TE Vwgh Erkenntnis 2017/11/14 Ra 2017/20/0142

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.11.2017
beobachten
merken

Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 2005 §11;
AsylG 2005 §3 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z3;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Mitter, über die Revision des S T in W, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 14. März 2017, Zl. L508 2147351- 2/4E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein pakistanischer Staatsangehöriger und der Volksgruppe der Paschtunen sowie der schiitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig, stellte am 18. Mai 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Er begründete diesen Antrag im Wesentlichen damit, dass er seine Heimatregion (Parachinar, FATA-Gebiet) aus Angst vor dem Krieg und wegen der unsicheren Lage (Anschläge, Kämpfe zwischen der Regierung und den Taliban) verlassen habe.

2 In der Einvernahme vom 18. November 2016 ergänzte der Revisionswerber seinen Fluchtgrund dahingehend, dass er in Pakistan in ein sunnitisches Mädchen verliebt gewesen sei, das nach dem Auffliegen der Beziehung zu ihm von dessen Vater getötet worden sei, weshalb auch der Revisionswerber seine Tötung durch den Vater oder andere Familienangehörige des Mädchens gefürchtet habe.

3 Mit Bescheid vom 30. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz sowohl gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in welcher er unter anderem vorbrachte, dass er ins Visier der Taliban geraten sei, ihn dagegen weder seine Familie noch die Regierung schützen könnte. Das BFA habe gegen die in § 18 AsylG 2005 determinierten Ermittlungspflichten verstoßen und der Revisionswerber sei aufgrund seiner Religion sowie seiner Volksgruppenzugehörigkeit einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt. Es bestehe weder effektiver und tatsächlicher Schutz seitens des Staates noch eine innerstaatliche Fluchtalternative für den Revisionswerber.

4 Mit dem nun angefochtenen Erkenntnis vom 14. März 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 als unbegründet ab, wies den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 mangels Zuständigkeit zurück und sprach aus, dass die Revision gegen diese Entscheidung gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Begründend stützte sich das BVwG auf die Beweiswürdigung des BFA und sprach dem Revisionswerber zusammengefasst die Glaubwürdigkeit seiner vorgebrachten Fluchtgründe ab.

Alternativ begründete das BVwG seine Entscheidung mit dem Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative. Unter diesem Gesichtspunkt führte das BVwG aus, dass unter anderem aufgrund der fehlenden Exponiertheit des Revisionswerbers, der Größe und des Bevölkerungsreichtums Pakistans, des Fehlens eines zentralen Einwohnermeldesystems, der Existenz von Millionenstädten wie beispielsweise Islamabad, Lahore oder Karachi sowie aufgrund des Vorliegens des Familienverbandes des Revisionswerbers in Pakistan diese anzunehmen sei. Auch der Einwand, wonach die Taliban über ein effizientes und landesweites Netzwerk verfügen würden, gehe ins Leere, zumal im Hinblick auf die Taliban notorisch bekannt sei, dass es sich bei diesen nicht um eine in Bezug auf das gesamte Staatsgebiet homogene Organisation mit einem zentralen Datenverbund und der logistischen Möglichkeit, jede Person, welche einmal mit einem Angehörigen der Taliban Kontakt gehabt habe, auszuforschen, handle. Zudem sei Pakistan über eine Vielzahl von Einreisemöglichkeiten erreichbar.

Das BVwG stützte sich in Bezug auf den Entfall der mündlichen Verhandlung explizit auf § 21 Abs. 7 1. Fall BFA-VG. Dem angefochtenen Bescheid sei unter anderem ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch das BFA vorangegangen. Der Sachverhalt sei nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung des BFA festgestellt worden.

5 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene Revision nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Der Revisionswerber macht zur Zulässigkeit der Revision unter ausführlicher Begründung unter anderem geltend, dass die verwaltungsrechtlichen Grundsätze einer Wahrunterstellung gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht beachtet worden seien. Das Erkenntnis lasse weder erkennen, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltselementen das BVwG bei seiner rechtlichen Beurteilung konkret in Bezug auf die Annahme des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgehe, noch habe es nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage des Revisionswerbers in dem in Frage kommenden Gebiet getroffen (Abweichen von VwGH 29.4.2015, Ra 2014/20/0151, und 23.2.2016, Ra 2015/20/0233).

Das BVwG sei unter näherer Begründung von den vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Kriterien betreffend die Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewichen.

7 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.

8 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seit dem Erkenntnis vom 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, sind für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG nach § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen geklärten Sachverhalts und für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" nunmehr folgende Kriterien beachtlich:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018).

Diesen in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen.

9 Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass der Revisionswerber in der Einvernahme am 18. November 2016 sein Fluchtvorbringen um die unerlaubte Beziehung zu einem Mädchen nicht unwesentlich ergänzt hat. Aus dem Einvernahmeprotokoll ist ersichtlich, dass weitere Nachfragen weder zu dem ergänzenden, vom Revisionswerber nur pauschal vorgebrachten Sachverhaltsvorbringen selbst, noch zu den Gründen für die verzögerte Geltendmachung erfolgt sind, obwohl dieses Vorbringen im weiteren Verfahren für unglaubwürdig befunden wurde. Schon deshalb wurde der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde nicht vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben. Daher ist dem BVwG in seiner Annahme, es sei ein vollumfängliches und ordnungsgemäßes behördliches Ermittlungsverfahren vorangegangen, nicht beizutreten. Das BVwG konnte somit nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen, sondern hätte schon aus diesem Grund eine mündliche Verhandlung durchzuführen gehabt.

10 Insofern das BVwG weiter ausführt, dem Revisionswerber stehe bei hypothetischer Wahrunterstellung des Fluchtvorbringens die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative offen, so ist dies - wie die Revision zutreffend ausführt - aus mehreren Gründen rechtswidrig:

11 Einerseits erfüllt die vorgenommene Wahrunterstellung nicht die dafür in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen (vgl. VwGH 12.11.2014, Ra 2014/20/0069, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird). Das BVwG hat nämlich nicht im Sinne dieser Judikatur offengelegt, von welchen als hypothetisch richtig angenommenen Sachverhaltsannahmen es bei seiner rechtlichen Beurteilung konkret ausgegangen ist, sodass nicht beurteilt werden kann, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative in Frage kommenden Gebiet - auch bei Zutreffen der Ausführungen des Revisionswerbers zur behaupteten Verfolgung - tatsächlich Verfolgungsfreiheit iSd § 11 Abs. 1 AsylG 2005 bestünde.

Feststellungen zur zu erwartenden konkreten Lage finden sich nur kursorisch. Es ist auch nicht ersichtlich und somit nicht nachprüfbar, worauf sich die Beweiswürdigung stützt, wenn das BVwG argumentiert, es fehle ein zentrales Einwohnermeldesystem - dies geht auch aus den Kurzinformationen nicht hervor - sowie dass die Taliban über kein effizientes und landesweites Netzwerk verfügen würden, da es als notorisch bekannt anzusehen sei, dass diese keine auf das gesamte Staatsgebiet homogene Organisation mit zentralem Datenverbund und entsprechenden logistischen Möglichkeiten sei. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass diese "notorische Bekanntheit" lediglich mit einem Verweis auf ein Taschenbuch aus dem Jahr 2010 - ohne jeglichen Hinweis auf eine exakte Verweisstelle - zu untermauern versucht wird. Eine Angabe eines konkreten Ortswechsels ist dem Erkenntnis nicht zu entnehmen, lediglich auf die Existenz und die Möglichkeit der Wohnortverlegung in eine der vier Großstädte wird verwiesen. Andererseits wird auch bezüglich der Erreichbarkeit einer allfälligen innerstaatlichen Fluchtalternative nur lapidar ausgeführt, dass ein "derartiges Gebiet" durch eine "Vielzahl von Einreisemöglichkeiten nach Pakistan" erreichbar wäre. Hierbei wurde weder ein konkreter Ort noch konkrete Einreisemöglichkeiten bzw. die konkrete Erreichbarkeit eines tauglichen Gebietes festgestellt, noch ist eine solche aufgrund dieser kursorischen Ausführungen und fehlender sich dazu deckender Feststellungen überprüfbar. Dadurch lässt das angefochtene Erkenntnis auch eine ausreichende Beschäftigung mit dem der innerstaatlichen Fluchtalternative innewohnenden Zumutbarkeitskalkül vermissen, welches nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage des Revisionswerbers in dem in Frage kommenden Gebiet erfordert hätte (vgl. VwGH 23.2.2016, Ra 2015/20/0233, mwN).

Ausgehend davon ist die Entscheidung des BVwG hinsichtlich der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative mangelhaft begründet und vermag daher das gegenständliche Erkenntnis - auch nicht rein hypothetisch - zu tragen. Auch diese Alternativbegründung rechtfertigt somit das Absehen von einer mündlichen Verhandlung nicht.

12 Aus den dargelegten Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b VwGG aufzuheben.

13 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Dem Revisionswerber gebührt im Umfang der Eingabegebühr nach § 24a VwGG kein Aufwandersatz, weil er von der Entrichtung dieser Gebühr aufgrund der mit hg. Beschluss vom 26. Juni 2017, Ra 2017/20/0142, bewilligten Verfahrenshilfe einstweilig befreit ist.

Wien, am 14. November 2017

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017200142.L00.1

Im RIS seit

07.12.2017

Zuletzt aktualisiert am

07.12.2017
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten