TE Vwgh Erkenntnis 2020/6/17 Ra 2019/20/0212

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Veröffentlicht am 17.06.2020
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art2
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2019/20/0233
Ra 2019/20/0234

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision 1. des M H Z, 2. der S Z, und 3. des M Z, alle in L, alle vertreten durch Mag. Alissa Papp, Rechtsanwältin in 5020 Salzburg, Alpenstraße 26, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. März 2019, 1. W123 2187419-1/16E, 2. W 123 2187416- 1/6E und 3. W123 2187420-1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang (Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten sowie rechtlich darauf aufbauender Aussprüche) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet. Der Drittrevisionswerber ist ihr am 18. März 2017 geborener Sohn. Sie alle sind Staatsangehörige Afghanistans.

2        Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin stellten am 9. Dezember 2015 und der Drittrevisionswerber, vertreten durch den Erstrevisionswerber als gesetzlichen Vertreter, am 5. April 2017 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

3        Mit Bescheiden je vom 26. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Behörde legte die Frist zur freiwilligen Ausreise jeweils mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

4        Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies die dagegen erhobenen Beschwerden nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5        Begründend führte das BVwG - soweit für den vorliegenden Revisionsfall von Bedeutung - aus, den revisionswerbenden Parteien sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat zumutbar. Beim Erstrevisionswerber handle es sich um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann, der auf eine zwölfjährige Schulbildung mit Maturaabschluss und eine vier- bis fünfjährige Berufserfahrung als Bankangestellter zurückgreifen könne. Die Zweitrevisionswerberin sei ebenfalls eine junge, arbeitsfähige und gesunde Frau, bei der die grundsätzliche Teilnahme am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Sie habe eine zwölfjährige Schulbildung mit Maturaabschluss. Der Familie sei aufgrund ihrer finanziellen Situation die wirtschaftliche Existenz im Herkunftsstaat nicht verunmöglicht gewesen, weshalb auch nicht davon auszugehen sei, dass dies bei einer Rückkehr der Fall sein sollte. Ferner sei zu berücksichtigen, dass die Familie der Zweitrevisionswerberin in Afghanistan über ein Haus und zwei Grundstücke verfüge. Die Mütter, die Geschwister und weitere Verwandte des Erstrevisionswerbers und der Zweitrevisionswerberin würden in Afghanistan in deren Heimatort wohnen. Es sei von den Verwandten zu erwarten, dass sie den revisionswerbenden Parteien eine ausreichende Unterstützung zuteilwerden ließen (beispielsweise durch Überweisungen) und andererseits der Erstrevisionswerber den Lebensunterhalt der Familie sichern könne. Bei einer Rückkehr in den Familienverband sei auch nicht zu befürchten, dass der minderjährige Drittrevisionswerber einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt wäre.

6        Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich ausschließlich gegen die Nichtgewährung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und die rechtlich darauf aufbauenden Sprüche wendet. Zu ihrer Zulässigkeit wird im Wesentlichen geltend gemacht, das BVwG sei von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es zur Frage des Vorhandenseins einer innerstaatlichen Fluchtalternative auf den minderjährigen Drittrevisionswerber nicht ausreichend Bedacht genommen habe. Es fehle eine Auseinandersetzung damit, welche konkrete Situation die Familie bei einer Rückkehr nach Afghanistan vorfinden werde. Das BVwG habe bei seiner Beurteilung aktuelle Richtlinien und aktuelle Berichte zur Lage in Afghanistan außer Acht gelassen.

7        Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das BVwG sowie nach Einleitung des Vorverfahrens - es wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8        Die Revision ist zulässig und begründet.

9        Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) an entsprechende Empfehlungen des UNHCR gebunden wären. Sie haben sich aber mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. etwa VwGH 7.6.2019, Ra 2019/14/0114, mwN).

10       Das BVwG zitiert in seiner Entscheidung zwar die in der UNHCR-Richtlinie zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 zum Ausdruck gebrachte Position, wonach „angesichts der gegenwärtigen Sicherheitslage sowie der menschenrechtlichen und humanitären Lage in Kabul eine interne Flucht- und Neuansiedlungsalternative in dieser Stadt ‚generell‘ nicht zur Verfügung stehe“. Eine nachvollziehbare Begründung, warum es den revisionswerbenden Parteien von dieser Einschätzung abweichend dennoch möglich sein soll, in Kabul - ohne familiäres oder sonstiges Unterstützungsnetzwerk vor Ort - ein Leben ohne unbillige Härten führen zu können, lässt sich der Entscheidung allerdings nicht entnehmen.

11       Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes problematisiert der UNHCR die Verfügbarkeit einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative für afghanische Staatsangehörige aber auch in Bezug auf andere Städte als Kabul und macht diese von einer sorgfältigen Prüfung für den jeweiligen Antragsteller unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände abhängig (vgl. VwGH 26.3.2019, Ra 2019/19/0043, mwN). Eine besondere Vulnerabilität - etwa aufgrund von Minderjährigkeit - ist bei der Beurteilung, ob bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die Familie mit zumindest einem minderjährigen Kind - fallbezogen in Afghanistan - tatsächlich vorfinden wird (vgl. VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0381, mwN).

12       Das BVwG hat sich in Abweichung von dieser Rechtsprechung nicht ausreichend mit der Situation auseinandergesetzt, welche die revisionswerbenden Parteien, ein Kleinkind mit seinen Eltern ohne festgestellten eigenen Besitz und ohne familiäres oder sonstiges Unterstützungsnetzwerk vor Ort in den Städten Herat und Mazar e-Sharif zu erwarten hätte.

13       Das angefochtene Erkenntnis war sohin in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten sowie der rechtlich darauf aufbauenden Aussprüche, die ihre Grundlage verlieren, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

14       Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 17. Juni 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019200212.L00

Im RIS seit

22.07.2020

Zuletzt aktualisiert am

22.07.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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