TE Vwgh Erkenntnis 2019/6/19 Ra 2019/18/0084

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Veröffentlicht am 19.06.2019
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
EURallg
MRK Art2
MRK Art3
32013L0033 Aufnahme-RL Art21

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/18/0085Ra 2019/18/0086Ra 2019/18/0087Ra 2019/18/0088Ra 2019/18/0089Ra 2019/18/0090Ra 2019/18/0091Ra 2019/18/0092Ra 2019/18/0093

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Sutter als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision 1. O O, 2. I A, 3. F F, 4. S F, 5. R F, 6. Z F, 7. Fa F,

8. A F, 9. H F, und 10. B F, alle vertreten durch Mag. Sebastian Feigl, Rechtsanwalt in 3300 Amstetten, Preinsbacherstraße 5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Jänner 2019, Zlen. G306 2182385-1/11E, G306 2182369-1/11E, G306 2182374-1/10E, G306 2182381-1/10E, G306 2182379-1/10E, G306 2182384-1/10E, G306 2182375-1/10E, G306 2182371-1/10E, G306 2182377-1/10E und G306 2182373-1/10E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet.

II. zu Recht erkannt:

In seinem übrigen Umfang wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind Mitglieder einer Familie; der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten, die dritt- bis zehntrevisionswerbenden Parteien sind ihre minderjährigen Kinder im Alter zwischen vier und vierzehn Jahren. Sie alle sind irakische Staatsangehörige, gehören zur arabischen Volksgruppe und bekennen sich zum muslimischen Glauben. Der Erstrevisionswerber ist Sunnit, die Zweitrevisionswerberin ist Schiitin. Hinsichtlich der dritt- bis zehntrevisionswerbenden Parteien konnte eine Zuordnung zur sunnitischen oder schiitischen Glaubensrichtung nicht festgestellt werden. Sie lebten bis zu ihrer Ausreise in der südirakischen Stadt Basra.

2 Die revisionswerbenden Parteien stellten am 16. November 2015 Anträge auf internationalen Schutz, die im Wesentlichen damit begründet wurden, dass der Erstrevisionswerber, der ein Geschäft besessen habe, einen Drohbrief - vermutlich von konkurrierenden Geschäftsleuten - erhalten habe.

3 Mit Bescheiden vom 23. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge ab, erteilte keine Aufenthaltstitel nach § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen die revisionswerbenden Parteien Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung in den Irak zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest.

4 Die dagegen erhobene gemeinsame Beschwerde der revisionswerbenden Parteien wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Die Revision wurde für nicht zulässig erklärt.

5 Begründend führte das BVwG - zusammengefasst - aus, das Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien sei aus näher genannten Gründen nicht glaubhaft. Es drohe auch keine asylrelevante Verfolgung wegen der sunnitisch-schiitischen "Mischehe". Auch lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten nicht vor. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin seien arbeitsfähig. Aufgrund ihres umfangreichen Familien- und Verwandtschaftskreises, zu welchem Kontakt bestehe, würde den revisionswerbenden Parteien eine ausreichende wirtschaftliche und soziale Unterstützung zuteil. Das BVwG verkenne nicht, dass die Region Basra wiederholt Schauplatz von Anschlägen, Gewaltakten und Demonstrationen sei; es sei aber nicht wahrscheinlich, dass die revisionswerbenden Parteien aufgrund ihrer bloßen Präsenz Opfer eines Anschlags würden. Die irakische Regierung habe weiters eine Verbesserung der Versorgungslage zugesichert und es sei deshalb von einer Stabilisierung und Besserung der Lage auszugehen. Nötigenfalls könnten die revisionswerbenden Parteien sich auch in Bagdad niederlassen.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache einerseits moniert, die in der mündlichen Verhandlung unvertretenen revisionswerbenden Parteien hätten durch den Verhandlungsrichter angeleitet werden müssen, weiteres Vorbringen zur Gefährdung von Personen, die eine sunnitisch-schiitische "Mischehe" eingegangen seien, sowie zu den daraus resultierenden Problemen für deren Nachkömmlinge, zu erstatten. Zum anderen moniert die Revision die bestehende schlechte Lage in Basra und macht geltend, dass bei einer Rückführung das Kindeswohl gefährdet wäre.

7 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision ist teilweise zulässig und teilweise begründet. 10 Zu Spruchpunkt I.:

11 Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet, gelingt es ihr nicht, eine Rechtsfrage darzulegen, der - entgegen dem Ausspruch des BVwG - im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. 12 Das BVwG erwog nachvollziehbar und unter Heranziehung von Länderberichten, dass den revisionswerbenden Parteien durch das Eingehen der sunnitisch-schiitischen Mischehe keine asylrelevante Verfolgung drohe. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach erkannt, dass eine im Einzelfall vorgenommene, nicht als grob fehlerhaft erkennbare Beweiswürdigung im Allgemeinen keine über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufwirft (vgl. VwGH 14.3.2019, Ra 2019/18/0068 bis 0072, mwN).

13 Soweit die revisionswerbenden Parteien eine Verletzung der Manuduktionspflicht geltend machen, ist festzuhalten, dass sich diese nach § 13a AVG auf Verfahrenshandlungen und deren Rechtsfolgen bezieht. Das BVwG war jedoch nicht verhalten, den revisionswerbenden Parteien Unterweisungen zu erteilen, wie sie ihr Vorbringen zu gestalten hätten, um einen von ihnen angestrebten Erfolg zu erreichen (vgl. VwGH 9.10.2017, Ra 2017/18/0346, mwN).

14 Zu Spruchpunkt II.:

15 Berechtigung kommt der Revision jedoch insoweit zu, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten richtet.

16 Das BVwG führte aus, es wäre dem Erstrevisionswerber, der bereits vor der Ausreise für die Familie ein ausreichendes Einkommen erwirtschaften habe können, und der Zweitrevisionswerberin zuzumuten, sich um einen Arbeitsplatz und Wohnraum im Herkunftsstaat zu bemühen. Es sei weiters auf die Unterstützungsmöglichkeit durch die Verwandten in Basra zu verweisen. Zudem bestehe die Möglichkeit, dass sich die revisionswerbenden Parteien nötigenfalls in einem anderen Teil des Irak, zum Beispiel in Bagdad, niederlassen.

17 Dass es sich bei den revisionswerbenden Parteien um eine Familie mit acht minderjährigen Kindern, sohin um besonders vulnerable Personen handelt, lässt das BVwG gänzlich außer Betracht. Nach der hg. Rechtsprechung besteht vor allem unter dem Gesichtspunkt der besonderen Vulnerabilität von Kindern die Verpflichtung, eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, die eine Familie mit minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr zu erwarten habe, durchzuführen (vgl. etwa VwGH 4.10.2018, Ra 2018/18/0229 bis 0232, mwN). Dieser Verpflichtung wird das BVwG mit seinen lediglich allgemein gehaltenen Ausführungen nicht gerecht, zumal es sich im Revisionsfall um eine sunnitisch-schiitische "Mischehe" handelt. Insbesondere lässt das BVwG eine konkrete Auseinandersetzung mit der tatsächlich vorzufindenden Rückkehrsituation vermissen. Dies sogar ungeachtet der eigenen Länderfeststellungen des BVwG, wonach sich der Irak in einer "schweren Wasserkrise" befinde, von der Basra besonders betroffen sei und im Zuge derer die Gesundheitsbehörde Basra aktuell vor einem Choleraausbruch warne, und Nahrungsmittelunsicherheit herrsche, weshalb Kinder zu 22,6% unterernährt seien.

18 Sofern das BVwG ausführt, die revisionswerbenden Parteien könnten sich auch in Bagdad niederlassen und damit auf das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative abzielt, lässt das Erkenntnis eine konkrete Auseinandersetzung mit dem der innerstaatlichen Fluchtalternative innewohnenden Zumutbarkeitskalkül zur Gänze vermissen (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001).

19 Damit hat das BVwG seine Entscheidung mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet, weil nicht auszuschließen ist, dass das BVwG nach konkreter Auseinandersetzung mit der tatsächlich vorzufindenden Rückkehrsituation zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass den revisionswerbenden Parteien subsidiärer Schutz zu gewähren gewesen wäre.

20 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten jedoch gemäß § 34 Abs. 1 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.

21 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14.

Wien, am 19. Juni 2019

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019180084.L00

Im RIS seit

20.08.2019

Zuletzt aktualisiert am

20.08.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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