TE Vwgh Erkenntnis 2020/6/29 Ra 2017/22/0001

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Veröffentlicht am 29.06.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Passrecht Fremdenrecht
60/04 Arbeitsrecht allgemein
62 Arbeitsmarktverwaltung

Norm

AuslBG §24
AVG §37
AVG §45 Abs2
AVG §45 Abs3
AVG §58 Abs2
AVG §60
NAG 2005 §41 Abs2 Z4
NAG 2005 §41 Abs4
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §29

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Bundesministers für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 13. Oktober 2016, VGW-151/007/3447/2016-9, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: S I H A in W, vertreten durch Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Begründung

1.1. Der Mitbeteiligte, ein ägyptischer Staatsangehöriger, ist bereits seit dem Jahr 2012 auf Grund einer - zuletzt bis zum 25. Juni 2016 verlängerten - Aufenthaltsbewilligung für Studierende in Österreich aufhältig. Am 22. Dezember 2015 stellte er einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot - Karte“ (selbständige Schlüsselkraft) gemäß § 41 Abs. 2 Z 4 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Er stützte den Antrag im Wesentlichen darauf, dass er alleiniger handelsrechtlicher Geschäftsführer und Mehrheitsgesellschafter (zu 70 %) der K GmbH sei, die ein Taxi- und Mietwagenunternehmen betreibe, wobei das Taxigewerbe auf die Verwendung von zehn PKW beschränkt sei.

1.2. Die Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien (im Folgenden: AMS) erstattete am 21. Jänner 2016 ein Gutachten gemäß § 24 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) in der fallbezogen noch anzuwendenden Fassung vor BGBl. I Nr. 66/2017 (vgl. § 34 Abs. 44 AuslBG). Laut dem Gutachten komme dem Betreiben eines - auf die Verwendung von zehn PKW beschränkten - Taxigewerbes durch die GmbH kein gesamtwirtschaftlicher Nutzen zu. Ein solcher wäre nur dann gegeben, wenn durch die selbständige Erwerbstätigkeit entweder ein nachhaltiger Transfer von Investitionskapital oder die Schaffung bzw. Sicherung von Arbeitsplätzen erfolgte. Vorliegend sei mit Blick auf die vorhandenen Unterlagen kein Geldfluss vom Ausland in das Bundesgebiet erfolgt. Ein überprüfbarer Nachweis über die (zukünftige) Beschäftigung von Arbeitskräften sei ebenso nicht erbracht worden. Eine ökonomische Gesamtbedeutung der Erwerbstätigkeit des Mitbeteiligten liege daher nicht vor, dieser sei nicht als selbständige Schlüsselkraft zu erachten.

1.3. Der Mitbeteiligte entgegnete unter Vorlage weiterer Unterlagen, er habe das Kapital für die GmbH aus dem Ausland. Die GmbH habe Arbeitsplätze für 13 Personen geschaffen, der Umsatz im Jahr 2015 habe zirka € 320.000,-- und der Gewinn € 34.000,-- betragen.

1.4. Im Hinblick auf dieses Vorbringen erstattete das AMS am 3. Februar 2016 ein weiteres Gutachten. Es wiederholte darin im Wesentlichen die im Gutachten vom 21. Jänner 2016 abgegebene Beurteilung. Auch aus den weiteren Unterlagen ergebe sich kein gesamtwirtschaftlicher Nutzen im Sinn des § 24 AuslBG. Es sei weder ein Nachweis über einen Geldfluss vom Ausland in das Bundesgebiet noch über die Beschäftigung von Arbeitskräften erbracht worden. Nach den evidenten Fakten komme dem Betreiben eines - auf die Verwendung von zehn PKW beschränkten - Taxigewerbes durch die GmbH keine gesamtökonomische Bedeutung zu.

2.1. Mit Bescheid vom 10. Februar 2016 wies die belangte Behörde den Zweckänderungsantrag des Mitbeteiligten ab. Sie führte begründend aus, das AMS habe schlüssige negative Gutachten erstattet, denen zufolge der Mitbeteiligte keine selbständige Schlüsselkraft sei. Der gegenständliche Antrag sei daher gemäß § 41 Abs. 4 zweiter Satz NAG iVm. § 24 AuslBG ohne weiteres abzuweisen (gewesen).

2.2. Der Mitbeteiligte erhob gegen den Bescheid Beschwerde mit dem wesentlichen Vorbringen, die GmbH verfüge derzeit über neun PKW, wobei eine Aufstockung auf 15 Fahrzeuge geplant sei. Zudem würden zur Zeit 13 Mitarbeiter beschäftigt, wobei ab April 2016 die Beschäftigung weiterer sieben Personen beabsichtigt sei. Der Mitbeteiligte habe durch den Kauf der Fahrzeuge maßgebliche Investitionen (laut den vorgelegten Rechnungen in Höhe von mehr als € 175.000,--) getätigt. Es sei daher nicht nachvollziehbar, dass kein Kapitaltransfer stattgefunden hätte. Zudem seien nachweislich 13 Arbeitsplätze geschaffen worden, ab April 2016 sei die Beschäftigung weiterer sieben Personen geplant. Im Hinblick darauf sei die Erwerbstätigkeit des Mitbeteiligten von gesamtwirtschaftlichem Interesse und liege ein positiver Impuls für die österreichische Wirtschaft vor. Die gegenteiligen Gutachten des AMS seien unschlüssig, die belangte Behörde sei daran nicht gebunden.

2.3. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht brachte der Mitbeteiligte ergänzend vor, aus der (unter einem vorgelegten) Abgabenverrechnung für August 2016 ergebe sich, dass die GmbH mittlerweile 20 Mitarbeiter beschäftige, zudem sollten bis zum Jahr 2017 vier weitere Personen beschäftigt werden. Aus der (ebenso vorgelegten) Gewerbeberechtigung für das Taxigewerbe gehe hervor, dass dieses vorerst auf die Verwendung von 14 PKW beschränkt sei; mit 11. August 2016 sei auch eine Konzession für das Mietwagengewerbe mit einem PKW erteilt worden, wobei das betreffende Fahrzeug erst kürzlich zum Preis von € 23.000,-- angekauft worden sei. Der (ferner vorgelegte) Jahresabschluss 2015 weise eine Umsatzsteigerung von € 33.637,34 (2014) auf € 204.833,13 (2015) aus, einem negativen Betriebserfolg im Jahr 2014 stehe eine „schwarze Null“ im Jahr 2015 gegenüber. Insgesamt sei daher mit Blick auf den vergrößerten Mitarbeiterstand und die stark ausgeweitete Geschäftstätigkeit davon auszugehen, dass das Unternehmen von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung sei und einen Impuls für die Wirtschaft bedeute.

3.1. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gab das Verwaltungsgericht der Beschwerde statt und erteilte dem Mitbeteiligten den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte“ gemäß § 41 Abs. 2 Z 4 NAG für die Dauer von zwölf Monaten.

3.2. In den Entscheidungsgründen legte das Verwaltungsgericht zunächst den bisherigen Verfahrensgang dar, indem es den Spruch des Bescheids wörtlich referierte und dessen Begründung kurz zusammenfasste, das Gutachten des AMS vom 21. Jänner 2016 wörtlich wiedergab, die Bestimmung des § 24 AuslBG zitierte, die gegen den Bescheid vom 10. Februar 2016 erhobene Beschwerde weitgehend wörtlich wiedergab und auch das Vorbringen des Mitbeteiligten in der Verhandlung vom 7. September 2016 wörtlich referierte.

In der Folge führte das Verwaltungsgericht Nachstehendes aus:

„Die Bestimmung des § 24 AuslBG wurde bereits zitiert, weiters ist darauf hinzuweisen, dass eine selbständige Schlüsselkraft naturgemäß nur in einem bestimmten Sektor der Wirtschaft wirken kann, insofern bestimmt sich der ‚gesamtwirtschaftliche Nutzen‘ aus dem Nutzen der Tätigkeit der selbständigen Schlüsselkraft in jenem Sektor der Wirtschaft, in welchem die Schlüsselkraft tätig ist. In der Bestimmung des § 24 AuslBG wird der, damit verbundene Transfer von Investitionskapital durch die Wort[e] und/oder die Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen gleichgesetzt.

Aufgrund des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Wien ist zu schließen, dass der Beschwerdeführer, der handelsrechtlicher Geschäftsführer der K[...] Ges.m.b.H. ist und 70 % der Gesellschaftsanteile besitzt, sich mit steigendem wirtschaftlichem Erfolg im schwierigen Umfeld des Taxi- und Mietwagengewerbes bewegt.

Die Ges.m.b.H. verfügt mittlerweile über 12 praktisch neuwertige Taxi-KFZ und hat eine zusätzlich[e] Konzession für das Mietwagengewerbe erworben (mit einem PKW), auch hier wurde ein Mercedes (B-Klasse) angeschafft.

Die K[...] Ges.m.b.H. beschäftigt mittlerweile 20 Mitarbeiter und hat in den Geschäftsbetrieb (insbesondere für die Anschaffung neuer KFZ) ca. € 175.000 investiert. Der Beschwerdeführer hatte bereits in den Jahren 2012 bis 2015 einen Aufenthaltstitel (als Studierender).

Zu strenge Kriterien an die Zuerkennung einer Rot-Weiß-Rot - Karte für kleinere und mittlere Unternehmer anzulegen, sofern es bereits konkrete Anhaltspunkte für eine erfolgreiche Unternehmensgründung gibt, kann auch dazu führen, dass eine punktuelle Belebung des Wirtschaftslebens und Erweiterung des Angebots bzw. die damit in Zusammenhang stehende Schaffung von (neuen) Arbeitsplätzen übertrieben erschwert wird.

Aufgrund des Ergebnisses des durchgeführten Verfahrens erachtet das Verwaltungsgericht Wien die Voraussetzungen für die Erteilung des Aufenthaltstitels ,Rot-Weiß-Rot - Karte‘ an den Beschwerdeführer für gegeben, es ist ihm ausreichend gelungen, den wirtschaftlichen Nutzen seiner Tätigkeit als selbständiger Taxi- und Mietwagenunternehmer ausreichend zu untermauern.

Es war daher der Beschwerde spruchgemäß Folge zu geben und der beantragte Aufenthaltstitel zuzuerkennen.“

3.3. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass die Revision nicht zulässig sei, weil keine Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen gewesen sei.

4. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revision wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften mit einem Aufhebungsantrag.

Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung und beantragte die Abweisung der Revision.

5. Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Revision - in der unter anderem geltend gemacht wird, das angefochtene Erkenntnis weise erhebliche Begründungsmängel auf (und widerspreche damit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs) - ist zulässig und berechtigt.

6.1. Die Begründung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung hat auf dem Boden des § 29 VwGVG mit Blick auf § 17 VwGVG jenen Anforderungen zu entsprechen, die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden (vgl. VwGH 28.9.2018, Ra 2015/08/0080).

Nach § 60 AVG sind in der Begründung die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Dies erfordert in einem ersten Schritt die eindeutige - eine Rechtsverfolgung durch die Partei im Wege einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ermöglichende - konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, infolge derer bei Vorliegen widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung gerade jener Sachverhalt festgestellt wurde, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch der Entscheidung geführt haben (vgl. VwGH 9.8.2018, Ra 2016/22/0104). Die Darstellung des Verwaltungsgeschehens vermag die fehlende Begründung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht zu ersetzen (vgl. VwGH 20.10.2016, Ra 2016/11/0094). Auch die bloße Zitierung von Beweisergebnissen oder die bloße Inklusion anderweitiger Aktenteile sind nicht geeignet, den Anforderungen an die Begründungspflicht zu entsprechen (vgl. VwGH 24.10.2017, Ra 2016/06/0012; neuerlich Ra 2016/22/0104; 16.12.2014, Ra 2014/19/0101).

Lässt eine Entscheidung die notwendigen Begründungselemente in einer Weise vermissen, dass die Rechtsverfolgung durch die Partei im Wege der nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts maßgeblich beeinträchtigt wird, dann führt ein solcher Begründungsmangel zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung schon aus diesem Grund (vgl. VwGH 12.3.2020, Ra 2017/22/0137; 18.2.2015, Ra 2014/03/0045).

6.2. Vorliegend wird das angefochtene Erkenntnis den aufgezeigten Anforderungen an eine gesetzmäßige Begründung nicht gerecht.

Die bekämpfte Entscheidung lässt eine Darstellung der erforderlichen Begründungselemente nicht einmal im Ansatz erkennen. Das Verwaltungsgericht beschränkt sich darauf, diverse Aktenteile großteils wortwörtlich zu referieren und sodann einige kursorische resümierende Erwägungen anzustellen (vgl. näher Punkt 3.2.). Darin ist jedoch keine ordnungsgemäße Begründung im Sinn der obigen Ausführungen zu erblicken. Es fehlt vielmehr an den - aufeinander aufbauenden und formal voneinander zu trennenden - notwendigen Begründungselementen, nämlich den gebotenen Tatsachenfeststellungen, einer nachvollziehbaren Beweiswürdigung und einer entsprechenden rechtlichen Beurteilung.

6.3. Daran kann fallbezogen auch nichts ändern, dass das Verwaltungsgericht in seinem kursorischen Resümee festhielt, die GmbH verfüge in ihrem Taxi- und Mietwagenbetrieb über 13 neuwertige PKW, habe € 175.000,-- investiert und beschäftige mittlerweile 20 Mitarbeiter.

Diese Ausführungen sind schon deshalb unzureichend, weil das Verwaltungsgericht nicht näher darlegte, auf Grund welcher Beweisergebnisse und Erwägungen es zu den getroffenen Annahmen gelangte. Die Festlegungen sind daher auf Basis der vorliegenden Entscheidungsgründe nicht schlüssig nachvollziehbar.

Die Ausführungen sind überdies nicht geeignet, die Erfüllung der Voraussetzungen des § 41 Abs. 2 Z 4 NAG iVm. § 24 AuslBG darzutun. So wird in keiner Weise dargelegt, dass die investierten Mittel vom Ausland in das Bundesgebiet transferiert worden wären. Was die Mitarbeiter betrifft, so wird insbesondere nicht näher dargetan, für welchen Zeitraum und in welchem Ausmaß die jeweilige Beschäftigung tatsächlich erfolgt sei. Im Hinblick darauf kann aber auf Basis der Entscheidungsgründe nicht beurteilt werden, ob ein gesamtwirtschaftlicher Nutzen besteht (oder nicht).

6.4. In Anbetracht der gravierenden Mängel unterschreitet die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses die Qualitätserfordernisse einer rechtsstaatlichen Entscheidung und beeinträchtigt die nachprüfende Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof.

7. Das angefochtene Erkenntnis war somit wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

8. Mit Blick auf das fortgesetzte Verfahren ist ergänzend auf Folgendes hinzuweisen:

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bedeutet die Anordnung des § 41 Abs. 4 zweiter Satz NAG, wonach bei Vorliegen eines negativen Gutachtens im Sinn des § 24 AuslBG der Antrag ohne weiteres abzuweisen ist, nicht, dass das Gutachten des AMS durch den Antragsteller nicht entkräftet oder widerlegt werden könnte oder dass die Behörde bzw. das Verwaltungsgericht an ein unschlüssiges Gutachten gebunden wäre. Vielmehr gilt auch in Bezug auf die Würdigung dieses Beweismittels, dass die in § 45 AVG verankerten allgemeinen Verfahrensgrundsatze der materiellen Wahrheit, der freien Beweiswürdigung und des Parteiengehörs uneingeschränkt Anwendung finden (vgl. etwa VwGH 7.1.2020, Ra 2017/22/0215; 10.12.2013, 2013/22/0200).

Einem entsprechenden Vorbringen bzw. diesbezüglichen Beweismitteln des Antragstellers kann daher die Eignung zukommen, damit - entgegen einem negativen Gutachten des AMS - die Erfüllung der Voraussetzungen des § 24 AuslBG darzutun. Die belangte Behörde bzw. das Verwaltungsgericht muss sich mit dem Vorbringen bzw. den Beweismitteln auseinandersetzen und diese - ebenso wie das Gutachten des AMS - in seine Würdigung einbeziehen. Die abschließende Entscheidung kommt der Behörde bzw. dem Verwaltungsgericht zu, die bzw. das die Schlüssigkeit des Gutachtens des AMS zu überprüfen hat. Eine grundsätzliche Verpflichtung, in jedem Fall ein weiteres Gutachten des AMS einzuholen, wenn das vorliegende Gutachten als unschlüssig erachtet wird, besteht nicht (vgl. etwa VwGH 21.9.2017, Ra 2017/22/0035; 21.3.2017, Ra 2017/22/0027). Es sind jedoch die Gründe, infolge derer ein vorliegendes Gutachten des AMS - ohne Einholung eines weiteren Gutachtens - einer abweichenden eigenständigen Bewertung und Beurteilung unterzogen wird, nachvollziehbar darzulegen.

Ausgehend davon ist fallbezogen der vom Revisionswerber erhobene Vorwurf, das Verwaltungsgericht wäre von der Rechtsprechung abgewichen, indem es von den als unschlüssig erachteten negativen Gutachten des AMS abgegangen sei, ohne ein weiteres aktuelles positives Gutachten des AMS einzuholen, nicht begründet. Das Vorgehen des Verwaltungsgerichts ist grundsätzlich mit der aufgezeigten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs vereinbar (vgl. dazu neuerlich VwGH Ra 2017/22/0035 und Ra 2017/22/0027 zu ähnlich gelagerten Fallkonstellationen). Ein diesbezüglicher Verfahrensmangel ist daher nicht gegeben. Das Abgehen vom Gutachten des AMS erfordert jedoch - wie schon gesagt - eine entsprechende Begründung.

Wien, am 29. Juni 2020

Schlagworte

Begründung Begründungsmangel Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel Besondere Rechtsgebiete freie Beweiswürdigung Parteiengehör Allgemein Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Materielle Wahrheit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2017220001.L00

Im RIS seit

01.09.2020

Zuletzt aktualisiert am

01.09.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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