TE Vwgh Erkenntnis 2020/5/18 Ra 2019/18/0356

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.05.2020
beobachten
merken

Index

E3L E19103000
E3L E19103010
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8 Abs1
MRK Art3
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
32011L0095 Status-RL Art8 Abs1
32011L0095 Status-RL Art8 Abs2
32013L0032 IntSchutz-RL Art10 Abs3 litb

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in  Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des E M, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Juli 2019, W198 2168155-1/14E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung und sohin insoweit, als damit die Beschwerde des Revisionswerbers gegen die Spruchpunkte II. bis IV. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28. Juli 2017 abgewiesen wurde (Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und darauf aufbauende Entscheidungen), wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 EUR binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 16. September 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, im Alter von sieben Monaten mit seiner Familie vor einem Mujaheddin-Kommandanten in den Iran geflohen zu sein. Da er keine Papiere habe, könne er im Iran keiner Arbeit nachgehen und aufgrund einer ihm unterstellten oppositionellen politischen Gesinnung auch nicht nach Afghanistan zurückkehren.

2 Mit Bescheid vom 28. Juli 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine zweiwöchige Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Am 15. Jänner 2019 erlitt der Revisionswerber während seines Lehrverhältnisses als Elektriker einen Arbeitsunfall, im Zuge dessen er sich einen Schraubenzieher ins Auge stieß, wodurch sein Auge perforiert und seine Sehfähigkeit eingeschränkt wurde. 4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab und erklärte die ordentliche Revision für nicht zulässig.

5 Begründend sprach das BVwG dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers die Glaubhaftigkeit ab und erachtete eine asylrelevante Verfolgung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan als nicht wahrscheinlich. Hinsichtlich der Nichtgewährung subsidiären Schutzes erwog das BVwG, dass eine Rückkehr des Revisionswerbers in seine Herkunftsprovinz aufgrund der dort volatilen Sicherheitslage nicht in Betracht komme, jedoch sei die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif möglich und zumutbar. Der Revisionswerber sei arbeitsfähig und verfüge über eine langjährige Schulbildung sowie über Berufserfahrung als Elektriker. Aufgrund seines erlittenen Arbeitsunfalles und der daraus resultierenden Verletzung am Auge sei seine Sehfähigkeit zwar eingeschränkt, doch würde sich dies nach einer weiteren Operation verbessern. Bei Rückkehr könne er sich durch Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten seine Existenzgrundlage sichern, wobei ihm seine Tätigkeit als Elektriker zugutekomme und kein Grund ersichtlich sei, weshalb er in Afghanistan keiner Tätigkeit nachgehen könne. Im Rahmen der Rückkehrentscheidung führte das BVwG eine näher begründete Interessenabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG durch und kam zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen gegenüber den privaten des Revisionswerbers überwögen.

6 Die vorliegende außerordentliche Revision wendet sich gegen die Nichtgewährung subsidiären Schutzes sowie die erlassene Rückkehrentscheidung und bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, bei dem Revisionswerber handle es sich aufgrund des erlittenen Arbeitsunfalles um einen alleinstehenden Mann mit besonderer Vulnerabilität. Das BVwG habe es in diesem Zusammenhang unterlassen, Feststellungen über weitere Behandlungsmöglichkeiten in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif zu treffen. Des Weiteren habe das BVwG die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 mangelhaft berücksichtigt und die EASO-Richtlinien für Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan, June 2018) sowie den ACCORD-Bericht vom 7. Dezember 2018 zu Afghanistan nicht in seine Entscheidung miteinbezogen. Schließlich überwögen die Abwägungsaspekte und Umstände, welche für die Einräumung eines aus Art. 8 EMRK abgeleiteten Bleiberechts und gegen die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sprächen, im Revisionsfall angesichts der besonderen Sachverhaltskonstellation deutlich. 7 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig und auch begründet.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung

bereits mehrfach erkannt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 11.3.2020, Ra 2019/18/0443, mwN). Dabei hat sich das BVwG auch mit den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 sowie den Vorgaben der EASO Country Guidance Notes zu Afghanistan in adäquater Weise auseinanderzusetzen (vgl. VwGH 7.2.2020, Ra 2019/18/0400, mwN).

10 In Zusammenhang mit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative berücksichtigte das BVwG zwar die Wirtschafts- und Versorgungslage sowie die allgemeinen Gegebenheiten in Herat und Mazar-e Sharif, setzte sich jedoch entgegen der höchstgerichtlichen Rechtsprechung in unzureichendem Ausmaß mit den persönlichen Umständen des Revisionswerbers hinsichtlich seiner spezifischen Vulnerabilität infolge des erlittenen Arbeitsunfalles auseinander.

11 Bezüglich des Gesundheitszustands des Revisionswerbers stellte das BVwG dabei zwar selbst fest, dass er aufgrund seines Arbeitsunfalles "bereits mehrfach am Auge operiert" worden sei, seine Sehfähigkeit "nach wie vor sehr eingeschränkt" und ein "weiterer Operationstermin in Österreich geplant" sei. Länderfeststellungen zur medizinischen Versorgungslage, der Möglichkeit einer medizinischen Behandlung bzw. der diesbezüglichen Gesundheitsversorgung in Afghanistan fehlen im angefochtenen Erkenntnis jedoch ebenso wie eine weitere Auseinandersetzung mit den Folgen der Verletzung des Revisionswerbers für seine Versorgungssituation im Falle einer Rückkehr.

12 Auch wenn nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes Schwierigkeiten bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche grundsätzlich noch nicht die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative begründen, sofern es sich um einen volljährigen, arbeitsfähigen und gesunden jungen Mann handle (vgl. etwa VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309, mwN), so ist im Revisionsfall doch zu beachten, dass aufgrund der verminderten Sehfähigkeit des Revisionswerbers nach dem erlittenen Arbeitsunfall gerade nicht von einem vollständig gesunden Mann ausgegangen werden kann. Die besondere Vulnerabilität des Revisionswerbers hätte in diesem Zusammenhang daher vom BVwG stärker berücksichtigt werden müssen und eine spezifischere Auseinandersetzung mit den ihn bei Rückkehr zu erwartenden Umständen erfordert.

13 Vor dem Hintergrund der festgestellten körperlichen Einschränkung des Revisionswerbers in seiner Sehfähigkeit sowie der vom BVwG ebenso festgestellten angespannten Arbeitsmarktsituation und Versorgungslage in Afghanistan hätte sich das BVwG daher mit den für den Revisionswerber in Frage kommenden Arbeitsmöglichkeiten sowie dem Zugang zu diesen und der daraus resultierenden Versorgungslage des Revisionswerbers in einer spezifischeren und konkreten Form auseinandersetzen müssen, zumal der Revisionswerber nach den Feststellungen des BVwG den Großteil seines Lebens im Iran verbracht hat und in Afghanistan auch über keinerlei soziale Anknüpfungspunkte und familiäres Netzwerk verfügt. Auch stellt sich der Hinweis des BVwG, dass laut Angaben des Revisionswerbers nach der Meinung des behandelnden Arztes nach einer weiteren Operation von einer deutlichen Besserung auszugehen sei, als rein spekulativ dar.

14 Die Revision zeigt damit zu Recht auf, dass das BVwG sich im angefochtenen Erkenntnis nicht ausreichend damit auseinander gesetzt hat, wie dem Revisionswerber trotz verminderter Sehfähigkeit und weiterer notwendiger medizinischer Eingriffe die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zugemutet werden könne.

15 Im Übrigen erscheint dem Verwaltungsgerichtshof - unabhängig von der Mangelhaftigkeit der Entscheidung betreffend subsidiären Schutz - auch die getroffene Rückkehrentscheidung des BVwG nicht ausreichend begründet. Im Rahmen der dazu durchgeführten Interessenabwägung berücksichtigte das BVwG die umfassenden Deutschkenntnisse des Revisionswerbers, seinen Lehrberuf als Elektrotechniker, die diesbezügliche Absolvierung von Trainingsmodulen sowie den positiven Abschluss der Berufsschule und die Aufenthaltsdauer von 4 Jahren und 10 Monaten. Demgegenüber verwies es auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinsichtlich der sich relativierenden Integrationsbemühungen während eines unsicheren Aufenthaltes und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwögen.

16 Der im Iran aufgewachsene Revisionswerber befindet sich nach den Feststellungen des BVwG somit seit 4 Jahren und 10 Monaten im Inland, absolvierte - bis zur Unterbrechung der Lehre aufgrund des angefochtenen Erkenntnisses und Ruhendstellung bis zur allfälligen Wieder-Erlangung eines eine Beschäftigung zulassenden Status - eine Lehre als Elektrotechniker, schloss die Berufsschule positiv ab und besitzt umfassende Deutschkenntnisse. Bemerkenswert ist damit schon die lange Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers von fast fünf Jahren, die diesen Fall von anderen Fällen besonderer Integrationsbemühungen unterscheidet. Dazu kommt als Besonderheit des Revisionsfalls der im Inland erlittene Arbeitsunfall, womit es sich bei dem Revisionswerber - eben gerade infolge seiner Bemühungen um eine Integration in Österreich durch Eingehen einer Lehrausbildung - nicht mehr uneingeschränkt um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann handelt. 17 Warum bei dieser Sachlage nicht von einer derartigen Verdichtung der persönlichen Umstände gesprochen werden kann, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" iSd hg. Rechtsprechung gesprochen werden kann und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0289, mwN zur Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes), legt das angefochtene Erkenntnis mit seinem pauschalen Verweis auf die Rechtsprechung zur grundsätzlich relativierenden Wirkung von integrationsbegründenden Schritten während eines unsicheren Aufenthaltes nicht dar.

18 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung subsidiären Schutzes und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

19 Der Kostenzuspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. Mai 2020

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180356.L00

Im RIS seit

23.06.2020

Zuletzt aktualisiert am

23.06.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten