Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Stix als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel, Dr. Kropfitsch, Dr. Zehetner und Dr. Egermann als Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1.) V*****, 2.) Maria F*****, beide vertreten durch Dr. Otto Ackerl, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagten Parteien 1.) Ve*****, 2.) Franz F*****, beide vertreten durch Dr. Gerald Weidacher, Rechtsanwalt in Gleisdorf, wegen 1.707.535,54 S sA, infolge Revision und außerordentlichen Revision der beklagten Parteien gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 23. Jänner 1984, GZ 3 R 278/83-41, womit infolge Berufung beider Parteien das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 15. Juli 1983, GZ 6 Cg 272/81-34, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision hinsichtlich der Zweitklägerin wird nicht Folge gegeben.
Die Beklagten sind zur ungeteilten Hand schuldig, der Zweitklägerin die mit 5.442,81 S bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin die Barauslagen von 1.200 S, die USt von 385,71 S) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Die außerordentliche Revision hinsichtlich des Erstklägers wird zurückgewiesen.
Der Antrag des Erstklägers auf Zuspruch von Kosten des Revisionsverfahrens wird abgewiesen.
Text
Entscheidungsgründe:
Am 5. 1. 1981 wurde Hermann F*****, der Ehegatte der Zweitklägerin, als Lenker und Halter des PKWs Audi 80, pol. KZ ***** bei einem Verkehrsunfall tödlich verletzt. Lenker des PKWs mit dem pol. KZ ***** war der Zweitbeklagte, der Haftpflichtversicherer war der Erstbeklagte. Die Zweitklägerin trat ihre Ersatzansprüche gegen die Beklagten mit Ausnahme der künftigen Rentenforderungen und des Feststellungsanspruchs an den Erstkläger ab. Der Zweitbeklagte wurde bei dem Unfall ebenfalls verletzt, an dem von ihm gelenkten PKW entstanden Sachschäden.
Der Erstkläger begehrte als Zessionar von den Beklagten aus dem Titel des Schadenersatzes die Sachschäden, entgangene Unterhaltsleistungen seit dem Tod des Alleinverdieners, den Entgang von Arbeitsleistungen für die Fertigstellung und die Reparaturarbeiten an einem Eigenheim im Gesamtbetrag von 336.929,86 S samt gesetzlichen Zinsen ab 9. 4. 1982; die Zweitklägerin begehrte aus dem Titel des Unterhaltsentgangs bis 12. 3. 2013 eine monatliche Rente von 5.665,02 S. Sie erhob weiters ein mit 35.000 S bewertetes Feststellungsbegehren. Beide Kläger behaupteten, dass den Zweitbeklagten das alleinige Verschulden treffe, weil er den Unfall durch Vorrangverletzung und durch eine infolge Alkoholgenusses beeinträchtigte Fahrtüchtigkeit verschuldet habe.
Die Beklagten beantragten die Abweisung des Klagebegehrens. Sie wandten ein Eigenverschulden des Ehegatten der Zweitklägerin Hermann F***** von einem Drittel ein, weil der Verunglückte mit einer überhöhten Geschwindigkeit von 120 bis 130 km/h gefahren sei. Außerdem hätte er bei Berücksichtigung seiner Geschwindigkeit nicht das Abblendlicht verwenden dürfen (AS 13). Hermann F***** habe auf das Einbiegen des vom Zweitbeklagten gelenkten PKWs auch um 1,5 sec verspätet und durch Linkseinbiegen überdies falsch reagiert.
Das Erstgericht sprach dem Erstkläger 252.207,63 S sA zu und wies ein Zahlungsbegehren von 84.723,11 S sA ab. Der Zweitklägerin wurde eine monatliche Rente von 2.881,77 S ab 1. 7. 1983 zugesprochen, das Rentenmehrbegehren von 2.683,25 S wurde abgewiesen. Das Feststellungsbegehren wurde zu 4/5 als zu Recht, zu 1/5 als nicht zu Recht bestehend erkannt. Das Erstgericht ging von einer Verschuldensteilung von 1 : 4 zu Lasten der Beklagten aus.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten nicht, jener der Kläger Folge und änderte die erstgerichtliche Entscheidung dahin ab, dass es dem Erstkläger 321.939,41 S sA zusprach, der Zweitklägerin ab 1. 7. 1983 eine Rente von 4.994,66 S zuerkannte und ihrem Feststellungsbegehren zur Gänze stattgab. Weitere Mehrbegehren wurden abgewiesen. Hinsichtlich der Zweitklägerin sprach das Berufungsgericht aus, dass der Wert des Streitgegenstands 300.000 S übersteigt. Das Gericht zweiter Instanz ging davon aus, dass das Verschulden des Ehegatten der Zweitklägerin im Vergleich zu dem grob verkehrswidrigen Verhalten des Zweitbeklagten bei der Schadensteilung zu vernachlässigen sei.
Gegen die Entscheidung des Gerichts zweiter Instanz erheben die Beklagten hinsichtlich der Zweitklägerin Revision und hinsichtlich des Erstklägers außerordentliche Revision. Die Revision wird auf die Anfechtungsgründe des § 503 Abs 1 Z 2, 3 und 4 ZPO gestützt, die außerordentliche Revision auch in die Richtung ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen ausgeführt. Im Übrigen wird die Abänderung der angefochtenen Entscheidung dahin beantragt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Klägerinnen beantragen in der Revisionsbeantwortung, der (außerordentlichen) Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist nicht berechtigt.
Die außerordentliche Revision ist zurückzuweisen.
Die Vorinstanzen gingen - die noch strittige Frage der Vernachlässigung des Verschuldens des Ehegatten der Zweitklägerin betreffend - von nachstehendem Sachverhalt aus:
Der Zweitbeklagte stattete am 5. 1. 1981 um ca 18:45 Uhr in seiner Eigenschaft als Autoverkäufer einer Familie, die in der Nähe der Einmündung der Gemeindestraße in die Bundesstraße 65 wohnhaft war, einen Kundenbesuch ab. Dort hielt sich der Zweitbeklagte bis kurz vor 19:20 Uhr auf. Im Verlauf dieses Besuches und aus Anlass eines Autokaufabschlusses konsumierte er ein paar Gläschen Wein. Der Zweitbeklagte war somit bei der folgenden Inbetriebnahme des PKWs alkoholisiert; die Alkoholisierung kann mit knapp unter 0,8 Promille im Unfallszeitpunkt angenommen werden. Nach diesem Kundenbesuch nahm er das Fahrzeug in der Absicht in Betrieb, unter Benützung des Zufahrtswegs vom Haus dieser Familien und des Gemeindewegs in die Bundesstraße in Richtung Osten einzubiegen. Er schaltete das Abblendlicht ein und befuhr zunächst den zur Bundesstraße parallel verlaufenden Weg aus Richtung Osten in Richtung Westen. Somit hielt er in dieser Phase die gleiche Fahrtrichtung wie das Fahrzeug des Ehegatten der Zweitklägerin auf der Bundesstraße ein. Der Zweitbeklagte schaltete den Linksblinker ein und bog unter Verwendung des rechtwinkelig in die Bundesstraße einmündenden Gemeindewegs nach links in einem Bogen, ohne anzuhalten, in die Bundesstraße ein. Die Geschwindigkeit seines Fahrzeugs betrug 26 km/h. Im Verlaufe der letzten 9 m vor dem Zusammenstoß beschleunigte er das Fahrzeug in der Weise, dass es beim Anprall eine Geschwindigkeit von 28,6 km/h hatte. Bezogen auf die Front des PKWs legte dieser ab dem Befahren des nördlichen Randes der Bundesstraße bis zum Erreichen des Unfallszeitpunkts eine bogenförmige Strecke von ca 6 m zurück.
Der Ehegatte der Zweitklägerin kam mit eingeschaltetem Fernlicht auf der Bundesstraße aus Richtung Osten unter Einhaltung einer Geschwindigkeit von 114 km/h heran. Hermann F***** bemerkte 48,2 m vor dem späteren Unfallspunkt das Fahrzeug der Zweitbeklagten. Er schloss aus dessen Fahrweise (eingeschalteter Linksblinker; Fahrgeschwindigkeit), dass der Zweitbeklagte in die Bundesstraße einbiegen werde. Hermann F***** leitete sogleich ein Bremsmanöver ein. Trotz der Bremsung kam es zum Zusammenstoß in der Weise, dass die linke vordere Ecke des vom Ehegatten der Zweitklägerin gelenkten Fahrzeugs in den linken Teil der linken Flanke des PKWs der Zweitbeklagten stieß. Die Anprallgeschwindigkeit betrug 89,8 km/h. Das Fahrzeug der Zweitbeklagten verstellte im Zeitpunkt des Zusammenstoßes aufgrund seiner Länge von 4,5 m die Fahrbahn der Bundesstraße so, dass der Ehegatte der Zweitklägerin weder südlich der Front noch nördlich des Hecks eine ausreichende Durchfahrtslücke hatte.
Eine Reaktionsverspätung Hermann F*****s lag nicht vor, zumal er nur eine Reaktionszeit von 0,7 sec in Anspruch nahm. Das Fernlicht seines PKWs leuchtete die geradeaus verlaufende Fahrbahn der Bundesstraße auf mindestens 100 m aus. Unter Zugrundelegung des möglichen Bremsverzögerungswerts von 0,7 sec ergibt sich für die Ankommgeschwindigkeit von 114 km/h ein Gesamtanhalteweg von fiktiv 93 m, wobei auf den Bremsweg 71 m und auf den Reaktionsweg bei 0,7 sec 22 m entfielen. 1,6 sec vor dem Zusammenstoß, als sich das Fahrzeug des Ehegatten der Zweitklägerin 48,2 m vor der Anprallposition befand, fuhr der Zweitbeklagte im Zuge des Einbiegens mit seiner Front noch ca 3 m nördlich des nördlichen Fahrbahnrandes der Bundesstraße. Vor dem Erreichen dieser Position war für Hermann F***** nicht erkennbar, dass der Zweitbeklagte in die Bundesstraße ungeachtet seines Herankommens einfahren werde.
Während das Erstgericht dem Ehegatten der Zweitklägerin ein Mitverschulden von 1/5 anlastete, gelangte das Berufungsgericht zur Auffassung, dass nach der Judikatur geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitungen im Vergleich zu Verletzungen gegen den Vorrang bei der Schadensteilung zu vernachlässigen seien. Der Verstoß des Zweitbeklagten gegen die Vorrangbestimmung sei im vorliegenden Fall so gravierend gewesen, dass unter Berücksichtigung seiner zusätzlich vorhanden gewesenen Alkoholisierung die geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitung des Ehegatten der Zweitklägerin im Vergleich dazu gänzlich in den Hintergrund trat.
Die Revision macht zunächst eine Mangelhaftigkeit des berufungsgerichtlichen Verfahrens geltend und behauptet, dass dem Gericht zweiter Instanz eine Aktenwidrigkeit unterlaufen sei. Die herangezogenen Revisionsgründe gemäß § 503 Abs 1 Z 2 und 3 ZPO liegen jedoch nicht vor, was nicht näher zu begründen ist (§ 510 Abs 3 ZPO).
Die Rechtsrüge baut darauf auf, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung des Ehegatten der Zweitklägerin zu hoch gewesen sei, um bei der Schadensteilung vernachlässigt werden zu können. Dazu war zu erwägen:
Im Verhältnis der an dem Unfall beteiligten Kraftfahrzeuglenker kommt es bei eindeutigem Verschulden nicht auf die Erbringung des Entlastungsbeweises nach § 9 EKHG, sondern darauf an, ob nach den Umständen des Falls Grund besteht, den anderen zum Ausgleich heranzuziehen (8 Ob 153/72, ZVR 1965/196, ZVR 1976/24, 148, 176, 8 Ob 60/77, ZVR 1980/211 ua). Der im Verhältnis der Beteiligten maßgebende § 11 EKHG stellt als Regel eine Rangordnung der für die Beurteilung der gegenseitigen Ersatzpflicht maßgebenden Umstände auf: In erster Linie kommt es auf das Verschulden an; erst dann folgt in nächster Rangstufe die außergewöhnliche Betriebsgefahr und schließlich die überwiegende gewöhnliche Betriebsgefahr (8 Ob 233/75, 8 Ob 2/76, 8 Ob 11/76, 8 Ob 36/76, ZVR 1974/73, 2 Ob 224/227, 1975/73, 8 Ob 238/76, 2 Ob 6/77, 8 Ob 181/78, 8 Ob 240/78 ua). Die Umstände des vorliegenden Falls bieten angesichts des schwerwiegenden Verstoßes des Zweitbeklagten gegen die Vorrangbestimmung des § 19 Abs 7 StVO keinen Anlass, von der dargestellten Regel ausnahmsweise zugunsten des wartepflichtigen Lenkers abzugehen. Der genannte Verstoß des Zweitbeklagten gegen die Vorrangbestimmung wiegt im Vorliegenden besonders schwer. Im Grenzbereich einer Alkoholisierung um 0,8 Promille das Fahrzeug lenkend näherte er sich ohne die geringste Berücksichtigung des von weitem sichtbaren PKWs des Ehegatten der Zweitklägerin der Kreuzung und fuhr von der Einmündung des benachrangten Gemeindewegs so in die Bundesstraße ein, dass er dessen Weiterfahrt gänzlich blockierte. Für den Ehegatten der Zweitklägerin blieb weder rechts noch links vom PKW des Zweitbeklagten eine ausreichende Durchfahrtslücke frei. Zutreffend erachtete das Berufungsgericht den Verstoß des Zweitbeklagten gegen die Vorrangregel unter Berücksichtigung der Umstände dieses Falls für derart gravierend, dass im Vergleich dazu die hier nicht ins Gewicht fallende Geschwindigkeitsüberschreitung des Ehegatten der Zweitklägerin bei der Schadensteilung gänzlich in den Hintergrund zu treten hat. Im Gegensatz zu den Ausführungen der Revision konnte sich das Berufungsgericht mit Recht auf die Judikatur des Obersten Gerichtshofs (vgl ZVR 1981/237; 2 Ob 75/81 ua) berufen.
Der Revision war daher der Erfolg zu versagen. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO.
Da die Rechtsansicht des Berufungsgerichts in der Judikatur des Obersten Gerichtshofs begründet ist, war die außerordentliche Revision gemäß § 508a Abs 2 ZPO mangels der Voraussetzungen des § 502 Abs 4 Z 1 ZPO zurückzuweisen (§ 510 Abs 3 ZPO).
Der Kostenausspruch in diesem Belang beruht auf § 508a Abs 2 Satz 3 ZPO.
Textnummer
E94077European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1985:0080OB00082.84.0321.000Im RIS seit
01.07.2010Zuletzt aktualisiert am
01.07.2010