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E4D E19103010;Norm
42000D0677 Übk Zuständigkeit Familienangehörige;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde des B in G, geboren 1971, vertreten durch Dr. Peter C. Sziberth, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Marburger Kai 47/III, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 9. August 2001, Zl. 223.437/0- IV/11/01, betreffend § 5 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, reiste am 22. Februar 2001 aus Deutschland in das Bundesgebiet ein und stellte am 23. Februar 2001 einen Asylantrag.
Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 19. Juli 2001 gemäß § 5 Abs. 1 des Asylgesetzes (in der damals geltenden Fassung BGBl. I Nr. 4/1999) als unzulässig zurück, stellte fest, für die Prüfung des Asylantrages sei gemäß Art. 5 Abs. 2 des Dubliner Übereinkommens (DÜ), BGBl. III 1997/165, Deutschland zuständig, und wies den Beschwerdeführer nach Deutschland aus. Es stellte fest, der Beschwerdeführer sei bei der Asylantragstellung in Österreich im Besitz eines (gültigen) Schengenvisums - ausgestellt von der deutschen Botschaft in Ankara - gewesen, aufgrund dessen er legal am 18. Februar 2001 von Ankara nach Deutschland geflogen und mit der Bahn weiter nach Österreich gereist sei. Da sich zwei Brüder des Beschwerdeführers in Österreich aufhielten, sei eine "eingehende Prüfung im Sinne des Beschlusses Nr. 1/2000 vom 31.10.2000 des Ausschusses nach
Artikel 18 des Dubliner Übereinkommens über den Übergang der Zuständigkeit für Familienangehörige gemäß Artikel 3 Absatz 4 und Artikel 9 des Dubliner Übereinkommens" durchgeführt worden. Dabei habe kein humanitärer oder sonstiger Grund für die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes im Sinne des Art. 3 Abs. 4 DÜ und - hinsichtlich der Ausweisung nach Deutschland - auch keine Verletzung des Art. 8 EMRK festgestellt werden können, zumal der Beschwerdeführer nicht geltend gemacht habe, dass er im Sinne des genannten Beschlusses Nr. 1/2000 "auf Hilfe zum Leben" durch seine Brüder angewiesen wäre.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung, die er damit begründete, das Bundesasylamt habe das DÜ "nur mangelhaft" angewandt bzw. seien die Fragen an ihn "nicht im Hinblick auf das DÜ" gestellt worden. Der humanitäre Aspekt im Sinne des Art. 9 DÜ sei überhaupt nicht geprüft worden. Er habe angegeben, dass er zwei in Österreich lebende Brüder habe; er sei derzeit bei diesen wohnhaft. Er sei "in einer finanziell angespannten Lage" und wäre in Deutschland in einem "absolut fremden Staat" ohne Sprachkenntnisse und "ohne jeglichen Familienanschluss". Diese Umstände stellten jedenfalls einen "humanitären und einen familiären Grund" dafür dar, dass der Asylantrag des Beschwerdeführers in Österreich auch inhaltlich zu prüfen sei.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 5 Abs. 1 AsylG ab. Die belangte Behörde schloss sich den Ausführungen des Bundesasylamtes vollinhaltlich an und erhob diese zum Inhalt des angefochtenen Bescheides. Soweit in der Berufung auf in Österreich lebende Brüder des Beschwerdeführers hingewiesen werde, sei zwar davon auszugehen, dass der "Begriff des 'Familienlebens' in Art. 8 EMRK ... nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt", umfasse. Der Beschwerdeführer habe aber "nicht konkret dargetan, dass er mit seinen im Bundesgebiet aufhältigen Angehörigen Beziehungen mit einer entsprechenden Intensität gepflogen habe, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorgelegen wäre, wogegen schon der Umstand spricht, dass seine Brüder schon bei seiner Einreise ins Bundesgebiet hier aufhältig waren (laut Auskunft der BPD Graz, Meldeamt, sind seine Brüder seit 17.03.2000 bzw. 26.09.2000 an den vom Asylwerber angegebenen Adressen in Graz aufrecht gemeldet), weshalb familiäre Beziehungen von ausreichender Nähe im Sinne des Art. 8 EMRK mit seinen in Österreich lebenden Familienangehörigen jedenfalls zu verneinen" seien. Der Beschwerdeführer habe "sohin auch keineswegs im Sinne des Artikel 1 Absatz 2 des Beschlusses Nr. 1/2000 vom 31. Oktober 2000 des Ausschusses nach Artikel 18 des Dubliner Übereinkommens über den Übergang der Zuständigkeit für Familienangehörige gemäß Artikel 3 Absatz 4 und Artikel 9 jenes Übereinkommens konkret dargetan, dass er mit seinen Brüdern als Familie zusammengelebt hat, bevor sie ihr Herkunftsland verlassen haben, und lässt sich dem Vorbringen ... auch nicht im Sinne dieses Beschlusses konkret entnehmen, dass er ganz oder überwiegend auf Hilfe zum Leben durch seine Brüder angewiesen wäre".
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:
Der Verwaltungsgerichtshof hat im Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 23. Jänner 2003, Zl. 2000/01/0498, in Anlehnung an die im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 8. März 2001, G 117/00 u.a., vertretene Ansicht ausgeführt, er halte an seinen Rechtssätzen, wonach § 5 AsylG keiner verfassungskonformen Auslegung im Sinn einer Bedachtnahme auf Art. 3 und 8 EMRK zugänglich sei und dem Asylbewerber (Antragsteller) kein subjektiv-öffentliches Recht auf Eintritt eines nach dem Wortlaut des DÜ unzuständigen Mitgliedstaates (Österreich) in die Prüfung des Asylantrages zustehe, nicht fest, sondern schließe sich der (dort näher wiedergegebenen) Ansicht des Verfassungsgerichtshofes an.
Ausgangspunkt für die Überlegung, ob die Asylbehörde bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen eine Zurückweisung nach § 5 AsylG vornehmen darf oder eine Entscheidung in der Sache vorzunehmen hat, ist - wie der Verwaltungsgerichtshof im zitierten Erkenntnis des verstärkten Senates ausgeführt hat - vor dem Hintergrund des Art. 8 EMRK die Frage, ob mit einer Zurückweisung nach § 5 Abs. 1 AsylG (in der Fassung vor der AsylG-Novelle 2003) ein Eingriff in das Privat- und Familienleben eines Asylwerbers verbunden wäre.
Im vorliegenden Fall hat die belangte Behörde in Bezug auf die "Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage" zunächst zur Gänze auf den erstinstanzlichen Bescheid vom 19. Juli 2001 verwiesen, der jedoch keine Feststellungen über das Verhältnis des Beschwerdeführers zu seinen in Österreich lebenden Brüdern, sondern nur eine "Leerformel", wonach eine (nicht näher dargestellte) "eingehende Prüfung" im Sinne des erwähnten Beschlusses Nr. 1/2000 durchgeführt worden sei, enthält. Die belangte Behörde hat im Rahmen der von ihr darüber hinaus vorgenommenen rechtlichen Beurteilung ausgeführt, der Beschwerdeführer habe nicht konkret dargetan, dass er mit seinen im Bundesgebiet aufhältigen Angehörigen Beziehungen mit einer entsprechenden Intensität gepflogen habe, weshalb familiäre Beziehungen von ausreichender Nähe im Sinne des Art. 8 EMRK mit seinen in Österreich lebenden Familienangehörigen jedenfalls zu verneinen seien. Er habe "sohin auch keineswegs im Sinne des ... Beschlusses Nr. 1/2000" des Ausschusses nach Art. 18 DÜ über den Übergang der Zuständigkeit für Familienangehörige konkret dargetan, "dass er mit seinen Brüdern als Familie zusammengelebt hat, bevor sie ihr Herkunftsland verlassen haben", und es lasse sich dem Vorbringen auch nicht im Sinne dieses Beschlusses konkret entnehmen, dass er ganz oder überwiegend auf Hilfe zum Leben durch seine Brüder angewiesen wäre.
Diesen Ausführungen ist zu entnehmen, dass die belangte Behörde nicht vom Bestehen eines den Schutz des Art. 8 EMRK genießenden Familienlebens des Beschwerdeführers ausgegangen ist. Weder die Behörde erster Instanz noch die belangte Behörde haben jedoch Feststellungen getroffen, auf deren Grundlage beurteilt werden könnte, inwieweit mit einer Zurückweisung des Asylantrages und der damit verbundenen Ausweisung des Beschwerdeführers ein Eingriff in dessen in Österreich - allenfalls - bestehendes Familienleben einträte. Ein solcher Eingriff konnte allein auf der Grundlage des Vorbringens des Beschwerdeführers in seiner Berufung nicht von vornherein verneint werden. Wollte die belangte Behörde ihrer rechtlichen Beurteilung aber auch eigene Feststellungen in Bezug auf das Fehlen eines solchen Familienlebens zugrunde legen, so hätte sie eine mündliche Berufungsverhandlung durchführen müssen (vgl. zur Verhandlungspflicht im Berufungsverfahren - auch im Verfahren über eine auf § 5 AsylG 1997 gestützte Zurückweisung eines Asylantrages - die ständige Rechtsprechung des VwGH, etwa die Erkenntnisse vom 12. Dezember 2002, Zl. 2000/20/0080, vom 12. März 2002, Zl. 99/01/0439, und vom 24. Juni 2004, Zl. 2001/20/0472).
Nach dem Gesagten bedarf der Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt einer Ergänzung, sodass der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.
Ein Aufwandersatz war gemäß § 59 VwGG nicht zuzusprechen, weil der Beschwerdeführer keinen Antrag auf dessen Zuerkennung gestellt hat.
Wien, am 4. November 2004
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2004:2001200583.X00Im RIS seit
03.02.2005