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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1Leitsatz
Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander hinsichtlich der Abweisung eines Antrags auf internationalen Schutz und Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend einen afghanischen Staatsangehörigen mangels Ermittlungen zu den Folgen einer konfessionslosen Lebensweise bzw mangels Durchführung einer mündlichen VerhandlungSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 12. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Zuge seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gab er u.a. Folgendes an: "Ich gehöre der Volksgruppe der Hazara an und war in Afghanistan muslimischer Schiit. Seit ich in Österreich bin, bin ich Atheist, da die Menschlichkeit zählt." Die Frage nach Dokumenten, die belegen würden, dass der Beschwerdeführer nicht mehr dem muslimischen Glauben angehörte, verneinte er. Er stehe in Österreich auf "eigenen Füßen und habe es so entschieden". Näher befragt zu Problemen auf Grund seiner Religion in Afghanistan und seiner Entscheidung, in Österreich kein Schiit mehr zu sein, führte er aus, er habe in seinem Studentenheim nicht beten können. Als Hazara habe man mit den anderen Bewohnern sonst Probleme bekommen. In Afghanistan sei er nicht sehr religiös gewesen, habe aber manchmal gebetet, wenn er nachhause gekommen sei. In Afghanistan sei jeder Hazara Schiit. Man könne nicht sagen, dass man kein Schiit sei. Da er in Afghanistan wegen seiner Religion sehr unterdrückt worden sei, sei er "müde von dieser Religion" und wolle "frei leben". Er gedenke nicht, in Österreich einem anderen Glauben anzugehören. Er wolle in Frieden leben, alle Menschen respektieren und mit "keiner Religion etwas zu tun haben". Nachgefragt, ob er überhaupt an etwas glaube, antwortete der Beschwerdeführer: "Ja, ich glaube an Gott. Nachgefragt, ich glaube an Allah." Er habe keinem erzählt, dass er kein Schiit mehr sei. In Afghanistan hätte er wegen seiner Entscheidung aber Probleme, weil man sagen würde, er sei nicht gläubig. Danach gefragt, weshalb er Probleme hätte, obwohl er doch an Allah glaube, gab der Beschwerdeführer an, er "respektiere Allah".
2. Mit Bescheid vom 19. April 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.). Es erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und sprach aus, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage beträgt (Spruchpunkt VI.).
Dass der Beschwerdeführer nicht mehr dem schiitischen Glauben angehört, legt das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl seiner Entscheidung nicht zugrunde und begründet dies wie folgt: "Aufgrund Ihrer widersprüchlichen Aussagen, dass Sie in Afghanistan nach wie vor gebetet hätten, in Österreich kein Schiit mehr sein wollen und Ihre Entscheidung jedoch für sich behalten würden und keinen glaubwürdigen Beweis vorlegen konnten, dass Sie nicht mehr de[m] muslimischen Glauben angehören, erscheint Ihre Entscheidung Atheist zu sein, für die ho. Behörde keinesfalls verfestig[t] und nicht glaubwürdig."
3. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht brachte der Beschwerdeführer insbesondere vor, die Befragung vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl sei in Bezug auf seine Abkehr vom Islam mangelhaft gewesen, da die Behörde keine konkreten Fragen zu Beweggründen und Konsequenzen längerfristigen Verbergens des "Atheismus" gestellt habe. Der Beschwerdeführer sei in Kabul in einem Internat auf Grund seiner Ethnie und Religion schikaniert worden. Der Konflikt zwischen Hazara und Paschtunen sei ihm dort bewusst geworden und habe ihm aufgezeigt, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion nur zu Ausgrenzungen und Schikane, Feindschaft und Krieg führe. Er wolle sein Leben frei von religiösen Zwängen und Traditionen gestalten und als Mensch wahrgenommen werden. Bereits in Kabul habe er begonnen, an keinen schiitischen Festen mehr teilzunehmen, und lediglich zuhause gebetet. Das sei seiner Mutter und seiner Schwester aufgefallen. Die afghanische Gesellschaft würde seine religiöse Einstellung unweigerlich erfahren. Es bestünde stets die Gefahr, dass die Nachbarn auf den "abtrünnigen Lebenswandel" aufmerksam würden. Um das zu vermeiden, müsste sich der Beschwerdeführer sein Leben lang verleugnen und eine abgelehnte Religion zum Schein ausüben. Aus aktuellem, von EASO und ACCORD zusammengestelltem Berichtsmaterial betreffend Apostasie in Afghanistan ergebe sich, dass Apostaten einer asylrelevanten Verfolgung auf Grund ihrer religiösen Gesinnung ausgesetzt seien, weil die staatlichen Sicherheitskräfte nicht gewillt seien, Apostaten und Konvertiten vor Übergriffen zu schützen.
Am 8. August 2018 übermittelte der Beschwerdeführer dem Bundesverwaltungsgericht eine Bestätigung des Bezirkshauptmannes Braunau am Inn vom 11. Juli 2018 über den Austritt aus der islamischen Glaubensgemeinschaft und die Verständigung der islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich darüber.
4. Mit Erkenntnis vom 7. August 2018, dem Beschwerdeführer zugestellt am 11. August 2018, wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers führt es – vor dem Hintergrund der zur Lage im Herkunftsstaat getroffenen "Feststellungen im angefochtenen Bescheid" – beweiswürdigend Folgendes aus:
"Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich der Beweiswürdigung der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid an […] und kommt ebenfalls zum Schluss, dass der Beschwerdeführer keine asylrelevante Verfolgung glaubhaft machen konnte. Auch im Rahmen der Beschwerde vermochte der Beschwerdeführer keine individuell gegen seine Person gerichtete Bedrohungslage darzulegen. Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde ist aufgrund des eigenen Vorbringens des Beschwerdeführers nicht davon auszugehen, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen überzeugten Apostaten oder Atheisten handelt. Wäre der Beschwerdeführer tatsächlich überzeugter Atheist oder vom Islam abgefallen, dann hätte er wohl kaum seinen (nach wie vor bestehenden) Glauben an Allah in der mündlichen Verhandlung [gemeint wohl: Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl] bekräftigt ([…] arg. 'LA: Glauben Sie überhaupt an etwas? A: Ja, ich glaube an Gott. Nachgefragt, ich glaube an Allah.'). Nach Ansicht des erkennenden Richters kann allein die Tatsache, dass sich ein Beschwerdeführer im Rahmen der Einvernahme vor einer Asylbehörde kritisch zur islamischen Religion äußert bzw ausführt, mit keiner Religion etwas zu tun haben zu wollen ('frei' leben zu wollen), noch keinen asylrelevanten Tatbestand rechtfertigen."
5. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) und im Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art47 Abs2 GRC), behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
Das Bundesverwaltungsgericht habe das Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner nunmehrigen konfessionsfreien Lebensweise nicht ausreichend berücksichtigt. Der Abfall vom Islam werde in Afghanistan als Akt der Abtrünnigkeit und als Verbrechen gegen den Islam angesehen und gelte als schwerer Verstoß gegen das Werteverständnis der afghanischen Gesellschaft. Dem Beschwerdeführer drohe daher Verfolgung durch radikalislamische Personen – wobei der afghanische Staat nicht willens, zumindest aber nicht fähig sei, den Beschwerdeführer zu schützen – oder sogar unmittelbar durch den afghanischen Staat. Auch den dem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl zugrunde liegenden Länderberichten sei zu entnehmen, dass die Abkehr vom Islam nach Scharia-Recht strafbewehrt sei und laut sunnitisch-hanafitischer Rechtsprechung Enthauptung eine angemessene Strafe für Apostasie darstelle.
Das Bundesverwaltungsgericht hätte sich nicht mit dem Argument begnügen dürfen, dass der Beschwerdeführer noch an Allah glauben würde. Der Glaube an Gott bzw Allah schließe die Konfessionsfreiheit für sich nicht aus. Angesichts der vorgelegten Bestätigung des Bezirkshauptmannes Braunau am Inn über den Austritt aus der Islamischen Glaubensgemeinschaft sei anzunehmen, dass der Beschwerdeführer derzeit konfessionsfrei lebe. Das Bundesverwaltungsgericht hätte das Vorbringen des Beschwerdeführers und seine Glaubwürdigkeit durch eine ergänzende Einvernahme verifizieren oder auch widerlegen müssen.
6. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.
II. Erwägungen
1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.
Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung unter anderem, wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008). Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).
3. Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:
3.1. Dem angefochtenen Erkenntnis liegt die nicht näher begründete Annahme zugrunde, dass allein die Tatsache, dass sich der Beschwerdeführer im Rahmen der behördlichen Einvernahme im Asylverfahren "kritisch zur islamischen Religion äußert bzw ausführt, mit keiner Religion etwas zu tun haben", also konfessionsfrei leben zu wollen (der Beschwerdeführer weist hier richtigerweise darauf hin, dass der Glaube an Gott bzw Allah dies nicht ausschließt), noch keine asylrelevante Verfolgung nach sich ziehe. Dies stützt das Bundesverwaltungsgericht darauf, dass der Beschwerdeführer "kein konkretes asylrelevantes Fluchtvorbringen erstattet" habe (und die belangte Behörde auf diesen Umstand in der rechtlichen Beurteilung hingewiesen habe und das Bundesverwaltungsgericht sich diesen Ausführungen anschließe). Daher lägen in Bezug auf den Beschwerdeführer keine individuell drohenden Verfolgungshandlungen vor. In der Folge prüft und verneint das Bundesverwaltungsgericht eine Gruppenverfolgung des Beschwerdeführers als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara.
3.2. Die Begründung des Bundesverwaltungsgerichtes, mit der es das Vorliegen individueller Verfolgungshandlungen gegen den Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat verneint, kann unterschiedlich gedeutet werden (und mangels näherer Ausführungen ist eine solche Deutung erforderlich), wobei aber jede Deutungsvariante zum selben Ergebnis der Verfassungswidrigkeit führt:
Versteht man das Bundesverwaltungsgericht dahin, dass es das Vorbringen des Beschwerdeführers hinsichtlich seiner Apostasie nicht für glaubwürdig erachtet, ist ihm das Unterlassen einer mündlichen Verhandlung vorzuwerfen. Hängt nämlich die asylrelevante individuelle Situation des Beschwerdeführers wesentlich von seiner Glaubwürdigkeit in Bezug auf seine innere Einstellung bzw religiöse Überzeugung ab, für deren Beurteilung der persönliche Eindruck maßgeblich ist, verlangt Art47 Abs2 GRC insofern grundsätzlich, dass sich das erkennende Gericht selbst unmittelbar in einer mündlichen Verhandlung diesen Eindruck verschafft (vgl zB VfGH 26.2.2018, E3296/2017). Anhaltspunkte dafür, dass es im vorliegenden Fall nicht maßgeblich auf diesen persönlichen Eindruck ankommt (vgl für einen solchen Fall VfGH 28.2.2019, E3436/2018), werden vom Bundesverwaltungsgericht nicht ins Treffen geführt.
Versteht man die Begründung des Bundesverwaltungsgerichtes dahingehend, dass es zwar von einer Apostasie des Beschwerdeführers ausgeht, aber eine Verfolgung im Herkunftsstaat verneint, ist ihm vorzuwerfen, relevante Länderfeststellungen im Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, die das Bundesverwaltungsgericht selbst seiner Entscheidung im Verweisweg zugrunde legt, in einem entscheidungswesentlichen Punkt völlig außer Acht gelassen zu haben. Gerade angesichts der in (unter anderen) diesen Berichten zu Afghanistan dargelegten (möglichen) strafrechtlichen Verfolgung wegen Apostasie hat der Verwaltungsgerichtshof jüngst betont, dass eine Verfolgung aus Gründen der Religion im Sinne des Art1 Abschnitt A Z2 GFK auch dann vorliegen kann, wenn sich eine Person insofern religiös betätigt, als sie den im Herkunftsstaat vorgeschriebenen Glauben nicht leben will, sondern sich durch das Unterlassen (erwarteter) religiöser Betätigungen zu ihrer Konfessionslosigkeit bekennt (VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0395, mit Verweis auf EuGH 4.10.2018, Rs. C-56/17, Fathi, Rz 96 ff.).
3.3. Das Bundesverwaltungsgericht hat das angefochtene Erkenntnis daher in jedem Fall schon deshalb mit Willkür belastet, weil es in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat.
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden.
Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten. Ein Ersatz der Eingabengebühr ist nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer Verfahrenshilfe (auch) im Umfang des §64 Abs1 Z1 lita ZPO genießt.
Schlagworte
Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Entscheidungsbegründung, ErmittlungsverfahrenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2019:E3767.2018Zuletzt aktualisiert am
10.05.2019