TE Vfgh Beschluss 1996/12/11 G56/96

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Veröffentlicht am 11.12.1996
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Index

24 Strafrecht
24/02 Jugendgerichtsbarkeit

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Individualantrag
JGG ArtIX Abs1
StGB §323 Abs2

Leitsatz

Zurückweisung des Individualantrags auf Aufhebung von Übergangsbestimmungen des StGB und des JGG mangels unmittelbarer Betroffenheit des Antragstellers und infolge Zumutbarkeit des gerichtlichen Rechtsweges

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung:

1.1. Der Abs2 des unter der Überschrift "Übergangsbestimmungen" stehenden §323 des Strafgesetzbuches - StGB, BGBl. Nr. 60/1974, hat folgenden Wortlaut:

"(2) Dieses Bundesgesetz ist in Strafsachen nicht anzuwenden, in denen vor seinem Inkrafttreten das Urteil in erster Instanz gefällt worden ist. Nach Aufhebung eines solchen Urteiles infolge einer Nichtigkeitsbeschwerde, Berufung oder Wiederaufnahme des Strafverfahrens oder eines Einspruches ist jedoch im Sinne der §§1 und 61 in Verbindung mit Abs1 vorzugehen."

Diese Vorschrift trat am 1. Jänner 1975 in Kraft (§322 Abs1 leg.cit.).

1.2. Der mit "Übergangs- und Schlußbestimmungen" überschriebene Abs1 des ArtIX Jugendgerichtsgesetz 1988 - JGG, BGBl. Nr. 599/1988, lautet wie folgt:

"(1) Der dritte und vierte Abschnitt dieses Bundesgesetzes, die durch den ArtII geänderten Bestimmungen des Strafgesetzbuches und die durch ArtV Z1 bis 4 geänderten Bestimmungen des Finanzstrafgesetzes sind in Strafsachen nicht anzuwenden, in denen vor ihrem Inkrafttreten das Urteil oder Erkenntnis in erster Instanz gefällt worden ist. Nach Aufhebung eines Urteils oder Erkenntnisses infolge Nichtigkeitsbeschwerde, Berufung oder Wiederaufnahme des Strafverfahrens ist jedoch im Sinne der §§1, 61 StGB vorzugehen."

Diese Vorschrift trat am 1. Jänner 1989 in Kraft (ArtVIII Abs1 leg.cit.).

1.3. Gemäß §1 JGG ist Jugendlicher im Sinne dieses Gesetzes, "wer das vierzehnte, aber noch nicht das neunzehnte Lebensjahr vollendet hat"; eine Jugendstraftat ist dieser Bestimmung zufolge "eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung, die von einem Jugendlichen begangen wird".

Der im dritten Abschnitt des JGG stehende §5 ordnet an, daß für die Ahndung von Jugendstraftaten die allgemeinen Strafgesetze gelten, soweit im folgenden nichts anderes bestimmt ist. Seine Z2 lautet wie folgt:

"2. An die Stelle der Androhung einer lebenslangen Freiheitsstrafe und der Androhung einer Freiheitsstrafe von zehn bis zu zwanzig Jahren oder lebenslanger Freiheitsstrafe tritt,

a) wenn ein Jugendlicher die Tat nach Vollendung des sechzehnten Lebensjahres begangen hat, die Androhung einer Freiheitsstrafe von einem bis zu fünfzehn Jahren,

b) sonst die Androhung einer Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren."

2. Mit dem vorliegenden Antrag wird mit näherer Begründung die Aufhebung des §323 Abs2 StGB, BGBl. Nr. 60/1974, und des ArtIX Abs1 JGG, BGBl. Nr. 599/1988, begehrt.

Zur Antragslegitimation wird ausgeführt, der Antragsteller sei mit am 6.4.1984 rechtskräftig gewordenem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 2.2.1984 zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von 20 Jahren verurteilt worden, die er derzeit in der Justizanstalt Stein verbüße. Er sei am 6.7.1964 geboren worden; zur Tatzeit im Jänner und Februar 1983 habe er bereits das 18., nicht jedoch das 19. Lebensjahr vollendet gehabt.

Während der Verbüßung der Freiheitsstrafe habe sich die Rechtslage dahin geändert, daß seither als Jugendlicher gelte, wer das 14., noch nicht aber das 19. Lebensjahr vollendet habe. Hätte diese Rechtslage bereits im Zeitpunkt der Verurteilung des Antragstellers gegolten, wäre aufgrund der Vorschrift des §5 Z2 lita JGG nur eine Höchststrafe von 15 Jahren zulässig gewesen.

Die bekämpften Gesetzesbestimmungen griffen - weil nicht auf die Möglichkeit Bedacht nehmend, daß während der Strafverbüßung günstigere gesetzliche Bestimmungen in Geltung treten können - unmittelbar und aktuell in die Rechtssphäre des Antragstellers ein, ohne daß es hiefür einer behördlichen Entscheidung bedürfe.

3.1. Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie eine Betroffenheit des Antragstellers durch die Übergangsbestimmung des §323 Abs2 StGB mit dem Argument ausschließt, daß die Strafsache in den Zeitraum nach dem Inkrafttreten des StGB am 1. Jänner 1975 gefallen sei.

Im übrigen stehe dem Antragsteller ein anderer zumutbarer Weg zur Verfügung, um die durch die behauptete Verfassungswidrigkeit bewirkte Rechtsverletzung abzuwehren. Aus der Entscheidung des OGH vom 4.9.1990, Z15 Os 82/90, (= JBl 1991, S. 325 f.), ergebe sich, daß sich der Begriff "Verhängung einer Strafe" iSd §1 Abs1 StGB auch auf die Festlegung der Modalitäten der Effektuierung erstrecke. Dazu zählen nach Ansicht der Bundesregierung auch alle den Täter beschwerenden richterlichen Beschlüsse im Zusammenhang mit einer bedingten Strafnachsicht oder bedingten Entlassung. Der Antragsteller hätte daher die behauptete Verfassungswidrigkeit des ArtIX Abs1 JGG bereits im Verfahren über eine bedingte Entlassung nach §152 StVG iVm §46 StGB geltend machen können bzw. könne dies noch tun.

Darüber hinaus sei der Antrag auch deshalb unzulässig, weil die beantragte Aufhebung nicht geeignet sei, die behauptete Verfassungswidrigkeit zu beseitigen.

3.2. Im verfassungsgerichtlichen Verfahren G103/96, in welchem die Lebensgefährtin des nunmehrigen Antragstellers (zu G56/96) die Aufhebung des §323 Abs2 StGB und des ArtIX Abs1 JGG begehrt hatte, liegt ein Beschluß des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 10. Jänner 1996, Z6 Vr 75/83-39/83, vor, womit ein Antrag des Antragstellers auf Herabsetzung der über ihn verhängten 20-jährigen Haftstrafe auf 15 Jahre gemäß ArtIX Abs1 JGG abgewiesen wurde.

4. Der Antrag ist unzulässig.

4.1. Die Antragslegitimation setzt nicht bloß voraus, daß der Antragsteller behauptet, unmittelbar durch das angefochtene Gesetz - im Hinblick auf dessen Verfassungswidrigkeit - in seinen Rechten verletzt worden zu sein, sondern auch, daß das Gesetz (für den Antragsteller) tatsächlich, und zwar ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides, wirksam geworden ist. Grundlegende Voraussetzung der Antragslegitimation ist es, daß das Gesetz in die Rechtssphäre des Antragstellers nachteilig eingreift und sie - im Fall der Verfassungswidrigkeit - verletzt.

Ein derartiger Eingriff ist jedenfalls nur dann anzunehmen, wenn er nach Art und Ausmaß durch das Gesetz selbst eindeutig bestimmt wurde, wenn er die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt und wenn dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des - behaupteterweise - rechtswidrigen Eingriffes zur Verfügung steht (VfSlg. 10511/1985, 11726/1988).

4.2. Wie sich aus der Textierung der bekämpften Vorschriften und ihrer systematischen Stellung im jeweiligen Gesetz ergibt, beziehen sie sich auf im Zeitpunkt des Inkrafttretens des StGB bzw. des JGG anhängige, aber noch nicht rechtskräftig beendete Strafsachen, in denen ein Urteil oder Erkenntnis in erster Instanz bereits gefällt worden ist.

Da die Straftaten, die zur - am 6.4.1984 rechtskräftig gewordenen - Verurteilung des Antragstellers geführt hatten, erst Anfang des Jahres 1983 und somit lange nach dem Inkrafttreten des StGB am 1. Jänner 1975 (§322 Abs1 leg.cit.) begangen wurden, ist es offensichtlich, daß die bekämpfte Vorschrift des §323 Abs2 StGB für den Antragsteller nicht unmittelbar wirksam werden konnte. Insoweit fehlt es ihm daher an der unmittelbaren Betroffenheit.

4.3. Zur Geltendmachung der behaupteten Verfassungswidrigkeit des ArtIX Abs1 JGG steht dem Antragsteller ein anderer zumutbarer Weg zur Verfügung. Ein solcher Weg ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes u.a. dann gegeben, wenn im Fall des Betroffenen bereits ein gerichtliches oder verwaltungsbehördliches Verfahren läuft, das Gelegenheit zu einer amtswegigen Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof bietet (vgl. zB VfSlg. 12810/1991 und 13344/1993). Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn ein gerichtliches oder verwaltungsbehördliches Verfahren anhängig war, in welchem der Antragsteller über die Möglichkeit verfügte, eine amtswegige Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof anzuregen (vgl. wiederum VfSlg. 12810/1991 und 13344/1993). Ein Individualantrag wäre in einem solchen Fall nur bei Vorliegen - hier gar nicht behaupteter - besonderer, außergewöhnlicher Umstände zulässig (VfSlg. 8312/1978, 11823/1988).

Wie sich aus dem von der Lebensgefährtin des Antragstellers im Verfahren zu G103/96 vorgelegten Beschluß des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 10. Jänner 1996, Z6 Vr 75/83-39/83, ergibt, wurde ein - vom Gericht offensichtlich als Wiederaufnahmsbegehren beurteilter und zudem auch auf §410 StPO gestützter - Antrag des Verurteilten (§353 Z2 StPO) auf Herabsetzung der verhängten 20-jährigen Haftstrafe auf 15 Jahre gemäß ArtIX Abs1 JGG abgewiesen. Gegen diesen Beschluß stand dem Antragsteller - wie das angerufene Gericht der Beschlußbegründung beifügte - das Rechtsmittel der Beschwerde zu (§357 StPO). Der Verurteilte hatte also die Möglichkeit, im Verfahren vor der zweiten Instanz seine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des ArtIX Abs1 JGG vorzutragen und die Stellung eines amtswegigen Aufhebungsantrages beim Verfassungsgerichtshof anzuregen.

Damit erweist sich auch der Individualantrag, soweit er sich auf ArtIX Abs1 JGG bezieht, als unzulässig.

5. Der Antrag war sohin wegen fehlender Legitimation zurückzuweisen.

Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VerfGG ohne vorangegangene Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

VfGH / Individualantrag, Strafrecht, Jugendgerichtsbarkeit

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:G56.1996

Dokumentnummer

JFT_10038789_96G00056_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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