Entscheidungsdatum
23.07.2019Norm
B-VG Art133 Abs4Spruch
L519 2211526-2/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Isabella ZOPF als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Türkei, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.5.2019, FZ. 426363903-180719225, zu Recht erkannt:
A) Die Beschwerde wird gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA-VG sowie §§ 52 Abs. 9, 46, 55 FPG und § 53 Abs. 1 und Abs. 3 Z 6 FPG als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (BF), ein türkischer Staatsangehöriger, wurde 1979 in Österreich geboren und verfügt bis dato durchgehend über Aufenthaltstitel.
Zwischen 1994 und 2001 liegen 5 Verurteilungen wegen Einbruchsdiebstahls ua. sowie Verstoßes gegen das SMG vor.
Der BF hat in Österreich nach dem Schulbesuch eine Lehre abgeschlossen und gearbeitet.
2007 hat er eine die türkisch/deutsche Doppelstaatsbürgerschaft innehabende Frau geheiratet, der Ehe entstammen 4 Kinder.
In Deutschland wurde der BF zusammengefasst wegen seiner im Oktober 2013 durchgeführten Reise nach Syrien zur Unterstützung einer als terroristischen Vereinigung einzustufenden Organisation sowie des Versuches, Mitglieder für diese zu rekrutieren, vom OLG XXXX zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt.
Die Staatsanwaltschaft in Österreich stellte ein gegen ihn eröffnetes Verfahren am XXXX 2019 mit der Begründung ein, dass der gewöhnliche Aufenthalt des BF nicht in Österreich, sondern in Deutschland gelegen wäre.
2. Mit Parteiengehör vom 12.09.2018 forderte das BFA den BF zur Abgabe einer Stellungnahme zur beabsichtigten Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbotes auf.
Nach persönlicher Übernahme dieses Schreibens durch den BF ging keine Stellungnahme beim BFA ein. Erst am 28.09.2018 wurde von einem deutschen Notar eine Stellungnahme übermittelt.
Am 19.10.2018 wurde von den damaligen rechtsfreundlichen Vertretern des BF eine Stellungnahme eingebracht. In dieser wurde unter anderem ausgeführt, dass dem BF Rechte nach dem Beschluss Nr. 1/8 des Assoziationsabkommens EWG-Türkei zukämen. Zudem sei das Verhalten des BF, welches in Deutschland zur Verurteilung geführt habe, in Österreich nicht strafbar, da die Handlungen des BF nicht als Mitgliedschaft innerhalb einer terroristischen Vereinigung zu sehen wären. Sein 5 Jahre zurückliegendes Verhalten würde der BF bedauern und wäre er wegen seiner Schilddrüsenerkrankung in Behandlung. Die Behandlung sei in der Türkei nicht gesichert. Mit seiner Familie habe er bis 2012 in Österreich gelebt, nunmehr seien Frau und Kinder in Deutschland.
3. Mit Parteigehör vom 19.10.2018 forderte das BFA wiederum den BF zur Abgabe einer Stellungnahme insbesondere zu einem Auszug aus dem Länderinformationsblatt auf und wurde auf § 51 FPG hingewiesen. Zudem wurde dem BF aufgetragen, Unterlagen zur Behandlung seiner Schilddrüsenerkrankung aus dem Gefängnis, in welchem der BF zu diesem Zeitpunkt aufhältig war, zu übermitteln.
4. Mit Bescheid vom 12.11.2018 wurde vom BFA gegen den BF ein unbefristetes Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 70 Abs. 3 FPG kein Durchsetzungsaufschub gewährt. Die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen dieses Aufenthaltsverbot wurde aberkannt.
5. Gegen den ordnungsgemäß zugestellten Bescheid des BFA wurde mit 12.12.2018 innerhalb offener Frist durch die Rechtsvertreter des BF Beschwerde erhoben. Nach Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung wurde der Bescheid mit Beschluss des BVwG vom 10.04.2019 aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides gem. § 28 Abs. 3 VwGVG an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
6. Am XXXX 2019 wurde der BF aus der deutschen Justizvollzugsanstalt entlassen (Festnahme Mai 2017) und auf Grund einer Ausweisungsentscheidung der deutschen Behörden über den Grenzübergang XXXX nach Österreich abgeschoben. Im Anschluss wurde eine Einvernahme vor dem LVT durchgeführt.
7. Dem BF (Zustellung an seine Anwälte) wurde mit Schreiben des BFA vom 26.04.2019 Parteiengehör zu den Länderfeststellungen sowie zum beabsichtigten Einreiseverbot gewährt. Wiederum wurde um die Übermittlung von ärztlichen Befunden zur Schilddrüsenerkrankung ersucht.
Die entsprechende Stellungnahme langte am 09.05.2019 per Mail und am 14.05.2019 im Original ein.
Ausgeführt wurde darin, dass sich die Familienverhältnisse insofern geändert hätten, als dass die Kinder des BF großen Schaden durch die Verhaftung erlitten hätten. Auch jetzt seien sie durch die Trennung sehr mitgenommen. Eine noch größere Trennung mit Verbringung des BF in die Türkei würden sie womöglich nicht verkraften. Ein entsprechendes Gutachten sei in Deutschland beim Verwaltungsgericht erstellt worden. Die Familie sei sehr in Mitleidenschaft gezogen. Eine Verbringung in die Türkei würde dazu führen, dass der BF die Kinder lediglich einmal pro Jahr sehen könne, dies sei menschenunwürdig und für die Kinder, alle noch unter zehn Jahre, undenkbar. Die finanziellen Mittel der Familie seien aufgebraucht (Rechtsanwaltskosten, Haftkosten, Überbrückung Frau und Kinder etc.). Eine Abschiebung in die Türkei sei undenkbar, da die Türkei selbst politisch und wirtschaftlich eine der schwersten Zeiten durchläuft. Viele in die Türkei ausgewanderte Personen seien nunmehr wieder zurückgekommen, sogar ein früherer Oberarzt einer österreichischen Klinik wolle nach seiner vormaligen Rückkehr in die Türkei wieder nach Österreich zurückkommen. Dieser Oberarzt würde dem BF strengstens davon abraten, in die Türkei auszuwandern. Wenn schon ein Oberarzt in der Türkei Probleme hätte, könne man sich ausrechnen, wie dies für den BF ohne dessen Einkommen und Status sei. Ein Termin beim Facharzt für Schilddrüsen sei noch nicht vereinbart worden. Die Wartezeiten seien lang. Der BF hätte Knoten im Schilddrüsengewebe. Aufgrund verschiedener Faktoren sei aktuell eine Operation für den BF nicht denkbar. Mit der Erkrankung gingen auch andere Symptome wie Ermüdungserscheinungen und Sauerstoffmangel einher. Das Gesundheitswesen sei schlecht und eine Bekannte wegen falscher Behandlung in der Türkei verstorben. In Deutschland habe der BF ein Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet, da das Geständnis nicht der Wahrheit entsprochen habe, sondern Teil einer später nicht eingehaltenen Vereinbarung (Deal) seitens des Gerichts war. Im Normalfall müsse der BF freigesprochen werden, zumindest müssten die österreichischen Behörden den Ausgang des Verfahrens in Deutschland abwarten. Klagen an europäische Instanzen und eine Verfassungsklage in Deutschland würden ebenfalls vorbereitet werden. Es sei von keiner Wiederholungsgefahr auszugehen und könne der BF auch nicht als radikal oder extremistisch dargestellt werden. Schließlich müsse der BF seine 70-jährige behinderte Mutter nach deren Operation in Österreich pflegen, diese sei auf seine Hilfe angewiesen.
8. Mit dem nunmehr im Spruch genannten, angefochtenen Bescheid wurde gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass eine Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig ist. Gem. § 18 Abs. 2 Z. 1 BFA-VG wurde die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen diese Rückkehrentscheidung aberkannt. Gem. § 55 Abs. 4 FPG wurde dem BF eine Frist für eine freiwillige Ausreise nicht gewährt. Gem. § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z.6 FPG wurde ein unbefristetes Einreiseverbot erlassen.
8.1. Begründend verwies die Behörde im Wesentlichen darauf, dass der BF bereits mehrmals in Österreich und Deutschland, insbesondere in Deutschland wegen Unterstützung einer ausländischen, terroristischen Vereinigung strafgerichtlich verurteilt worden und im Rahmen einer Interessensabwägung iSd Art. 8 EMRK durch Erlassung des Einreiseverbotes kein unzulässiger Eingriff in das Privat- und Familienleben feststellbar gewesen sei. Der BF habe durch sein strafbares Verhalten die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet, weshalb er eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Es wurde davon ausgegangen, dass dem BF keine Rechte aus dem Assoziationsabkommen zustehen.
8.2. Folgende Beweismittel wurden von der Behörde herangezogen (der BF selbst legte keinerlei Beweismittel vor):
* Türkischer Personalausweis
* Schriftliche Urteilsausfertigungen des Oberlandesgerichtes XXXX XXXX ;
* Schreiben des Bayrischen Landesamtes für Verfassungsschutz, XXXX ;
* Auszüge aus ZMR, EKIS und Sozialversicherung;
* Anfrage bzgl. des Aufenthaltsstatus in Deutschland;
* Vollzugsinformation der Justizvollzugsanstalt XXXX /Deutschland;
* Schreiben der Staatsanwaltschaft XXXX vom 20.04.2016;
* E-Mail des Landesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung XXXX
* Anfragebeantwortung des Bayrischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen, Zentralstelle Ausländerextremismus Bayern vom XXXX .
* Urteil des Bayrischen Verwaltungsgerichtes XXXX .
8.3. Im Rahmen der Würdigung führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus:
Hinsichtlich des Einreiseverbotes wurde ausgeführt, dass der BF aufgrund eines strafrechtlichen Delikts in Syrien von einem deutschen Gericht zu Recht zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt wurde. Aufgrund dieser Tatsache sei die Annahme gerechtfertigt, dass der weitere Aufenthalt im Bundesgebiet eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstelle.
Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens und bei Berücksichtigung der Ergebnisse dieses Verfahrens könne die Behörde keinesfalls eine günstige Zukunftsprognose stellen weshalb die Verfügung des Einreiseverbots die einzig adäquate Maßnahme darstelle, auf die von dem BF ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu reagieren.
8.4. Zur abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei traf die belangte Behörde ausführliche, aktuelle Feststellungen mit nachvollziehbaren Quellenangaben.
8.5. Rechtlich führte die belangte Behörde aus, dass die Rückkehrentscheidung keinen ungerechtfertigten Eingriff in Art. 8 EMRK darstelle. Das Einreiseverbot sei der Gefährlichkeit des BF geschuldet und sei eine Abschiebung zulässig.
9. Gegen den angefochtenen Bescheid wurden innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben und unter anderem beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Ausgeführt wurde, dass der BF begünstigter Drittstaatsangehöriger sei, keine Einvernahme des BF sowie seiner Familienmitglieder durchgeführt worden sei, die Subsumption der in Deutschland erfolgten Verurteilung unter die österreichischen Straftatbestände verfehlt und die Interessensabwägung iSd Art. 8 EMRK mangelhaft durchgeführt worden sei.
Vorgelegt wurden eine Einstellungszusage, Beginn der Tätigkeit mit November 2019 in einem Restaurant, Dienstzeugnisse aus dem Zeitraum vor 2010 und ein ärztliches Schreiben betreffend Schilddrüse vom 22.05.2017.
10. Am 03.06.2019 wurde der BF an der Adresse seiner Mutter in XXXX festgenommen und am 05.06.2019 abgeschoben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
II.1.1. Der Beschwerdeführer:
Beim Beschwerdeführer handelt es sich um einen türkischen Staatsangehörigen, der in Österreich geboren wurde. Der BF ist damit Drittstaatsangehöriger, welcher über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt EG", zuletzt ausgestellt am XXXX 2017 vom Magistrat XXXX verfügt.
Er hat hier die Schulpflicht abgeschlossen und im Anschluss ein Jahr die Fachschule für Maschinenbau absolviert, die Ausbildung aber nicht beendet. Eine Lehre als Restaurantfachmann und als Koch hat der BF absolviert. Er hat auch Module des Unternehmerführerscheins absolviert.
Der BF lebte bis 2012 in Österreich. Er ist zuletzt am 14.12.2011 in Österreich einer Beschäftigung nachgegangen, bezog aber bis 11.06.2017 Arbeitslosengeld, Notstandshilfe und Überbrückungshilfe. Im Jahr 2012 verlegte der BF seinen Lebensmittelpunkt nach Deutschland und war nur mehr fallweise in Österreich aufhältig. 2015 kehrte er vorübergehend wieder nach Deutschland zurück.
Seit 01.06.2017 hat der BF keinen Wohnsitz mehr in Österreich gemeldet. Nach der Abschiebung von Deutschland nach Österreich am XXXX 2019 wurde eine zwischenzeitliche Anmeldung bei seiner Mutter in Tirol wieder gelöscht, unmittelbar am Tag der Bescheiderstellung meldete er sich bei seinem Bruder in Oberösterreich an.
Er ist seit 2007 mit der deutschen Staatsbürgerin XXXX , XXXX geboren, verheiratet, welche auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzt. Mit dieser hat der BF vier minderjährige Kinder (9, 8, 4 und 2 Jahre), welche ebenfalls die deutsch / türkische Doppelstaatsbürgerschaft haben. Ehegattin und Kinder lebten bis 2012 in Österreich und leben seitdem in Deutschland.
In Österreich leben noch die Mutter, ein Bruder und eine ältere Schwester des BF.
Der BF spricht Deutsch, Türkisch, etwas Arabisch, Russisch und Englisch.
Er leidet an einer Schilddrüsenerkrankung, die er aus eigenem Entschluss schon während der Verhandlung in Deutschland im Jahr 2017 nicht durch entsprechende Operation behandeln ließ. Erkrankungen der Schilddrüse sind in der Türkei behandelbar.
Der BF ist ein junger, weitgehend gesunder, arbeitsfähiger Mann mit einer in der Türkei - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage.
Ein Cousin des BF lebt in der Türkei.
Die Identität des BF steht fest.
Der BF hat gegen das Meldegesetz verstoßen. Er hat die Meldeverpflichtung nach dem Sicherheitspolizeigesetz missachtet und hat er einen Termin zu einem Deradikalisierungsgespräch gemäß dem Sicherheitspolizeigesetz bewusst nicht wahrgenommen.
II.1.2. Verurteilungen
II.1.2.1. In Österreich wurde der BF wegen nachstehender Straftaten (bereits getilgt) verurteilt:
- Vom Landesgericht XXXX unter der Aktenzahl: XXXX wegen Einbruchsdiebstahles nach den §§ 127, 128 Abs. 1 Zif. 2 und 129 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 2 Monaten;
Aufgrund nachfolgender Verurteilungen wurde die bedingte Freiheitsstrafe nach Verlängerung der Probezeit widerrufen (Beschluss LG XXXX ).
- Vom Landesgericht XXXX unter der Aktenzahl: XXXX wegen gewerbsmäßigem Einbruchsdiebstahles nach den §§ 127, 128 Abs. 1 Zif. 4 und 129 Abs. 1 und 2 und 130 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten;
- Vom Landesgericht XXXX unter der Aktenzahl: XXXX wegen gewerbsmäßigem Einbruchsdiebstahles nach den §§ 127, 128 Abs. 1 Zif. 2 und 129 Abs. 1 StGB;
Unter Bedachtnahme auf Urteil des LG XXXX wurde keine Zusatzstrafe verhängt.
- Vom Landesgericht XXXX unter der Aktenzahl: XXXX wegen Einbruchsdiebstahles nach den §§ 127 und 129 Abs. 1 StGB zu einer Geldstrafe von 300 Tagessätzen zu je ATS 100,--;
- Vom Landesgericht XXXX unter der Aktenzahl: XXXX wegen gewerbsmäßigem Einbruchsdiebstahles, Sachbeschädigung und unbefugten Gebrauch eines Fahrzeuges nach den §§ 127, 128 Abs. 1 Zif. 4 und 129 Abs. 1 und 2 und 130, 125 und 136 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten;
Der BF wurde am XXXX 2000 bedingt aus der Haft entlassen.
- Vom Landesgericht XXXX unter der Aktenzahl: XXXX wegen Übertretungen nach dem Suchtmittelgesetz nach § 28 Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten;
Der BF wurde am XXXX 2002 bedingt aus der Haft entlassen.
Ein Verfahren wegen § 278b StGB in Österreich wurde von der Staatsanwaltschaft XXXX unter der Aktenzahl: XXXX gem. § 190 Zif. 1 StPO eingestellt, da der BF nicht österreichischer Staatsbürger war und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte, weshalb er die Inlandswohnsitzdefinition des § 64 Abs. 1 Z 9 b StGB nicht erfüllt hätte, sodass zu dieser Zeit kein Anknüpfungspunkt inländischer Gerichte gegeben war.
II.1.2.2. Gegen den BF wurde 2015 ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Mit Haftbefehl des Oberlandesgerichts XXXX 2017 wurden der BF am 30. Mai 2017 festgenommen.
Mit Urteil des Oberlandesgericht XXXX wurde der BF unter der Aktenzahl: XXXX am XXXX 2018) wegen der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung in Tatmehrheit mit Werben für eine terroristische Vereinigung im Ausland gem. der §§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 S. 1 und S 2, Abs. 6, 129b Abs. 1, 53 StGB (deutsches Strafgesetzbuch) zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten verurteilt.
Neben Feststellungen zur ausländischen terroristischen Vereinigung XXXX , welche eine von radikal-islamischen Anschauungen geleitete Vereinigung darstellt, deren Ziel es ist, den Präsidenten in Syrien zu stürzen und einen Gottesstaat mit militärischen Operationen zu errichten, wurde ausgeführt:
Reise nach Syrien
Am 28. Oktober 2013 reisten der Angeklagte XXXX mit dem Mitangeklagten XXXX von Deutschland aus mit einer Mitfahrgelegenheit, die der Angeklagte XXXX organisiert hatte, über XXXX nach XXXX . Der Angeklagte XXXX hatte zwei große Reisetaschen im Umfang von etwa 20 bis 25 kg dabei. Der Inhalt bestand vornehmlich aus gebrauchter Männerbekleidung, insbesondere Snowboardbekleidung der Marken Chiemsee" und 'F2", im Verkaufswert von maximal 300 Euro. Diese Kleidungsstücke waren für XXXX und seine Organisation in Syrien bestimmt. In XXXX trafen sie, wie vorher abgesprochen, XXXX . In einem von diesem übernommenen, später als gestohlen bekannt gewordenen Fahrzeug, einem schwarzen Minibus der Marke Mercedes, österreichische Zulassung XXXX , fuhren sie am nächsten Abend zusammen mit dem ihnen zuvor unbekannten XXXX nach XXXX in Italien, von dort mit der Autofähre weiter nach Griechenland und gelangten am XXXX 2013 in die Türkei. In Istanbul trennten sich die Angeklagten von XXXX . Nachdem sie sich etwa zehn Tage bei der Großmuffer des Mitangeklagten XXXX in Istanbul aufgehalten hatten, holte ein nicht näher bekannter Freund von XXXX die Angeklagten ab und sie flogen zu dritt nach Adana, Türkei. Von dort fuhren sie umgehend mit dem Bus weiter nach Reyhanli zur türkisch-syrischen Grenze und gelangten sodann mit einer Art Taxi mit insgesamt sechs Personen problemlos über die Grenze nach Syrien. Bei dem Fahrer handelte es sich mutmaßlich um einen Freund von XXXX . Er brachte die Gruppe zu einem Haus in Syrien, wo die Angeklagten vereinbarungsgemäß XXXX treffen sollten. Die etwa 10 bis 15 Männer in dem Haus trugen alle Waffen bzw. deren Waffen lagen herum. Die Reise von Istanbul zu diesem Haus in Syrien dauerte etwa eineinhalb Tage.
Aufenthalt in Syrien und Unterstützung von XXXX
Einige Zeit später kam XXXX in das Haus. Der Angeklagte XXXX übergab diesem für ihn und seine Organisation die mitgebrachten Bekleidungsstücke, Diese Bekleidung sollte nach dem Willen des Angeklagte dazu dienen, den Kämpfern der Vereinigung insbesondere warme Kleidung zu verschaffen, um deren Ausrüstung zu verbessern und damit auch deren Aktionsmöglichkeiten positiv zu beeinflussen. Die Übergabe der Bekleidung geschah insbesondere vor dem Hintergrund, dass zum Zeitpunkt des Besuchs des Angeklagten XXXX der Winter unmittelbar bevorstand und es im Winter in Syrien empfindlich kalt werden kann und es auch nicht ungewöhnlich ist, wenn die Temperaturen im Winter unter null Grad fallen oder gar Schnee fällt. Zwar war dem Angeklagten dabei noch nicht im Einzelnen bewusst, bei genau welcher Vereinigung XXXX Mitglied war und dort eine herausgehobene Rolle einnahm. Er nahm aber zumindest billigend in Kauf, dass diese mit Mitteln der Waffengewalt und durch Tötung von Soldaten oder anderen Vertretern der Regierung um den syrischen Machthaber Baschar al-Assad den Sturz des Regimes betrieb, sich für die Errichtung eines Gottesstaates unter Geltung der Scharia einsetzte und auf einem System von Befehl und Gehorsam aufbaute. Erst im Laufe des Aufenthalts weihte ihn XXXX in die Einzelheiten, insbesondere zu Struktur und Zielen der Vereinigung ' XXXX ", ein.
Der Angeklagte XXXX hielten sich dann ein paar Tage in dem Haus auf. Dass der Angeklagte in dieser Zeit an Waffen ausgebildet wurde, an Wach- oder Patrouillentätigkeiten teilnahmen oder gar in Kontakt mit Kriegshandlungen kam, hat der Senat ebenso wenig festzustellen vermocht, wie eine Eingliederung in die Organisation und eine Unterordnung unter deren Willen. Kampfhandlungen hat er während der Zeit seines Aufenthalts nicht mitbekommen.
Zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt während des Aufenthalts in Syrien machte der Angeklagte XXXX mit XXXX einen Ausflug zu dessen eigentlichem Wohn- und Aufenthaltsort, dem "Deutschen Haus", das etwa zwei bis drei Stunden entfernt war. Während der Fahrt durfte der Angeklagte einmal mit der Pistole von XXXX schießen. Dass der Angeklagte darüber hinaus während seines Aufenthalts mit anderen Waffen, insbesondere einer Kalaschnikow oder einer anderen Kriegswaffe, schießen durften, hat der Senat hingegen nicht festzustellen vermocht. Im Rahmen dieses Ausflugs lernte der Angeklagte XXXX den Anführer von " XXXX ", XXXX , kennen, der ihm bei einem zufälligen Treffen durch XXXX vorgestellt wurde und dessen Begegnung bei Ihnen einen nachhaltigen Eindruck hinterließ. Zudem trafen sie eine Gruppe Bosnier um den anderweitig verfolgten XXXX .
Rückreise
Wie von vornherein vereinbart holte derselbe türkische Fahrer, der die Angeklagten nach Syrien gebracht hatte, nach etwa sieben Tagen von ihrem Aufenthaltsort wieder ab und brachte Sie zurück über die Grenze nach Reyhanli. Von dort aus flogen Sie, zusammen mit dem anderweitig verfolgten XXXX , mit einem Flug zunächst nach Istanbul und sodann am XXXX 2013 von Istanbul nach XXXX . Der Angeklagte XXXX kehrte schließlich nach XXXX zurück.
Werben um Mitglieder oder Unterstützer für " XXXX " im Raum XXXX
Nach seiner Reise sah sich der Angeklagte XXXX , auch durch eine entsprechende Absprache mit XXXX , in Ihrem Bestreben gestärkt, die Vereinigung " XXXX " in ihrem Kampf gegen das Regime von Assad (weiter) zu unterstützen. Hierzu trat er jedenfalls im Raum XXXX als Kontaktmann der Vereinigung auf und versuchte, Unterstützer und Mitglieder für ' XXXX " zu gewinnen. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt zwischen dem 22. November 2013 und dem 6. März 2014 sprach der Angeklagte XXXX - an einem nicht näher bestimmbaren Ort im Raum XXXX - mit XXXX , der sich mit dem Gedanken trug, nach Syrien auszureisen, um sich dem Jihad anzuschließen. Der Angeklagte XXXX versuchte XXXX insbesondere dadurch zu einem Anschluss als Mitglied an die Vereinigung " XXXX " zu bewegen, dass er diesem von der Vereinigung und ihrem Anführer vorschwärmte und versprach, ihn zu dieser nach Syrien schleusen zu können. XXXX ging jedoch unwiderlegbar nicht auf dieses Ansinnen ein.
Am XXXX 2014 reiste der Angeklagte XXXX über den Flughafen München nach Istanbul, wobei der Senat den Hintergrund dieser Reise mit Blick auf die oben beschriebene Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO nicht näher aufgeklärt hat. Am. XXXX 2014 verließ der Angeklagte XXXX die Türkei - dieses Mal über den Landweg - wieder und begaben sich zunächst zu seiner in Österreich lebenden Mutter. Da der Angeklagte XXXX damit rechnete, dass gegen ihn in der Bundesrepublik Deutschland ein Ermittlungsverfahren wegen seiner vorbezeichneten Taten geführt wurde, sah er zunächst von einer Wiedereinreise zu seiner Ehefrau und seinen Kindern nach XXXX ab. Erst im Mai 2015 begab er sich wieder dorthin. Mit Haftbefehl des Oberlandesgerichts XXXX 2017 wurde der Angeklagte am XXXX 2017 dort festgenommen.
Von der Verfolgung des Umstandes, dass auf dem Laptop des BF eine Anleitung zur Herstellung von Sprengstoff gefunden wurde, wurde vom Gericht abgesehen.
II.1.2.3. Das BVwG geht davon aus, dass der BF das im deutschen Urteil festgestellte Verhalten gesetzt hat und dieses die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet. Der BF stellt vor dem Hintergrund dieser Tat in Verbindung mit seiner strafrechtlichen Vorgeschichte in Österreich - auch wenn eine längere Zeit des Wohlverhaltens zwischen seinen Taten in Österreich und der im Ausland liegt - eine tatsächliche, gegenwärtige hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar.
Es konnte nicht festgestellt werden, dass die Abschiebung in die Türkei eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur Konvention bedeuten würde oder für den BF als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.
Des Weiteren liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" nicht vor und ist die Erlassung einer Rückkehrentscheidung geboten. Es ergibt sich aus dem Ermittlungsverfahren überdies, dass die Abschiebung des BF in die Türkei zulässig und möglich ist und das verhängte Einreiseverbot dem Verhalten des BF entspricht.
II.1.3. Die Lage im Herkunftsstaat Türkei:
Zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen getroffen:
Politische Lage
Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).
Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, I der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).
Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).
Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).
Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).
Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen 457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen, 5.Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey? http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018
* AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey, http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018
* HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018
* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018
* OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report, http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018
* OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017): INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 2017 - Statement of Preliminary Findings and Conclusions, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/311721?download=true, Zugriff 19.9.2018
* OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights; OSCE Parliamentary Assembly; PACE - Parliamentary Assembly of the Council of Europe (25.6.2018): International Election Observation Mission Republic of Turkey - Early Presidential and Parliamentary Elections - 24.6.2018, https://www.osce.org/odihr/elections/turkey/385671?download=true, Zugriff 19.9.2018
* SCF - Stockholm Center for Freedom (7.9.2019): Turkish gov't investigates 612,347 people over 'armed terror organization' links in 2 years, https://stockholmcf.org/turkish-govt-investigates-612347-people-over-armed-terror-organization-links-in-2-years/, Zugriff 21.9.2018
* TP - Turkey Purge (29.8.2018): Turkey's post-coup crackdown, https://turkeypurge.com/, Zugriff 10.10.2018
* TP - Turkey Purge (10.9.2018): 612,437 people faced terror investigations in Turkey in past 2 years: gov't, https://turkeypurge.com/612437-people-faced-terror-investigations-in-turkey-in-past-2-years-govt, Zugriff 21.9.2018
* ZO - Zeit Online (25.7.2018): Türkei verabschiedet Antiterrorgesetz, https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/tuerkisches-parlament-verabschiedung-neue-gesetze-anti-terror-massnahmen, Zugriff 20.9.2018
Sicherheitslage
Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018). Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).
Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).
1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).
Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018). Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018).
Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).
Quellen:
* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei
* AA - Auswärtiges Amt (10.10.2018a): Reise- und Sicherheitshinweise, http://www.auswaertiges-amt.de/sid_28DF483ED70F2027DBF64AC902264C1D/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/TuerkeiSicherheit_node.html, Zugriff 9.10.2018
* BMEIA - Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres (9.10.2018): Türkei - Sicherheit und Kriminalität, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/tuerkei/, Zugriff 9.10.2018
* CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (2.12.2016): Memorandum on the Human Rights Implications of Anti-Terrorism Operations in South-Eastern [CommDH (2016)39], https://www.ecoi.net/en/file/local/1268258/1226_1481027159_commdh-2016-39-en.pdf, Zugriff 19.9.2018
* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
* EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (19.9.2018): Reisehinweise Türkei, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/tuerkei/reisehinweise-fuerdietuerkei.html, Zugriff 19.9.2018
* MMP - Mixed Migration Platform (1.2018): Mixed Migration Monthly Summery, http://www.mixedmigration.org/wp-content/uploads/2018/05/ms-me-1801.pdf, Zugriff 20.9.2018
* OHCHR - UN Office of the High Commissioner for Human Rights (3.2018): Report on the impact of the state of emergency on human rights in Turkey, including an update on the South-East; January - December 2017, März 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1428849/1930_1523344025_2018-03-19-second-ohchr-turkey-report.pdf, Zugriff 20.9.2018
* SFH - Schweizerische Flüchtlingshilfe (25.8.2016): Türkei: Situation im Südosten - Stand August 2016, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/herkunftslaender/europa/tuerkei/160825-tur-sicherheitslage-suedosten.pdf, Zugriff 24.1.2017
Gülen- oder Hizmet-Bewegung
Wohl kaum eine Person ist in der Türkei so umstritten wie Fethullah Gülen, ein muslimischer Prediger und als solcher charismatisches Zentrum eines weltweit aktiven Netzwerks, das bis vor kurzem die wohl einflussreichste religiöse Bewegung des Landes war. Von seinen Gegnern wird Gülen als Bedrohung der staatlichen Ordnung der Republik Türkei bezeichnet (bpb 1.9.2014). Die Gülen-Bewegung (türk.: Hizmet) definiert sich selbst als "eine weltweite zivile Initiative, die in der geistigen und humanistischen Tradition des Islam verwurzelt ist und von den Ideen und dem Aktivismus des Herrn Fethullah Gülen inspiriert ist" (GM o.D.). Gülen wird von seinen Anhängern als spiritueller Führer betrachtet. Er fördert einen toleranten Islam, der Altruismus, Bescheidenheit, harte Arbeit und Bildung hervorhebt. Die Gülen-Bewegung betreibt Schulen [zahlreiche hiervon wurden geschlossen] rund um den Globus. In der Türkei soll es möglicherweise Millionen Anhänger geben, oft in einflussreichen Positionen. Mit ihrem Fokus auf islamische Werte waren Gülen und seine Anhänger natürliche Verbündete Erdogans, als letzterer die Macht übernahm. Erdogan nutzte die bürokratische Expertise der Gülenisten, um das Land zu führen und dann, um das Militär aus der Politik zu drängen. Nachdem das Militär entmachtet war, begann der Machtkampf (BBC 21.7.2016), der im Dezember 2013 eskalierte, als angeblich Gülen nahestehende Staatsanwälte gegen vier Minister der Regierung des damaligen Ministerpräsidenten Erdogan Ermittlungen wegen Korruption einleiteten. In der Folge versetzte die Regierung die an den Ermittlungen beteiligten Staatsanwälte, Polizisten und Richter (bpb 1.9.2014).
Ein türkisches Gericht hatte im Dezember 2014 Haftbefehl gegen Gülen erlassen. Die Anklage beschuldigte die Hizmet-Bewegung, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zur gleichen Zeit ging die Polizei mit einer landesweiten Razzia gegen mutmaßliche Anhänger Gülens in den Medien vor (Standard 20.12.2014).
Am 27.5.2016 verkündete Staatspräsident Erdogan, dass die Gülen-Bewegung auf der Basis einer Entscheidung des Nationalen Sicherheitsrates vom 26.5.2016 als terroristische Organisation registriert wird (HDN 27.5.2016). In den offiziellen türkischen Quellen wird die "Gülenistische Bewegung" oder das "Netzwerk" nun als FETÖ/PDY, kurz: FETÖ (Fethullah Terror Organisation/ Strukturen des Parallelstaates) bezeichnet. Die türkischen Behörden, von einem breiten Konsens in der Gesellschaft unterstützt, machten angesichts des Putschversuches vom 15.7.2016 unmittelbar die Gülen-Bewegung für dessen Organisation verantwortlich. Fethullah Gülen wies jegliche Involvierung von sich. Bislang verweigerten die USA, wo Gülen im selbstgewählten Exil lebt, dessen Auslieferung (PACE 15.12.2016).
Der Menschenrechtskommissar des Europarates, Nils Mui?nieks, stellte am 7.10.2016 zum vermeintlichen terroristischen Charakter der Gülen-Bewegung fest, dass die Bereitschaft der Gülen-Bewegung Gewalt anzuwenden, was eine Grundvoraussetzung für die Definition von Terrorismus ist, bis zum Tage des Putschversuches für die türkische Öffentlichkeit nicht augenscheinlich war. Er betonte die notwendige Unterscheidung bei der Kriminalisierung der Mitgliedschaft und der Unterstützung der Organisation, nämlich zwischen jenen, die in illegale Handlungen verwickelt sind und jenen, welche Sympathisanten, Unterstützer oder Mitglieder sind, ohne jedoch etwas über die Bereitschaft zur Gewaltbeteiligung zu wissen. Eine bloße Mitgliedschaft in, oder Kontakte zu einer Organisation, selbst wenn diese mit der Gülen-Bewegung in Verbindung steht, reicht nicht für eine strafrechtliche Verantwortung aus. Mui?nieks forderte die Behörden in diesem Zusammenhang auch dazu auf, dass Anklagen wegen Terrorismus nicht rückwirkend auf Handlungen angewendet werden, die vor dem 15.7.2016 als legal galten (CoE-CommDH 7.10.2016).
Die EU stuft die Bewegung des in den USA lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen weiterhin nicht als Terrororganisation ein und steht auf dem Standpunkt, die Türkei müsse schon "substanzielle" Beweise vorlegen, um die EU zu einer Änderung dieser Einschätzung zu bewegen (Standard 30.11.2017).
Besonders besorgniserregend ist, dass auch Angehörige von Verdächtigen direkt oder indirekt von einer Reihe von Maßnahmen betroffen waren, darunter die Entlassung aus der öffentlichen Verwaltung und die Beschlagnahme oder Löschung von Pässen (EC 17.4.2018).
Gülen-Anhänger werden wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Zusätzlich können sie noch wegen Terrorfinanzierung, Leitung bestimmter Gruppierungen, als Imame der Armee, Polizei, usw. angeklagt werden. Die Höchststrafe ist lebenslänglich. Mehrere Delikte (z.B. Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Finanzierung, Mord, etc.) können gleichzeitig angeklagt werden, eventuell verhängte Freiheitsstrafen werden zusammengerechnet (VB 26.9.2018).
Für die Evidenz einer Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung genügen u.a. schon der Besuch eines Kindes an einer der Organisation angeschlossenen Schule, die Einzahlung von Geldern in eine der Organisation angeschlossenen Bank, i.e. die Asya-Bank oder der Besitz des mobilen Messenger-Dienstes "ByLock" (EC 17.4.2018, NYT 13.4.2017); der Besitz einer 1-US-Dollar-Banknote der F-Serie (als geheimes Erkennungszeichen), die Anstellung an einer mit der Gülen-Bewegung (ehemals) verbundenen Institution - z.B. einer Universität oder einem Krankenhaus; das Abonnieren der [vormaligen] Gülen-Zeitung "Zaman" oder der Besitz von Gülens Büchern (NYT 13.4.2017; vgl. taz.gazete 9.2.2018).
Ende November 2017 gab Innenminister Süleyman Soylu bekannt, dass 215.092 Personen als Nutzer der Smartphone-Anwendung "ByLock" aufgelistet und bereits 23.171 Nutzer verhaftet wurden (TM 27.11.2017). Im September 2017 entschied das Kassationsgericht, dass der Besitz von ByLock einen ausreichenden Nachweis für die Aufnahme in die Gülen-Bewegung darstellt. Im Oktober 2017 entschied das Gericht jedoch, dass das Sympathisieren mit der Gülen-Bewegung nicht gleichbedeutend ist mit einer Mitgliedschaft und somit keinen ausreichenden Nachweis für letztere darstellt. Mehrere Personen, die wegen angeblicher Nutzung von ByLock verhaftet wurden, wurden freigelassen, nachdem im Dezember 2017 nachgewiesen wurde, dass Hunderte von Personen zu Unrecht der Nutzung der mobilen Anwendung beschuldigt wurden (EC 17.4.2018). Ende September 2018 wurden mindestens 21 Verdächtige in Istanbul nach Razzien an 54 Orten verhaftet, denen vorgeworfen wurde, die verschlüsselte Messaging-Anwendung ByLock zu verwenden und an Trainingsaktivitäten des Unternehmens beteiligt gewesen zu sein (Anadolu 24.9.2018).
Das Oberste Berufungsgericht entschied, dass diejenigen, die nach dem Aufruf von Fetullah Gülen Anfang 2014 Geld bei der Bank Asya eingezahlt haben, als Unterstützer und Begünstiger der Gülen-Bewegung angesehen werden sollten (DS 11.2.2018). Die Generalstaatsanwaltschaft Ankara hat Ende Mai 2018 Haftbefehle gegen 59 Personen erlassen, die Kunden des inzwischen geschlossenen islamischen Kreditgebers Bank Asya waren, die mit der Gülen-Bewegung verbunden war (TM 30.5.2018).
Laut Innenminister Süleyman Soylu wurden zwischen Juli 2016 und April 2018 77.000 Personen wegen Verbindungen zur Gülen-Bewegung inhaftiert. 2017 wurden 20.478 Personen verhaftet und in Untersuchungshaft genommen, in den ersten drei Monaten des Jahres 2018 weitere 2.706 Personen (SCF 28.4.2018). Türkische Staatsanwälte haben laut Justizministerium [Stand Juni 2018] seit dem Putsch gegen 203.518 Personen wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in der Gülen-Bewegung ermittelt. Demnach wird derzeit 83.722 Anhängern der Gülen-Bewegung der Prozess gemacht und 16.195 befinden sich in Untersuchungshaft. Insgesamt 34.926 Anhänger der Gülen-Bewegung wurden verurteilt, davon 12.617 zu Gefängnisstrafen, während der Rest gegen Kaution frei kam. Insgesamt wurden 13.992 Angeklagte von den Gerichten freigesprochen (SCF 20.6.2018). Mitte Juli 2018 gab Ömer Faruk Aydiner, stellvertretender Unterstaatssekretär im Verteidigungsministerium, bekannt, dass bisher gegen 445.000 Personen Untersuchungen wegen ihrer Verbindungen zur Gülen-Bewegung durchgeführt wurden (TP 2.9.2018). [zu Verurteilungen siehe: 4.Rechtsschutz/Justizwesen].
Präsident Erdogan hatte Ende September 2018 angekündigt, der türkische Geheimdienst werde "Überseeoperationen" gegen Unterstützer Gülens starten. Laut offiziellen Angaben wurden seit dem gescheiterten Putschversuch 80 türkische Staatsbürger in 18 Ländern festgenommen. So wurde z. B. am 28.4.2018 in Aserbaidschan die Ehefrau eines Geschäftsmanns entführt und nach Istanbul verschleppt. Im März 2018 entführten türkische Geheimagenten sechs Männer aus dem Kosovo und brachten sie in einem Privatjet in die Türkei (Standard 3.10.2018, vgl. NYT 5.4.2018).
Quellen:
* Anadolu (24.9.2018): Turkey: Over 20 FETO suspects arrested in Istanbul, https://www.aa.com.tr/en/todays-headlines/turkey-over-20-feto-suspects-arrested-in-istanbul/126289, Zugriff 24.9.2018
* BBC News (21.7.2016): Turkey coup: What is Gulen movement and what does it want? http://www.bbc.com/news/world-europe-36855846, Zugriff 20.9.2018
* bpb - Bundeszentrale für politische Bildung (1.9.2014): Die Gülen-Bewegung in der Türkei und Deutschland, http://www.bpb.de/internationales/europa/tuerkei/184979/guelen-bewegung, Zugriff 20.9.2018
* bpb - Bundeszentrale für politische Bildung. Dohrn, Kristina (27.2.2017): Aus Politik und Zeitgeschichte - Türkei: DIE GÜLEN-BEWEGUNG - Entstehung und Entwicklung eines muslimischen Netzwerks, http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/ApuZ_2017-09-10_online.pdf, Zugriff 20.9.2018
* CoE-CommDH - Council of Europe - Commissioner for Human Rights (7.10.2016): Memorandum on the human rights implications of the measures taken under the state of emergency in Turkey [CommDH(2016)35], https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016806db6f1, Zugriff 20.9.2018
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* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final], https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018
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