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41/02 Passrecht Fremdenrecht;Norm
AsylG 1997 §7;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldner und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Sulzbacher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des I in I, geboren 1978, vertreten durch Dr. Adolph Platzgummer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Colingasse 3, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 4. Jänner 2000, Zl. 201.531/14-V/14/00, betreffend § 7 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug und nach Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung ergangenen Bescheid der belangten Behörde vom 4. Jänner 2000 wurde der Asylantrag des Beschwerdeführers, eines Staatsangehörigen von Nigeria, gemäß § 7 AsylG abgewiesen. Die belangte Behörde erachtete das Vorbringen des Beschwerdeführers - im Gegensatz zur Erstbehörde - für glaubwürdig und stellte folgenden Sachverhalt fest:
"Der Asylwerber ist nigerianischer Staatsangehöriger und reiste am 14.11.1997 illegal in das Bundesgebiet ein. In seinem Heimatland wuchs er bei seinem Vater in Uronigbe (Bundesstaat Edo) auf, der eine große Landwirtschaft besitzt und viele Leute beschäftigt. Später übersiedelte er in das Haus seiner Mutter nach Benin City. Politisch betätigte er sich nie und hat auch nie einer politischen Partei angehört. Sein Vater war Mitglied der Ogboni-Sekte. Aufgrund dieser Mitgliedschaft war es die Pflicht des Vaters, den Sohn zu opfern. Da der Vater nicht bereit war, dies zu tun, opferte er an Stelle des eigenen Sohnes ein anderes Kind, dessen Eltern der Aseidi-Sekte angehörten. Als die Eltern dieses Kindes erfuhren, dass es statt seiner geopfert worden ist, rächten sie sich, indem die Brüder des ermordeten Kindes den Asylwerber im Juni 1997 überfielen und ihn mit einem Messer niederstachen. In der Meinung, dass er tot sei, ließ man ihn liegen. Als man ihn in der Folge fand, wurde er in das Krankenhaus nach Uronigbe gebracht. Vorerst wurde ihm die Behandlung durch den Arzt im Krankenhaus verweigert. Erst nach der Intervention des Dorfältesten wurde seine Wunde versorgt. Sein Vater informierte die Ogboni-Sekte von den Geschehnissen, und dass er ein anderes Kind als seinen Sohn geopfert hätte. In der Folge kam es zur Auseinandersetzung zwischen der Ogboni- und der Aseidi-Sekte. Infolge dieser Auseinandersetzung wurde er selbst (der Beschwerdeführer) dann überfallen, um seinem Vater Leid anzutun. Der Hauptkonflikt gipfelte darin, dass Angehörige der Aseidi das Haus des Vaters anzündeten und ihr Auto beschlagnahmten. Als er (der Beschwerdeführer) erfuhr, dass man sich an ihm rächen wollte, flüchtete er nach Lagos. Vorher wandte er sich noch an den Bezirksvorsteher in Benin City, um ihn um Rat zu fragen. Dieser ist eine Art traditioneller Häuptling, der keiner Gruppierung, staatlichen Organen oder Sekte angehört. Dieser verweigerte ihm die Hilfe, weil er sich über die Taten des Vaters ärgerte. Nunmehr werde er von der Polizei von Benin City gesucht, weil sein Vater ein Verbrechen begangen hat. Die Polizei weiß, dass sein Vater aus dem Versteck kommen werde, wenn er verhaftet würde. In der Folge flüchtete er daher nach Lagos."
Rechtlich folgerte die belangte Behörde, "tragende Begründung" für die Flucht des Beschwerdeführers sei, dass nunmehr auch er von der Polizei von Benin City gesucht werde, um seinen Vater, der "wegen seiner kriminellen Tätigkeit für die Ogboni-Sekte (der Tötung - Opferung - eines Kindes)" von den Behörden gesucht werde, aus dem Versteck zu locken. Solche Maßnahmen staatlicher Stellen seien - so die belangte Behörde weiter - "zur Aufklärung und Hintanhaltung von kriminellen Vorkommnissen (hier: rituelles Verbrechen) auch in anderen Rechtsstaaten üblich" und "von den Angehörigen eines Staates zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in Kauf zu nehmen." In den weiteren Ausführungen verneinte die belangte Behörde das Vorliegen eines Konventionsgrundes und ging schließlich davon aus, dass sich aus den Sachverhaltsfeststellungen "kein hinreichender Anhaltspunkt" dafür ergebe, dass der Heimatstaat des Beschwerdeführers grundsätzlich außer Stande oder nicht Willens sei, ihm Schutz vor allfälligen Übergriffen der Aseidi-Sekte zu gewähren. Die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Befürchtung, dass sein Leben in Gefahr sei, stelle sich "sohin als subjektive Annahme seinerseits dar, welche jedenfalls keine hinreichende Basis für eine Asylgewährung bieten konnte."
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Die Beschwerde betont, die nigerianischen Strafverfolgungsbehörden versuchten deshalb des Beschwerdeführers "habhaft" zu werden, damit "als Folge einer Art Sippenhaftung bzw. Geiselhaft der Vater des Beschwerdeführers dingfest gemacht" werden könne. Die belangte Behörde übersehe im gegebenen Fall, dass sich die Tätigkeit der Polizei nicht in der "Suche" nach dem Beschwerdeführer erschöpft hätte; dieser habe im Verfahren davon gesprochen, dass er "verhaftet" würde. In den weiteren Beschwerdeausführungen werden sodann ausgehend vom Zweck einer solchen "Geiselhaft" Mutmaßungen darüber angestellt, mit welchen Repressalien der Beschwerdeführer im Falle seiner Ergreifung durch die nigerianischen Sicherheitsbehörden zu rechnen (gehabt) hätte.
Diesen Ausführungen ist unter dem Gesichtspunkt eines (sekundären) Verfahrensmangels insofern beizupflichten, als die belangte Behörde zu dieser Frage weder Ermittlungen angestellt noch konkrete Feststellungen getroffen hat. Aber erst anhand von solchen Feststellungen ließe sich beurteilen, ob es sich tatsächlich - wie die belangte Behörde meint - um "auch in anderen Rechtsstaaten übliche" Maßnahmen staatlicher Stellen zur Aufklärung von kriminellen Vorkommnissen handelt, oder ob sie das Ausmaß eines ungerechtfertigten Eingriffes von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Beschwerdeführers erreichen würden und somit (allenfalls in Summe) als "Verfolgung" im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention zu qualifizieren wären.
Derartige Feststellungen sind aber auch nicht deshalb entbehrlich, weil diese Maßnahmen an keinen der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe anknüpfen könnten. Ein solcher Sachverhalt, wie er hier vom Beschwerdeführer geltend gemacht wird, wäre vielmehr - wie die Beschwerde zutreffend aufzeigt - unter dem Gesichtspunkt der "Sippenhaftung", somit der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu beurteilen gewesen (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 19. Dezember 2001, Zl. 98/20/0312, und Zl. 98/20/0330, auf deren Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird). Insoweit hat die belangte Behörde die Rechtslage verkannt.
Aber auch in Bezug auf die dem Beschwerdeführer - nach den getroffenen Sachverhaltsfeststellungen auch - drohende (Privat)Verfolgung durch Angehörige der Aseidi-Sekte lässt sich ein Zusammenhang mit einem Konventionsgrund nicht ausschließen. Vielmehr wäre auch insoweit eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "Familie" in Betracht zu ziehen gewesen. (vgl. das zu § 6 Z 2 AsylG ergangene, die "Blutrache" an einem unbeteiligten Familienmitglied des Täters betreffende Erkenntnis vom 26. Februar 2002, Zl. 2000/20/0517, auf dessen Entscheidungsgründe ebenfalls gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen werden kann; dort angesprochene "besondere Abgrenzungsfragen" stellen sich im vorliegenden Fall derzeit nicht).
Schließlich ist aber auch die Annahme staatlicher Schutzgewährung vor "allfälligen Übergriffen der Aseidi-Sekte" im angefochtenen Bescheid nicht ausreichend begründet. In diesem Zusammenhang ist zunächst anzumerken, dass sich in der Beweiswürdigung unter Bezugnahme auf Länderberichte angesprochene Feststellungen zur politischen Lage und Menschenrechtssituation in Nigeria im angefochtenen Bescheid nicht finden. Entgegen der Meinung der belangten Behörde ergibt sich aus den getroffenen Sachverhaltsfeststellungen aber insofern ein Anhaltspunkt für die mangelnde Schutzwilligkeit der (lokalen) nigerianischen Behörden, als sich der Beschwerdeführer an den "Bezirksführer von Benin City" - dieser gehört zwar nach den behördlichen Feststellungen keinen "staatlichen Organen" an, doch hat der Beschwerdeführer dessen Funktion auch dahin umschrieben, dass er "der oberste Chef des Bezirks" sei und die staatlichen Behörden aufgrund seiner "Macht" seine Forderungen erfüllen müssten - gewandt habe und dieser unter Billigung der von den "Aseidis" beabsichtigten Rache am Beschwerdeführer erklärt habe, nichts für ihn tun zu können. Anhand der vorliegenden Bescheidbegründung ist somit nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde von der Schutzfähigkeit und -willigkeit des nigerianischen Staates ausgegangen ist, zumal sich auch keine ausdrücklichen Feststellungen über eine lokale Begrenztheit der Verfolgungsgefahr durch Mitglieder der Aseidi-Sekte finden. Zutreffend macht die Beschwerde daher auch in diesem Zusammenhang Ermittlungsdefizite und Feststellungsmängel geltend. Dazu kommt letztlich noch, dass jene staatlichen Behörden, die dem Beschwerdeführer Schutz vor der ihm angeblich drohenden Privatverfolgung gewähren könnten, im Sinne der obigen Ausführungen unter Umständen selbst asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen gegen den Beschwerdeführer beabsichtigen, was - worauf die Beschwerde zu Recht hinweist - für den Beschwerdeführer eine Schutzsuche bei diesen nigerianischen Behörden unzumutbar machen würde.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.
Wien, am 17. September 2003
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2003:2000200137.X00Im RIS seit
17.10.2003