen waren 100 positiv und 4.316 wurden abgelehnt. Es bedarf laut Europäischer Kommission einer größeren Transparenz der Arbeit der Beschwerdekommission und einer klaren Begründung für ihre Entscheidungen auf der Basis einer individuellen Prüfung jeder Akte nach ihren eigenen Gesichtspunkten (EC 17.4.2018).

Am 24.12.2017 wurde das Notstandsdekret Nr. 696 veröffentlicht, welches u. a. die Straffreiheit von Zivilisten regelt, die während der Putschnacht vom 15. auf den 16.7.2016 Putschisten gewaltsam daran gehindert haben, die Regierung zu stürzen. Hierbei wurde Artikel 121 des Notstandsgesetz vom 11.9.2016 um den Zusatz "Zivilisten" ergänzt, die keinen Beamtenstatus besitzen. Das ältere Notstandsgesetz besagte, dass gegen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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