TE Vfgh Erkenntnis 2018/6/11 E1815/2018

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Veröffentlicht am 11.06.2018
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
AsylG 2005 §3, §8, §10, §57
FremdenpolizeiG 2005 §46, §52, §55

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Nichtzuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten und Erlassung einer Rückkehrentscheidung betreffend einen - der Volksgruppe der schiitischen Hazara angehörigen - unbegleiteten minderjährigen Staatsangehörigen von Afghanistan mangels Berücksichtigung einschlägiger Länderberichte und mangels gebotener konkreter Auseinandersetzung mit der Sicherheits- und Versorgungslage von Minderjährigen im Herkunftsland; Ablehnung der Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Asylstatus

Spruch

I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.       Der am 8. August 2002 geborene Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Afghanistans und stammt aus der Provinz Maidan Wardak. Er gehört der Volksgruppe der Hazara an und ist schiitischer Moslem. Nach Einreise in das Bundesgebiet stellte er am 27. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen brachte er in seiner Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 7. Dezember 2017 vor, dass sein Vater aus einem ihm unbekannten Grund nach Kabul gegangen und für einige Tage verschollen bzw. für seine Familie nicht erreichbar gewesen sei. Die Familie hätte erfahren, dass dieser – möglicherweise weil er Schiit gewesen sei – von den Taliban aufgegriffen und getötet worden sei. Die Mutter des Beschwerdeführers habe aus Angst um ihn seine Flucht aus Afghanistan organisiert. Zu seinen familiären Verhältnissen befragt, gab er an, dass sich seine Mutter und fünf Geschwister weiterhin in der Provinz Maidan Wardak aufhalten würden. In Afghanistan habe er ca. acht Onkel und sieben Tanten. Seine Großmutter lebe bei der Mutter, einige Onkel und Tanten würden in Kabul leben. Dem Beschwerdeführer sei es nicht möglich gewesen, zu diesen Verwandten nach Kabul zu gehen, weil seine Mutter Angst gehabt habe, dass er dort bei einem "Bombenschlag" getötet würde. Manchmal habe er Kontakt zu einem Onkel in Kabul. Die Onkel in Kabul könnten ihn bei einer Rückkehr nicht aufnehmen; ein Onkel sei behindert, zwei weitere Onkel hätten selbst Familie und könnten sich nicht um den Beschwerdeführer kümmern.

2.       Mit Bescheid vom 30. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß §8 Abs1 iVm §2 Abs1 Z13 AsylG 2005 ab. Ferner erteilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005. Zudem erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA-Verfahrensgesetz gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (im Folgenden: FPG) und stellte gemäß §52 Abs9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan gemäß §46 FPG zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß §55 Abs1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

3.       Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht – ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung – mit Erkenntnis vom 22. März 2018 als unbegründet ab.

3.1.    Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Frage der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im Wesentlichen aus, dass sich aus dem Vorbringen keine für den Beschwerdeführer individuell drohende Gefährdungslage ergebe, zumal dem Vorbringen kein Hinweis auf eine zielgerichtete Verfolgung des Vaters entnommen werden könne und der Beschwerdeführer bezogen auf seine eigene Person zudem angeführt habe, nie in Kontakt zu Angehörigen der Taliban gestanden und bislang keiner Bedrohung durch diese ausgesetzt gewesen zu sein. Die Befürchtung einer Verfolgung durch die Taliban stelle sich sohin als bloße Mutmaßung und als zu wenig substantiiert dar. Der Beschwerdeführer sei vor dem Hintergrund der herangezogenen Länderberichte auch keiner Gruppenverfolgung auf Grund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der schiitischen Hazara ausgesetzt. Hinweise auf eine altersspezifische Gefährdung auf Grund der Minderjährigkeit hätten sich im Verfahren nicht ergeben und seien vom Beschwerdeführer lediglich abstrakt ins Treffen geführt worden.

3.2.    In der Begründung der Entscheidung zur Frage der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten führt das Bundesverwaltungsgericht zusammengefasst aus, dass es davon ausgehe, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz die reale Gefahr einer Verletzung des Art3 EMRK drohen würde, er aber in zumutbarer Weise auf die Übersiedlung in andere Landesteile Afghanistans, konkret insbesondere in die Hauptstadt Kabul, verwiesen werden könne; dies u.a. vor dem Hintergrund, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen Jugendlichen im sechzehnten Lebensjahr mit grundlegender Schulbildung sowie Erfahrung in der Landwirtschaft handle, bei dem eine künftige grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne, und der mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates und der Sprache vertraut sei. Auch verfüge er in Kabul über mehrfache verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte. Weshalb eine Unterstützung durch diese Verwandten nicht möglich sei, sei nicht konkretisiert worden. Angesichts der vergleichsweise geringen Entfernung zwischen Kabul und seinem Herkunftsort und der Aussage, dass seine Familie auf Grund der schlechten Infrastruktur im Heimatort immer wieder zu Fahrten nach Kabul gezwungen gewesen sei, sei zudem von einer gewissen Vertrautheit mit den dortigen Gegebenheiten auszugehen. Der Beschwerdeführer habe auch vorgebracht, dass Personen aus seiner Herkunftsregion auf Grund der dort limitierten Bildungsmöglichkeiten zu einem weiteren Schulbesuch üblicherweise nach Kabul gehen würden, was auch in seinem Fall in Kürze in Aussicht gestanden wäre.

An der Zumutbarkeit einer Neuansiedelung in Kabul vermöge auch die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers nichts zu ändern: Dabei verweist das Bundesverwaltungsgericht insbesondere darauf, dass angesichts der in der afghanischen Gesellschaft etablierten Strukturen eine Teilnahme am Erwerbsleben generell wesentlich früher stattfinde und somit eine strenge Zäsur im Hinblick auf das Alter des Beschwerdeführers nicht der vorherrschenden sozioökonomischen Lage in Afghanistan entspreche. Zudem ergebe sich die vom Beschwerdeführer mittlerweile erreichte weitgehende Selbständigkeit nicht nur auf Grund seines Alters, sondern bereits aus der Tatsache, dass er sich in Österreich innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums in einen ihm völlig fremden Kulturkreis einfügen habe können. Vor diesem Hintergrund könne daher umso mehr von einer rasch möglichen Adaptierung in Afghanistan, wo er den überwiegenden Teil seines Lebens verbracht habe, ausgegangen werden. Dies auch angesichts der nach wie vor dort bestehenden familiären Anknüpfungspunkte. Eine besondere Vulnerabilität des Beschwerdeführers und auf Grund seiner Minderjährigkeit potenzierte Gefahrenlage angesichts der Vielzahl von Risiken, die vor allem Kinder betreffen würden, sei daher nicht gegeben. Bezogen auf die allgemeine Sicherheitslage und unter Berücksichtigung der Risiken, denen Minderjährige in Afghanistan ausgesetzt seien, sei daher daraus kein gefahrenerhöhendes Moment abzuleiten.

3.3.    Die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung und der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan stützt das Bundesverwaltungsgericht insbesondere darauf, dass trotz nicht verkannter Integrationsbestrebungen des Beschwerdeführers (insbesondere Besuch von Deutschkursen, Freundschaften im Bundesgebiet und Mitgliedschaft in einem Verein) eine tiefgreifende Integrationsverfestigung während seines zum Entscheidungszeitpunkt knapp zweieinhalbjährigen Aufenthaltes gesamtbetrachtend nicht erkannt werden könne.

3.4.    Den Entfall der mündlichen Verhandlung begründet das Bundesverwaltungsgericht damit, dass in der Beschwerde keine Sachverhaltselemente aufgezeigt worden seien, die einer mündlichen Erörterung bedürften.

4.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander gemäß ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973, auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK sowie auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach Art47 Abs2 GRC behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.

5.       Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen. Auch die belangte Behörde hat keine Gegenschrift erstattet.

II.      Erwägungen

Der Verfassungsgerichtshof hat über die zulässige Beschwerde erwogen:

A. Die Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht betreffend die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung und die Festsetzung einer Frist für die freiwillige Ausreise richtet, begründet:

1.       Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2.       Ein solcher Fehler ist dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1.    Gemäß §8 Abs1 AsylG 2005 ist einem Fremden, dessen Antrag auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen wird, der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art2, 3 EMRK oder der Protokolle Nr 6 oder Nr 13 zur EMRK bedeuten oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

2.2.    In den im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes wiedergegebenen Länderfeststellungen sind u.a. Abschnitte zur allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan und in Kabul, zur politischen Lage, zur allgemeinen Menschenrechtslage, zur Religionsfreiheit, zu ethnischen Minderheiten, zur Bewegungsfreiheit, zur Grundversorgung und wirtschaftlichen Lage, zur medizinischen Versorgung und zur Behandlung von Rückkehrern enthalten. Nicht enthalten sind spezifische Ausführungen zu (unbegleiteten) Minderjährigen. Erwähnung finden Minderjährige in den herangezogenen Berichten zur Lage in Afghanistan lediglich mit der Aussage, dass sich unter den zivilen Opfern des anhaltenden Konfliktes ein erheblicher Anteil an Kindern befinde ("UNAMA verzeichnete 3.512 minderjährige Opfer [923 Kinder starben und 2.589 wurden verletzt] – eine Erhöhung von 24% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres; die höchste Zahl an minderjährigen Opfern seit Aufzeichnungsbeginn. Hauptursache waren Munitionsrückstände, deren Opfer meist Kinder waren."), dass "Frauen und Kinder in Polizeigewahrsam und Haftanstalten besonders in Gefahr [seien], misshandelt zu werden", und im Zusammenhang mit der medizinischen Versorgungslage.

2.3.    Bei der Behandlung der Anträge auf internationalen Schutz von Minderjährigen sind, unabhängig davon, ob diese unbegleitet sind oder gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, zur Beurteilung der Sicherheitslage einschlägige Herkunftsländerinformationen, in die auch die Erfahrungen der Kinder Eingang finden, bei entsprechend schlechter allgemeiner Sicherheitslage jedenfalls erforderlich (vgl. UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern im Zusammenhang mit Artikel 1 [A] 2 und 1 [F] des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 22.12.2009, Rz 74). Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt die Bedeutung entsprechender und aktueller Länderfeststellungen im Hinblick auf Minderjährige als besonders vulnerable Antragsteller hervorgehoben (zB VfGH 9.6.2017, E484/2017 ua. mwN). Dieses Verständnis steht im Einklang mit Art24 Abs2 GRC bzw. ArtI zweiter Satz des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBl I 4/2011, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (VfGH 2.10.2013, U2576/2012 mit Verweis auf EuGH 6.6.2013, Rs. C-648/11, MA ua., Rz 56 und 57; s. VfGH 11.10.2017, E1803/2017 ua.).

2.4.    Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigt bei der Frage der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten die Minderjährigkeit des Beschwerdeführers insofern, als es ausführt, dass dem Beschwerdeführer eine Neuansiedelung in Kabul möglich sei, weil eine Teilnahme am Erwerbsleben generell wesentlich früher stattfinde, der Beschwerdeführer mittlerweile eine weitgehende Selbständigkeit erreicht habe und er in Afghanistan, wo er den überwiegenden Teil seines Lebens verbracht habe, bestehende familiäre Anknüpfungspunkte aufweise. Daraus zieht es den Schluss, dass eine besondere Vulnerabilität des Beschwerdeführers und auf Grund seiner Minderjährigkeit potenzierte Gefahrenlage angesichts der Vielzahl von Risiken, die vor allem Kinder betreffen, nicht gegeben sei.

Mit diesen Ausführungen geht das Bundesverwaltungsgericht zwar auf bestimmte, im Lichte von Art3 EMRK relevante Aspekte ein, verkennt aber, dass es sich beim Beschwerdeführer als unbegleiteten Minderjährigen um eine besonders vulnerable Person handelt (vgl. die Definition schutzbedürftiger Personen in Art21 der Richtlinie 2013/33/EU zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen [Aufnahmerichtlinie]), weshalb eine konkrete Auseinandersetzung damit erforderlich ist, wie sich die Situation des Beschwerdeführers tatsächlich nach seiner Rückkehr darstellt (s. dazu auch jüngst VwGH 21.3.2018, Ra 2017/18/0474; s. dazu auch die – vom Bundesverwaltungsgericht selbst in der Entscheidung wiedergegebenen –UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, wonach "eine interne Schutzalternative nur dann zumutbar sein kann, wenn betroffene Personen Zugang zu einem traditionellen Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder ihrer [erweiterten] Familie oder durch Mitglieder ihrer größeren ethnischen Gruppe im vorgeschlagenen Neuansiedlungsgebiet haben und davon ausgegangen werden kann, dass diese willens und in der Lage sind, den Antragsteller tatsächlich zu unterstützen. Die einzigen Ausnahmen von dieser Anforderung der externen Unterstützung stellen nach Auffassung von UNHCR alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf dar.").

Das Erkenntnis enthält zwar Ausführungen dazu, weshalb das Bundesverwaltungsgericht davon ausgeht, dass der Beschwerdeführer durch sein verwandtschaftliches Netzwerk vorübergehend Unterstützung finden könnte. Diese Annahme trifft das Bundesverwaltungsgericht, obgleich der Beschwerdeführer die Möglichkeit zu einer Unterstützung durch seine Verwandten in Kabul bei seiner Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verneint hat. Dabei fällt auch ins Gewicht, dass das Bundesverwaltungsgericht keine mündliche Verhandlung durchgeführt hat, um zum einen zu klären, inwiefern eine Unterstützung des minderjährigen Beschwerdeführers durch seine Verwandten möglich ist bzw. welche Rückkehrsituation er in Kabul tatsächlich vorfinden würde. Zum anderen hätte das Bundesverwaltungsgericht dadurch einen persönlichen Eindruck des Beschwerdeführers – insbesondere im Hinblick auf die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene "Selbständigkeit" des Beschwerdeführers – erlangen können.

2.5.    Zudem unterlässt das Bundesverwaltungsgericht eine nähere Auseinandersetzung mit den von ihm selbst wiedergegebenen Passagen in den Länderberichten, die eine hohe Zahl minderjähriger ziviler Opfer durch konfliktbedingte Gewalt aufweisen (s. zur gebotenen Auseinandersetzung mit den getroffenen Feststellungen VfGH 21.9.2017, E2130/2017 ua.; 11.10.2017, E1803/2017 ua.; 13.12.2017, E2497/2016 ua.; 27.2.2018, E3507/2017), und lässt überdies zum Entscheidungszeitpunkt vorhandene Länderberichte unberücksichtigt, die auf körperliche Übergriffe im familiären Umfeld, in Schulen oder durch die afghanische Polizei hinweisen und aufzeigen, dass sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nach wie vor ein großes Problem darstellt (vgl. Auswärtiges Amt [9.2016]: Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan; vgl. dazu auch VfGH 21.9.2017, E2130/2017 ua.; 27.2.2018, E3507/2017).

2.6.    Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes erweist sich daher im Hinblick auf die Beurteilung einer dem Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr drohenden Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art2 und 3 EMRK als nicht ausreichend nachvollziehbar. Soweit sie sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer und – daran anknüpfend – auf die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen sowie die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung bzw. der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, ist sie somit mit Willkür behaftet und insoweit aufzuheben.

B. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde, soweit damit die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten bekämpft wird, aus folgenden Gründen abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG). Ein solcher Fall liegt vor, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen nicht anzustellen.

III.    Ergebnis

1.       Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan, die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung sowie die Festsetzung der Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2.       Im Übrigen ist die Behandlung der Beschwerde abzulehnen.

3.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4.       Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Rückkehrentscheidung, Ermittlungsverfahren, Entscheidungsbegründung, Kinder

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:E1815.2018

Zuletzt aktualisiert am

27.06.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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