TE AsylGH Erkenntnis 2008/09/19 S9 401089-1/2008

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Veröffentlicht am 19.09.2008
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Spruch

S9 401.089-1/2008/6E

 

ERKENNTNIS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. DRAGONI als Einzelrichter über die Beschwerde der XX, geb. 00.00.1962, StA. SERBIEN, vertreten durch Mory & Schellhorn OEG, Rechtsanwaltsgemeinschaft in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 30.07.2008, FZ. 08 00.895 - EAST Ost, zu Recht erkannt:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 41 Abs. 3 AsylG 2005, BGBL. I Nr. 100/2005 stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

Text

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

 

I. Verfahrensgang und Sachverhalt:

 

1. Die Beschwerdeführerin, eine serbische Staatsangehörige, reiste am 23.01.2008 gemeinsam mit ihrem Ehegatten und ihrem Sohn sowie ihrer Tochter und deren Familie über UNGARN kommend in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 24.01.2008 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Sie wurde hierzu am Tag der Antragstellung durch einen Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Grenzbezirksstelle Neusiedl am See erstbefragt. Dabei gab sie an, sie sei am 21.01.2008 gemeinsam mit ihrer Familie von Prizren mit zwei Taxis bis nach Belgrad gefahren. Von dort aus sei sie mit einem Taxi bis kurz vor die serbisch-ungarische Staatsgrenze gefahren. In Szeged (UNGARN) hätten sie ein Taxi für die Weiterreise gesucht, das sie über Budapest nach Györ weitertransportiert habe. In Szeged hätten sie zwei weitere serbische Staatsbürger getroffen, welche mit ihnen gemeinsam weitergereist seien. In Györ hätten sie sich zwei weitere Taxis gesucht, die sie bis nach ÖSTERREICH gebracht hätten. Sie seien über den Grenzübergang Nickelsdorf nach ÖSTERREICH gefahren. Kurz vor Wien seien sie von der Polizei kontrolliert und anschließend zu einer Polizeidienststelle gebracht worden. Ihr Heimatland habe sie aus politischen Gründen verlassen.

 

2. Das Bundesasylamt richtete am 28.01.2008 Anfragen gemäß Art. 21 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 (Dublin II-VO) an UNGARN und SLOWENIEN, welche von beiden Mitgliedstaaten negativ beantwortet wurden. Die entsprechende Mitteilung gemäß § 28 Abs. 2, 2. Satz AsylG 2005 über die Führung von Konsultationen mit UNGARN und SLOWENIEN erhielt die Beschwerdeführerin am 29.01.2008. Am 20.03.2008 richtete das Bundesasylamt auf der Grundlage der konkreten Angaben der Beschwerdeführerin über ihren Reiseweg ein Aufnahmeersuchen gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO an die zuständige ungarische Behörde, welches am selben Tag elektronisch über DubliNET übermittelt wurde. Die entsprechende Mitteilung gemäß § 28 Abs. 2, 2. Satz AsylG 2005 über die Führung von Konsultationen mit UNGARN erhielt die Beschwerdeführerin am 26.03.2008. Mit Schreiben vom 03.04.2008 (eingelangt am 04.04.2008) erklärte sich UNGARN gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II-VO für die Durchführung des Asylverfahrens der Beschwerdeführerin zuständig.

 

3. Bei der am 10.04.2008 stattgefundenen niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, im Beisein eines Rechtsberaters brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, sie sei gemeinsam mit ihrer Tochter und deren Familie sowie ihrem Ehegatten und ihrem Sohn nach ÖSTERREICH gereist. Auf Vorhalt des Bundesasylamtes, dass beabsichtigt sei, ihre Ausweisung nach UNGARN zu veranlassen, gab die Beschwerdeführerin an, sie habe nach ÖSTERREICH gewollt und nicht nach UNGARN. Wenn sie in UNGARN hätte bleiben wollen, hätte sie sich dort gemeldet. Ihr gehe es psychisch schlecht. Sie habe im KOSOVO Probleme gehabt; es gehe ihr nicht gut. Sie nehme regelmäßig Tabletten.

 

4. Am 10.04.2008 langte der Befund vom 19.03.2008 von Dr. R., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, beim Bundesasylamt ein, aus welcher hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Die Stimmung sei deutlich ins Depressive verschoben; der Antrieb sei vermindert. Es bestehe eine psychomotorische Unruhe. Die Affizierbarkeit im positiven Skalenbereich sei erschwert. Vorerst wurde eine Therapie mit Trittico in einschleichender Dosierung begonnen. Die Ärztin stellte überdies fest, dass eine psychotherapeutische Betreuung dringend nötig wäre.

 

5. Auf Grundlage einer am 21.05.2008 sowie am 27.06.2008 bei der EAST-Ost durchgeführten Untersuchung übermittelte Dr. H., Ärztin für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutische Medizin, am 03.07.2008 dem Bundesasylamt eine Gutachtliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren. Die Beschwerdeführerin teilte im Rahmen der Untersuchung Dr. H. mit, dass sie in ihrer Heimat misshandelt worden sei. Die Ärztin hielt in diesem Zusammenhang fest, dass die Erzählung im Wesentlichen der der Tochter entspricht, ohne konstruiert oder abgesprochen zu wirken. Die Ärztin kommt zum Schluss, dass eine belastungsabhängige krankheitswertige psychische Störung vorliege, welche allerdings einer Überstellung nach UNGARN nicht entgegenstehen würde. Der Stellungnahme ist schließlich folgende Schlussfolgerung zu entnehmen: "... Aus aktueller Sicht besteht ein etwas milderes Krankheitsbild als bei der Tochter, im Vordergrund die depressive Stimmung und die somatischen (vegetative Begleitreaktionen im Sinn der Wiedererinnerung) Symptome. Dies entspricht der Definition der PTSD, F.43.1, mit vorwiegend vegetativer dissoziativer und depressiver Symptomatik.

 

Aus medizinischer Sicht sollte eine Besserung der Symptomatik abgewartet werden, Frau X hat wieder einen Termin bei der FÄ f. Psychiatrie, eine Umstellung der Medikation bzw. Neutablierung eines anderen Präparates sollte erfolgen, da Trittico nicht vertragen wurde.

 

Nach Einsetzen des Therapieerfolges könnte aufgrund der noch vorhandenen Stärken der Frau bei etwas milderer Symptomatik als bei der Tochter eine Therapie im Zielland fortgesetzt werden, aus menschlicher Sicht wäre natürlich die Zusammenführung mit der Tochter wünschenswert. Mit einer Verschlechterung ist auf jeden Fall zu rechnen, wenn es zu einer Trennung der restlichen Familie kommen sollte."

 

6. Bei der am 28.07.2008 stattgefundenen niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost, zur Wahrung des Parteiengehörs brachte die Beschwerdeführerin im Beisein eines Rechtsberaters auf Vorhalt der Gutachtlichen Stellungnahme von Dr. H. vor, sie habe keine Kraft mehr. Sie wolle nicht, dass ihr Mann und ihr Sohn von der Vergewaltigung erfahren. Ihre Tochter und deren Familie (Schwiegersohn und Enkel) würden in Österreich leben. Auf Vorhalt des Bundesasylamtes, dass beabsichtigt sei, ihre Ausweisung nach UNGARN zu veranlassen, brachte die Beschwerdeführerin wieder vor, dass sie keine Kraft mehr habe. Wenn ihr Sohn und ihr Mann erfahren würden, was passiert sei, wisse sie nicht, was sie machen solle. Sie kenne UNGARN nicht. Sie wolle in Österreich bleiben. Ihre Tochter sei auch hier.

 

7. Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 30.07.2008, Zahl:

08 00.895-EAST Ost, wurde der Antrag auf internationalen Schutz der Beschwerdeführerin ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und festgestellt, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gemäß Art. 10 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.02.2003 UNGARN zuständig sei. Gleichzeitig wurde die nunmehrige Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach UNGARN ausgewiesen und festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung und Abschiebung nach UNGARN gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei. Das Bundesasylamt traf umfangreiche länderkundliche Feststellungen zu UNGARN, insbesondere zum ungarischen Asylwesen sowie zur medizinischen Versorgung. Beweiswürdigend hielt die Erstbehörde im Wesentlichen fest, dass die nunmehrige Beschwerdeführerin keine stichhaltigen Gründe für die Annahme glaubhaft gemacht habe, dass sie konkret Gefahr liefe, in UNGARN Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden oder dass ihr durch die Überstellung eine Verletzung der durch Art. 3 EMRK oder Art. 8 EMRK gewährleisteten Rechte drohen könnte. Der Bescheid wurde am 22.07.2008 von Beschwerdeführerin nachweislich übernommen.

 

Beweiswürdigend hielt das Bundesasylamt unter Zugrundelegung der einschlägigen Judikatur des EGMR und des VfGH fest, dass im gegenständlichen Fall aus der Diagnose von Dr. H., die Beschwerdeführerin leide an einer PTSD, kein Abschiebehindernis und somit kein Grund für einen zwingenden Selbsteintritt nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO erkennbar sei.

 

8. Gegen den genannten Bescheid richtet sich die fristgerecht am 13.08.2008 eingebrachte Beschwerde, in welcher im Wesentlichen die Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften behauptet wurde. Im Wesentlichen brachte die Beschwerdeführerin zusammengefasst vor, dass eine Überstellung nach UNGARN unzulässig sei, weil diese in Widerspruch zu Art. 3 und Art. 8 EMRK stehe und daher grundrechtswidrig sei.

 

9. Mit Beschluss des Asylgerichtshofes vom 25.08.2008, Zahl: S9 401.089-1/2008/4Z, wurde der Beschwerde gemäß § 37 Abs. 1 AsylG 2005 die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

 

10. Mit Schreiben vom 05.09.2008 übermittelte der Beschwerdeführervertreter dem Asylgerichtshof ärztliche Unterlagen betreffend den Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin.

 

Aus dem vorgelegten Ambulanzbericht vom 04.09.2008 von OA Dr. F. geht hervor, dass die Beschwerdeführerin nach einer stationären Behandlung über anfängliche Besserung des Gesundheitszustandes berichte. Es sei jedoch zu einer Stimmungsverschlechterung und zum erstmaligen Auftreten akustischer Halluzinationen gekommen. Die Beschwerdeführerin leide massiv unter der Trennung von ihrer Tochter. Die depressive Stimmungsverschlechterung zeige sich im deutlichen Zusammenhang damit. Es wurde eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen F32.3 und einen posttraumatische Belastungsstörung F43.1 diagnostiziert.

 

In der Ärztlichen Stellungnahme vom 04.09.2008 führt OA Dr. F. aus, dass die Beschwerdeführerin bei ihm in psychiatrisch fachärztlicher Behandlung stehe. Durch eine Familientrennung sei es zu einer weiteren Zustandsverschlechterung mit Entwicklung einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen gekommen. Die Trennung von der Tochter sei für die Beschwerdeführerin psychisch äußerst belastend. Die Depressionsverschlechterung sei in deutlichem Zusammenhang damit zu sehen. Aus Sicht des Arztes sei eine Familienzusammenführung zur Besserung des depressiven Störungsbildes der Beschwerdeführerin sehr zu befürworten.

 

II. Der Asylgerichtshof hat durch den zuständigen Richter über die Beschwerde wie folgt erwogen:

 

1. Verfahrensgang und Sachverhalt ergeben sich aus den Ausführungen zu Punkt I sowie aus dem vorliegenden Verwaltungsakt.

 

2. Rechtlich ergibt sich Folgendes:

 

1. Mit Datum 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005) und auf alle ab diesem Zeitpunkt gestellten Asylanträge anzuwenden. Im gegenständlichen Fall wurde der Asylantrag am 11.03.2008 gestellt, weshalb das AsylG 2005 zur Anwendung gelangt.

 

2. Gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 ist ein nicht gemäß § 4 AsylG 2005 erledigter Asylantrag als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder aufgrund der Verordnung Nr. 343/2003 (EG) des Rates vom 18.2.2003 (Dublin II VO) zur Prüfung des Asylantrages zuständig ist. Mit dem Zurückweisungsbescheid hat die Asylbehörde auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ist die Zurückweisung eines Antrages nach Maßgabe der § 10 Abs. 3 und Abs. 4 AsylG 2005 mit einer Ausweisung zu verbinden. § 5 AsylG 2005 bezieht sich dabei auf die Dublin II

VO.

 

Die Dublin II VO ist eine Verordnung des Gemeinschaftsrechts im Anwendungsbereich der 1. Säule der Europäischen Union (vgl Art. 63 EGV), die Regelungen über die Zuständigkeit zur Prüfung von Asylanträgen von Drittstaatsangehörigen trifft. Sie gilt also nicht für mögliche Asylanträge von EU-Bürgern, ebenso wenig ist sie auf Personen anwendbar, denen bereits der Flüchtlingsstatus zuerkannt wurde. Das wesentliche Grundprinzip ist jenes, dass den Drittstaatsangehörigen in einem der Mitgliedstaaten das Recht auf ein faires, rechtsstaatliches Asylverfahren zukommt, jedoch nur ein Recht auf ein Verfahren in einem Mitgliedstaat, dessen Zuständigkeit sich primär nicht aufgrund des Wunsches des Asylwerbers, sondern aufgrund der in der Verordnung festgesetzten hierarchisch geordneten Zuständigkeitskriterien ergibt.

 

Es ist daher zunächst zu überprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat nach den hierarchisch aufgebauten (Art. 5 Abs 1 Dublin II VO) Kriterien der Art. 6-12 bzw. 14 und Art. 15 Dublin II VO zuständig ist oder die Zuständigkeit bei ihm selbst nach dem Auffangtatbestand des Art. 13 Dublin II VO (erste Asylantragstellung) liegt.

 

2.1. Im vorliegenden Fall ist dem Bundesasylamt zuzustimmen, dass eine Zuständigkeit von UNGARN gemäß Art. 10 Abs. 1 Dublin II VO besteht. Die Zuständigkeit wurde von UNGARN mit Schreiben vom 03.04.2008 (eingelangt am 04.04.2008) auch ausdrücklich anerkannt. Die erste Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der getroffenen Unzuständigkeitsentscheidung war somit gegeben.

 

2.2. Es sind auch aus der Aktenlage keine Hinweise ersichtlich, wonach die Führung der Konsultationen im gegenständlichen Fall derart fehlerhaft erfolgt wäre, sodass von Willkür im Rechtssinn zu sprechen wäre und die Zuständigkeitserklärung des zuständigen Mitgliedstaates wegen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundsätze aus diesem Grund ausnahmsweise keinen Bestand haben könnte (Filzwieser, Subjektiver Rechtsschutz und Vollziehung der Dublin II-VO - Gemeinschaftsrecht und Menschenrechte, migraLex, 1/2007, 22 ff).

 

3. Das Bundesasylamt hat ferner von der Möglichkeit der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO keinen Gebrauch gemacht. Es war daher - entsprechend den Ausführungen in der Beschwerde - noch zu prüfen, ob von diesem Selbsteintrittsrecht im gegenständlichen Verfahren ausnahmsweise zur Vermeidung einer Verletzung der EMRK zwingend Gebrauch zu machen gewesen wäre.

 

3.1. Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 17.06.2005, Zl. B 336/05-11, festgehalten, die Mitgliedstaaten hätten nicht kraft Gemeinschaftsrecht nachzuprüfen, ob ein anderer Mitgliedstaat generell sicher sei, da eine entsprechende normative Vergewisserung durch die Verabschiedung der Dublin II-VO erfolgt sei. Er hat dabei aber gleichzeitig ausgeführt, dass eine Nachprüfung der grundrechtlichen Auswirkungen einer Überstellung im Einzelfall gemeinschaftsrechtlich zulässig und bejahendenfalls das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO zwingend geboten sei.

 

Bei entsprechender Häufung von Fällen, in denen in Folge Ausübung des Selbsteintrittsrechts die gemeinschaftsrechtliche Zuständigkeit nicht effektuiert werden kann, kann eine Gefährdung des "effet utile" Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts entstehen. Zur effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sind alle staatlichen Organe kraft Gemeinschaftsrechts verpflichtet.

 

Der Verordnungsgeber der Dublin II-VO geht davon aus, dass sich alle Mitgliedstaaten untereinander als "sicher" ansehen können, wodurch auch eine Überstellung vom einen in den anderen Mitgliedstaat keine realen Risken von Menschenrechtsverletzungen bewirken könnte (vgl. insbesondere den 2. Erwägungsgrund der Präambel der Dublin II-VO). Er hat dabei keine eindeutigen verfahrens- oder materiellrechtlichen Vorgaben für solche Fälle getroffen. Diesbezüglich lässt sich aber aus dem Gebot der EMRK-konformen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und aus Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrechte ableiten, dass bei einer drohenden Verletzung der EMRK durch die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat keine Überstellung stattfinden darf. Die Beachtung des Effizienzgebots (das etwa eine pauschale Anwendung des Selbsteintrittsrechts oder eine innerstaatliche Verfahrensgestaltung, die Verfahren nach der Dublin II-VO umfangreicher gestaltet als materielle Verfahren) und die Einhaltung der Gebote der EMRK stehen daher bei richtiger Anwendung nicht in Widerspruch (Filzwieser, migraLex, 1/2007, 18 ff, Filzwieser/Liebminger, Dublin II-Verordnung, Art. 19, K8 - K13). Auch der EGMR hat festgestellt, dass die Rechtsschutz des Gemeinschaftsrechts regelmäßig den Anforderungen der EMRK entsprechen muss (30.06.2005, Bosphorus Airlines Irland, Rs 45036/98).

 

Es bedarf europarechtlich eines im besonderen Maße substantiierten Vorbringens und des Vorliegens besonderer vom Antragsteller bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, um die grundsätzliche europarechtlich gebotene Annahme der "Sicherheit" der Partnerstaaten der Europäischen Union als einer Gemeinschaft des Rechts im individuellen Fall erschüttern zu können.

 

3.2. Unbestritten ist, dass nach der allgemeinen Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK und Krankheiten, die auch im vorliegenden Fall maßgeblich ist, eine Überstellung nach UNGARN nicht zulässig wäre, wenn dort wegen fehlender Behandlung sehr schwerer Krankheiten eine Existenzbedrohende Situation drohte und diesfalls das Selbsteintrittsrecht der Dublin II VO zwingend auszuüben wäre.

 

In diesem Zusammenhang ist vorerst auf das jüngste diesbezügliche Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes (VfGH vom 06.03.2008, Zl: B 2400/07-9) zu verweisen, welches die aktuelle Rechtsprechung des EGMR zur Frage der Vereinbarkeit der Abschiebung Kranker in einen anderen Staat mit Art. 3 EMRK festhält (D. v. the United Kingdom, EGMR 02.05.1997, Appl. 30.240/96, newsletter 1997,93; Bensaid, EGMR 06.02.2001, Appl. 44.599/98, newsletter 2001,26; Ndangoya, EGMR 22.06.2004, Appl. 17.868/03; Salkic and others, EGMR 29.06.2004, Appl. 7702/04; Ovdienko, EGMR 31.05.2005, Appl. 1383/04; Hukic, EGMR 29.09.2005, Appl. 17.416/05; EGMR Ayegh, 07.11.2006; Appl. 4701/05; EGMR Goncharova & Alekseytsev, 03.05.2007, Appl. 31.246/06).

 

Zusammenfassend führt der VfGH aus, das sich aus den erwähnten Entscheidungen des EGMR ergibt, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaates gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung in Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben (Fall D. v. the United Kingdom).

 

3.2.1. Im vorliegenden Fall stützt sich das Bundesasylamt zur Klärung der Frage, ob die Beschwerdeführerin überstellungsfähig ist, auf die Gutachtliche Stellungnahme im Zulassungsverfahren von Dr. H. vom 03.07.2008. Nach der Untersuchung stellte die Ärztin fest, dass der Überstellung der Beschwerdeführerin nach UNGARN keine schwere psychische Störung entgegenstehen würde, die bei einer Überstellung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes aus ärztlicher Sicht bewirken würde. Diese Feststellung steht jedoch teilweise im Widerspruch zu ihren abschließenden Ausführungen, wonach auf jeden Fall mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu rechnen sei, wenn die Beschwerdeführerin von der restlichen Familie getrennt werde.

 

Das Bundesasylamt ist in seiner Beweiswürdigung nicht auf diesen Widerspruch eingegangen, sondern hat lediglich festgestellt, dass auf der Grundlage der Gutachtlichen Stellungnahme im Zulassungsverfahren eine Überstellung nach UNGARN nicht die Gefahr einer unzumutbaren Verschlechterung des Gesundheitszustandes bestehe. Mit der durch die Gutachtliche Stellungnahme hervorgerufenen Frage, wie sich eine Trennung der Beschwerdeführerin von ihrer restlichen Familie, insbesondere von ihrer Tochter, auf ihren Gesundheitszustand auswirken würde, hatte sich das Bundesasylamt zum Entscheidungszeitpunkt nicht auseinanderzusetzen, weil es davon ausgegangen ist, dass die gesamte Familie nach UNGARN rücküberstellt werde.

 

Nun hat der Asylgerichtshof im Fall der Tochter der Beschwerdeführerin und deren Familie festgestellt, dass zur Vermeidung einer Verletzung des Art. 3 EMRK vom Selbsteintrittsrecht zwingend Gebrach zu machen war. Die Entscheidungen des Bundesasylamtes betreffend die Tochter der Beschwerdeführerin und deren Familie wurden mit den Erkenntnissen des Asylgerichtshofes, ersatzlos behoben und die Verfahren zugelassen. Damit wird nun aber eine eingehende Prüfung erforderlich, inwieweit sich eine Trennung der Beschwerdeführerin von ihrer Tochter auf ihre Überstellungsfähigkeit auswirkt und insbesondere ob diese einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK darstellen könnte.

 

3.2.2. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in Ausübung dieses Rechts ist gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Der EGMR bzw. die EKMR verlangen zum Vorliegen des Art. 8 EMRK das Erfordernis eines "effektiven Familienlebens", das sich in der Führung eines gemeinsamen Haushaltes, dem Vorliegen eines Abhängigkeitsverhältnisses oder eines speziell engen, tatsächlich gelebten Bandes zu äußern hat (vgl. das Urteil Marckx [Ziffer 45] sowie Beschwerde Nr. 1240/86, V. Vereinigtes Königreich, DR 55, Seite 234; hierzu ausführlich: Kälin, "Die Bedeutung der EMRK für Asylsuchende und Flüchtlinge: Materialien und Hinweise", Mai 1997, Seite 46).

 

Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse gemeinsame Intensität erreichen. Als Kriterien hierfür kommen etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes oder die Gewährung von Unterhaltsleistungen in Betracht. In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (vgl. EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; siehe auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (vgl. EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311), und zwischen Onkel und Tante und Neffen bzw. Nichten (vgl. EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1989, 761; Rosenmayer ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (vgl. EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).

 

3.2.3. Das Bundesasylamt hat im Hinblick auf die beabsichtigte Überstellung aller Familienangehörigen nach Ungarn keine Erhebungen durchgeführt, ob eine derartige Beziehungsintensität zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter vorliegt. Auch wenn die gutachtliche Stellungnahme sowie der nun vorliegende fachärztliche Befund in diese Richtung deuten, ist es dem Asylgerichtshof nicht möglich, diese Frage auf der Grundlage des vom Bundesasylamt festgestellten Sachverhalt abschließend zu klären.

 

3.3. Im fortzusetzenden Verfahren werden in diesem Zusammenhang weitere Erhebungen zu tätigen sein. Im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des Art. 8 EMRK ist zu klären, ob Umstände vorliegen, die auf eine besondere Beziehungsintensität bzw. ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Beschwerdeführerin und ihrer Tochter schließen lassen. In diesem Zusammenhang wird es auch notwenig sein, die Beteiligten zu ihrem bisherigen Familienleben entsprechend zu befragen.

 

Außerdem wäre durch Einholung einer ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme zu klären, welche konkrete Verschlechterung des psychischen Zustandes der Beschwerdeführerin im Falle einer Trennung der Beschwerdeführerin von der Tochter die untersuchende Ärztin befürchtet. Nur so wird die Behörde auch in der Lage sein, schlüssige und verbindliche Feststellungen zum tatsächlichen aktuellen psychischen Zustand der Beschwerdeführerin und - damit im Zusammenhang - zu ihrer aktuellen Überstellungsfähigkeit zu treffen. Es wird darauf hingewiesen, dass neue Beweismittel dem Beschwerdeführer im Wege des Parteingehörs zur Kenntnis zu bringen sind.

 

4. § 41 Abs. 3 AsylG 2005 lautet: "In einem Verfahren über eine Beschwerde gegen eine zurückweisende Entscheidung und die damit verbundene Ausweisung ist § 66 Abs. 2 AVG nicht anzuwenden. Ist der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesasylamts im Zulassungsverfahren statt zu geben, ist das Verfahren zugelassen. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch statt zu geben, wenn der Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint."

 

Als maßgebliche Determinante für die Anwendbarkeit des § 41 Abs. 3 AsylG in diesem Zusammenhang ist die Judikatur zum § 66 Abs. 2 AVG heranzuziehen, wobei allerdings kein Ermessen des Asylgerichtshofes besteht. Eine kassatorische Entscheidung darf vom Asylgerichtshof nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann getroffen werden, wenn der ihm vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

 

4.1. Im vorliegenden Fall hat das Bundesasylamt, wie dargestellt, keine ordnungsgemäß begründete Entscheidung (vgl. Art. 19 Abs. 2 1. Satz Dublin II VO und Art. 20 Abs. 1 lit. e 2. Satz Dublin II VO) erlassen. Der Asylgerichtshof war auf Basis der Ergebnisse des Verfahrens des Bundesasylamtes praktisch nicht in der Lage, innerhalb der zur Verfügung stehenden kurzen Entscheidungsfristen (§ 37 Abs. 3 AsylG) eine inhaltliche Entscheidung zu treffen. Der angefochtene Bescheid konnte daher unter dem Gesichtspunkt des § 41 Abs. 3 AsylG 2005 keinen Bestand mehr haben.

 

4.2. Es war somit spruchgemäß zu entscheiden. Eine öffentliche mündliche Verhandlung konnte gemäß § 41 Abs. 4 AsylG entfallen.

Schlagworte
familiäre Situation, gesundheitliche Beeinträchtigung, Gutachten, Intensität, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung, Überstellungsrisiko (ab 08.04.2008)
Zuletzt aktualisiert am
31.12.2008
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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