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41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, AsylrechtNorm
B-VG Art83 Abs2Leitsatz
Entzug des gesetzlichen Richters durch Abweisung der Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz und Ausweisung in die Türkei infolge unrichtiger - nur aus zwei männlichen Richtern bestehender - Zusammensetzung des Spruchkörpers des Asylgerichtshofes im Hinblick auf den von der Zweitbeschwerdeführerin geltend gemachten Fluchtgrund einer sexuellen Belästigung im Zuge einer Festnahme im Herkunftsstaat; Durchschlag dieses Mangels auf die Entscheidungen der anderen BeschwerdeführerSpruch
I. Die Beschwerdeführer sind durch die angefochtene Entscheidung in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
Die Entscheidung wird aufgehoben.
II. Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.160,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin, beide Staatsangehörige der Republik Türkei, brachten am 19. Juli 2011 für sich und für ihre minderjährigen Kinder, den Dritt- und Viertbeschwerdeführer, beim Bundesasylamt Anträge auf internationalen Schutz ein. Begründend führten sie aus, dass sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe im Allgemeinen sowie ihrer Abstammung aus Bingöl im Besonderen und ihres Bekenntnisses zur alevitischen Religion ständig Repressalien ausgesetzt gewesen seien. Zuletzt wäre im Juni 2011 eine Hausdurchsuchung an ihrem Wohnsitz durchgeführt worden und seien der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vorübergehend festgenommen worden. Die Zweitbeschwerdeführerin gab außerdem an, im Zuge einer Festnahme sexuell belästigt worden zu sein. Aufgrund dieser sexuellen Belästigung leide die Zweitbeschwerdeführerin unter psychischen Problemen, welche sich aufgrund der aktuellen Vorfälle noch verschlimmert hätten.
2. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 9. November 2011 wurden die Anträge der Erst- bis Viertbeschwerdeführer bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß §3 Abs1 Asylgesetz 2005 (im Folgenden: AsylG 2005) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß §8 Abs1 leg.cit. abgewiesen. Weiters wurde gemäß §10 Abs1 Z2 leg.cit. die Ausweisung der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Türkei verfügt.
Die gegen diese Bescheide gerichtete Beschwerde wurde am Asylgerichtshof der Gerichtsabteilung "E/10", bestehend aus zwei männlichen Richtern, zugeteilt.
3. Mit der nunmehr gemäß Art144a B-VG angefochtenen Entscheidung vom 11. Juli 2012 wies der Asylgerichtshof die Beschwerden der Erst- bis Viertbeschwerdeführer gemäß den §§3, 8 Abs1 Z1 und 10 Abs1 Z2 AsylG 2005 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit der Begründung ab, dass das Vorbringen der Beschwerdeführer zum behauptetermaßen ausreisekausalen Sachverhalt unglaubwürdig sei. Weiters seien keine außergewöhnlichen Umstände zutage getreten, die im Rahmen einer Abschiebung der Beschwerdeführer eine Verletzung der Art2 oder 3 EMRK bedeuteten und es überwögen die öffentlichen Interessen das Interesse der Beschwerdeführer am weiteren Verbleib in Österreich.
4. In ihrer gegen diese Entscheidung gerichteten, auf Art144a B-VG gestützten Beschwerde rügen die Beschwerdeführer die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und beantragen die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
5. Der belangte Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt (zB VfSlg 15.372/1998, 15.738/2000, 16.066/2001, 16.298/2001 und 16.717/2002) oder wenn sie in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt, etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg 15.482/1999, 15.858/2000, 16.079/2001 und 16.737/2002). Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird insbesondere dann verletzt, wenn eine an sich zuständige, aber nicht dem Gesetz entsprechend zusammengesetzte Kollegialbehörde entschieden hat (zB VfSlg 10.022/1984, 14.731/1997, 15.588/1999, 15.668/1999, 15.731/2000 und 16.572/2002).
2. §20 Asylgesetz 2005 – AsylG 2005, BGBl I 100/2005 idF BGBl I 4/2008 und §34 AsylG 2005 idF BGBl I 135/2009 lauten auszugsweise wie folgt:
"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung
§20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art1 Abschnitt A Z2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
(2) Für Verfahren vor dem Asylgerichtshof gilt Abs1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesasylamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen.
(3) Abs1 gilt nicht für Verfahren vor dem Kammersenat.
(4) Wenn der betroffene Asylwerber dies wünscht, ist die Öffentlichkeit von der Verhandlung eines Senates oder Kammersenates auszuschließen. Von dieser Möglichkeit ist er nachweislich in Kenntnis zu setzen. Im Übrigen gilt §67e AVG."
"Familienverfahren im Inland
§34. (1) Stellt ein Familienangehöriger (§2 Abs1 Z22) von
1. einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;
2. einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§8) zuerkannt worden ist oder
3. einem Asylwerber
einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.
(2) - (3) […]
(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß §12a Abs4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.
(5) - (6)"
3. Die §§2 und 19 der Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes für das Geschäftsjahr 2011 lauten wie folgt:
"§2
Annexsachen
(1) - (4) […]
(5) Annexität liegt weiters vor, wenn sich eine Rechtssache auf ein Familienmitglied einer Person bezieht, auf die sich ein anderes Verfahren bezieht oder bezogen hat (Bezugsperson). Familienmitglieder in diesem Sinne sind:
1. der Ehegatte der Bezugsperson oder eine Person, die mit der Bezugsperson im Sinne des Art8 EMRK ein Familienleben in Form einer Lebensgemeinschaft führt, sowie die Geschwister, Eltern und Kinder des Ehegatten oder Lebensgefährten;
2. Vorfahren und Nachkommen der Bezugsperson sowie die Ehegatten (und Lebensgefährten) dieser Vorfahren und Nachkommen und die Geschwister und Kinder dieser Ehegatten (und Lebensgefährten);
3. Geschwister der Bezugsperson sowie die Ehegatten (und Lebensgefährten) und Kinder dieser Geschwister.
(6) - (7) […]"
"§19
Fälle der Unzuständigkeit
(1) - (4) […]
(5) Ist ein Richter als Einzelrichter oder als Vorsitzender eines Senates in einer Rechtssache wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß §20 AsylG unzuständig und wird ihm aus diesem Grund diese Rechtssache abgenommen, so verliert er damit gleichzeitig auch seine Zuständigkeit für alle Rechtssachen, die zu dieser Rechtssache annex oder zu denen diese Rechtssache annex ist."
4. Die Zweitbeschwerdeführerin hat vor dem Bundesasylamt als Fluchtgrund unter anderem vorgebracht, in ihrem Herkunftsstaat im Zuge einer Festnahme sexuell belästigt worden zu sein. Ein Verlangen im Sinne des §20 Abs2 iVm §20 Abs1 AsylG 2005 wurde nicht gestellt. Am Asylgerichtshof wurden die Rechtssachen der Gerichtsabteilung "E/10", bestehend aus zwei männlichen Richtern, zugeteilt.
Die beschwerdeführenden Parteien wurden durch die angefochtene Entscheidung aus folgendem Grund in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt:
4.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in VfSlg 19.671/2012 ausgesprochen hat, ist eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde an den Asylgerichtshof geltend macht, – sofern der Asylwerber nichts anderes verlangt – gemäß §20 Abs2 AsylG 2005 gleich bei Beschwerdeanfall (und nicht nur bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung) einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zur Behandlung zuzuweisen.
4.2. Der Asylgerichtshof hat, indem er im vorliegenden Fall über die Beschwerde der Zweitbeschwerdeführerin, die im Verfahren vor dem Bundesasylamt vorgebracht hat, in ihrem Herkunftsstaat sexuell belästigt worden zu sein, durch einen aus einem männlichen Vorsitzenden und einem männlichen beisitzenden Richter bestehenden Senat eine mündliche Verhandlung durchgeführt und sodann in nichtöffentlicher Sitzung entschieden hat, die Zweitbeschwerdeführerin in ihrem Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt, weil über ihre Beschwerde durch einen aus zwei Richterinnen bestehenden Senat abzusprechen gewesen wäre bzw. die mündliche Verhandlung von einem solchen Senat durchzuführen gewesen wäre (vgl. VfSlg 19.671/2012).
4.3. Da die Entscheidung betreffend die Zweitbeschwerdeführerin durch einen unrichtig zusammengesetzten Spruchkörper getroffen wurde, schlägt dieser Mangel gemäß §19 Abs5 und §2 Abs5 Z1 der Geschäftsverteilung des Asylgerichtshofes für das Geschäftsjahr 2011 iVm §34 Abs4 AsylG 2005 auf die Entscheidungen betreffend den Erst-, Dritt- und Viertbeschwerdeführer durch. Auch insoweit liegt daher jeweils eine Verletzung dieser beschwerdeführenden Parteien im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter vor.
III. Ergebnis
1. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben.
2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§88a iVm 88 VfGG. Ein über die antragsgemäß zugesprochenen Kosten hinausgehender Ersatz der Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von jeweils € 220,– kommt nicht in Betracht, weil den Beschwerdeführern mit Beschluss vom 6. September 2012 Verfahrenshilfe auch im Umfang der einstweiligen Befreiung von der Entrichtung der Eingabengebühr gewährt wurde. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 360,– enthalten.
Schlagworte
Asylrecht, Ausweisung, Behördenzuständigkeit, Behördenzusammensetzung, AsylgerichtshofEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2013:U1749.2012Zuletzt aktualisiert am
03.02.2014