TE Vwgh Erkenntnis 2000/3/29 98/08/0116

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Veröffentlicht am 29.03.2000
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Index

E2D Assoziierung Türkei;
E2D E02401013;
E2D E05204000;
E2D E11401020;
E6J;
001 Verwaltungsrecht allgemein;
40/01 Verwaltungsverfahren;
62 Arbeitsmarktverwaltung;
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze;

Norm

61996CJ0262 Sürül VORAB;
AlVG 1977 §17 Abs1;
AlVG 1977 §33 Abs1;
AlVG 1977 §38;
AlVG 1977 §7 Abs1;
ARB1/80 Art3;
AVG §66 Abs4;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Sulyok, Dr. Nowakowski und Dr. Strohmayer als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Brandtner, über die Beschwerde der L in A, vertreten durch Dr. H, Rechtsanwalt in L, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Oberösterreich vom 18. März 1997, Zl. B1-12897108-11, betreffend Notstandshilfe, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin beantragte ab 17. Dezember 1996 mit dem bundeseinheitlich aufgelegten Formblatt Notstandshilfe als Pensionsvorschuss.

Mit Bescheid der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice vom 3. Jänner 1997 wurde diesem Antrag gemäß § 33 Abs. 2 lit. a i.V.m. § 34 Abs. 4 AlVG, wonach u.a. ein Befreiungsscheininhaber zum Bezug der Notstandshilfe zugelassen werde, mangels Zugehörigkeit zum berechtigten Personenkreis keine Folge. In der Begründung wurde dazu angeführt, die Beschwerdeführerin sei türkische Staatsbürgerin und besitze keinen gültigen Befreiungsschein.

In der dagegen erhobenen Berufung führte die Beschwerdeführerin aus, sie sei jahrelang in Österreich beschäftigt gewesen und müsste genauso wie Befreiungsscheininhaber und österreichische Staatsbürger Anspruch auf Notstandshilfe haben. Sie lebe seit 1972 in Österreich und verfüge über eine unbefristete Aufenthaltsbewilligung. Sie habe Anspruch auf einen Feststellungsbescheid gemäß "Assoziationsabkommen zwischen der Türkei und EU", weil ihr Mann dem regulären Arbeitsmarkt angehöre. Sie habe daher freien Zugang zum gesamten Arbeitsmarkt.

Die belangte Behörde gab der Berufung nicht statt und führte im Spruch aus, dass dem Antrag auf Gewährung der Notstandshilfe vom 17. Dezember 1996 mangels Erschöpfung des Anspruches auf Arbeitslosengeld gemäß § 33 Abs. 1 AlVG keine Folge gegeben werde.

In der Begründung führte die belangte Behörde nach Darstellung des Verwaltungsgeschehens und Wiedergabe der anzuwendenden Gesetzesbestimmungen aus, die Beschwerdeführerin sei am Antragstag im Bezug einer vorschussweisen Gewährung von Arbeitslosengeld gemäß § 23 AlVG gestanden. Die ursprünglich zuerkannte Bezugsdauer von Arbeitslosengeld sei bei Antragstellung noch nicht verbraucht gewesen. Die Beschwerdeführerin habe noch bis 8. Jänner 1997 Arbeitslosengeld gemäß § 23 AlVG bezogen. Zum Antragstag 17. Dezember 1996 sei daher kein Anspruch auf Notstandshilfe gegeben gewesen, weil ein solcher Anspruch mangels Erschöpfung des Anspruches auf Arbeitslosengeld nicht gebührt hätte. Die Beschwerdeführerin habe im Anschluss an den Arbeitslosengeldbezug weder über einen gültigen Befreiungsschein verfügt, noch habe sie einen fiktiven Anspruch auf einen Befreiungsschein gehabt. Die Voraussetzungen nach § 34 Abs. 4 Z. 2 AlVG für den Bezug der Notstandshilfe könnten daher auch "beim derzeitigen Stand der Dinge" von der Beschwerdeführerin nicht erfüllt werden.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Dieser lehnte deren Behandlung ab (Beschluss vom 23. Februar 1998, B 930/97) und trat sie über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab (Beschluss vom 24. April 1998).

Im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof erachtet sich die Beschwerdeführerin in ihrem gesetzlich gewährleisteten Recht auf Gewährung der Notstandshilfe verletzt und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes oder wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Beschwerdeführerin macht geltend, die gänzliche Abweisung ihres Antrages auf Notstandshilfe sei nicht gerechtfertigt. Nach den Feststellungen der belangten Behörde habe ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld spätestens am 8. Jänner 1997, also jedenfalls vor dem Zeitpunkt der Entscheidung durch die belangte Behörde geendet.

Mit diesem Vorbringen ist die Beschwerdeführerin im Recht. Nach der ständigen, auf das Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 4. Mai 1977, Slg. Nr. 9315/A, gestützten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. etwa die Erkenntnisse vom 21. September 1993, 92/08/0130, und vom 22. Oktober 1996, 96/08/0125, m.w.N.). ist der geltend gemachte Anspruch auf Notstandshilfe, sofern das Gesetz nichts Gegenteiliges bestimmt, zeitraumbezogen zu beurteilen. Gerade daraus folgt aber, dass die in den jeweiligen frühestens mit der Antragstellung beginnenden Zeiträumen, für welche Arbeitslosengeld beantragt wurde, gegebene Sach- und Rechtslage maßgebend ist (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 23. Juni 1998, 97/08/0553, und vom 23. Februar 2000, 98/08/0092). Das bedeutet im Beschwerdefall, dass die belangte Behörde die nach der Antragstellung, aber vor Erlassung ihres Bescheides eingetretene Änderung der Sachlage, nämlich Erschöpfung des Anspruches auf Arbeitslosengeld, zu beachten gehabt hätte. Da sie dies verkannte, belastete sie ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes.

Soweit die belangte Behörde dazu in ihrer Gegenschrift meint, sie hätte lediglich den Zeitraum von der Antragstellung bis zur Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides zu berücksichtigen gehabt, missversteht sie das von ihr für ihre Meinung ins Treffen geführte Erkenntnis vom 23. Juni 1998, 97/08/0553. Sache des Berufungsverfahrens war nämlich nicht nur der Zeitraum ab Geltendmachung des Anspruches auf Notstandshilfe bis zur Entscheidung der Behörde erster Instanz. Legt nämlich die Behörde in ihrem Bescheid betreffend einen zeitraumbezogenen Abspruch den Endpunkt des Zeitraumes, über welchen sie abspricht, nicht fest, so ist von dem jeweiligen Bescheid im Allgemeinen der gesamte Zeitraum bis zur Erlassung des Bescheides - somit gemäß § 66 Abs. 4 AVG bis zur Erlassung des Berufungsbescheides - erfasst (vgl. u.a. das hg. Erkenntnis vom 8. Oktober 1991, 91/08/0036). Die belangte Behörde hatte demnach die Sach- und Rechtslage innerhalb dieses Zeitraumes zu beachten.

Im fortzusetzenden Verfahren wird die belangte Behörde zu beachten haben, dass die von der Behörde erster Instanz für die Abweisung des Antrages der Beschwerdeführerin herangezogenen Bestimmungen der §§ 33 Abs. 2 lit. a und § 34 Abs. 4 Z. 2 AlVG mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 11. März 1998, G 363-365/97, u.a. als verfassungswidrig aufgehoben wurden und der Verfassungsgerichtshof ausgesprochen hat, dass die aufgehobenen Bestimmungen nicht mehr anzuwenden sind. Diese Bestimmungen sind daher in einem allfälligen Ersatzbescheid nicht mehr anzuwenden.

Abgesehen von den vorstehenden Erwägungen ist noch darauf hinzuweisen, dass die Beschwerdeführerin als türkische Staatsangehörige das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980, über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und deren Familienangehörige, für sich in Anspruch nehmen kann (zur unmittelbaren Wirkung und Anwendbarkeit dieser Bestimmung vgl. nunmehr EuGH 4. Mai 1999, Rs C-262/96 (Sürül), Rn. 57ff).

Der angefochtene Bescheid war gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i. V.m. der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Wien, am 29. März 2000

Schlagworte

Rechtsnatur und Rechtswirkung der BerufungsentscheidungIndividuelle Normen und Parteienrechte Auslegung von Bescheiden und von Parteierklärungen VwRallg9/1

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2000:1998080116.X00

Im RIS seit

18.10.2001

Zuletzt aktualisiert am

07.11.2011
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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