Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Resch als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag.Engelmaier und Dr.Angst als weitere Richter und die fachkundigen Laienrichter Dr.Robert Prohaska (Arbeitgeber) und Walter Benesch (Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Karl K***, Pensionist, 3920 Groß Gerungs, Böhmsdorf 26, vertreten durch Dr.Kurt Schlosser, Rechtsanwalt in Waidhofen an der Thaya, wider die beklagte Partei P*** DER
A*** (Landesstelle Wien), 1092 Wien, Roßauer Lände 3, vertreten durch Dr.Anton Rocicky, Rechtsanwalt in Wien, wegen Hilflosenzuschusses infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 15.September 1989, GZ 34 Rs 110/89-37, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Kreisgerichtes Krems an der Donau als Arbeits- und Sozialgerichtes vom 15.Februar 1989, GZ 15 Cgs 31/88-33, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie zu lauten haben:
"Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, dem Kläger ab 6.10.1987 (zur Invaliditätspension) einen Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren, wird abgewiesen."
Der Kläger hat seine Verfahrenskosten selbst zu tragen.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 17.November 1987 lehnte die beklagte Partei den Antrag des Klägers vom 6.Oktober 1987 auf Hilflosenzuschuß (zur Invaliditätspension) ab, weil er nicht hilflos iS des § 105a ASVG sei.
Das Erstgericht gab der dagegen rechtzeitig erhobenen Klage im zweiten Rechtsgang statt und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 6.Oktober 1987 den Hilflosenzuschuß im gesetzlichen Ausmaß zu gewähren.
Es ging dabei von folgenden wesentlichen Feststellungen aus:
Der am 3.Juni 1948 geborene Kläger bezieht seit 9.Dezember 1984 eine Invaliditätspension samt Ausgleichszulage von monatlich brutto 4.868 S (1987), 5.004 S (1988) und 5.134 S (1989). Er bewohnt mit seinen Eltern ein Anwesen am südlichen Ortseingang von Böhmsdorf, etwa 4 km von Groß Gerungs. Das alte und desolate Haus besteht aus einem kleinen Vorraum und zwei kaum zwei Meter hohen Wohnräumen. Der ebenerdige Wohn-Schlafraum des Klägers, in dem sich ua ein Kühlschrank und ein E-Kochherd befinden, wird mit einem Holz-Kohleofen beheizt. Kaltes Fließwasser ist vorhanden. Das Brennmaterial wird in einem Holzschuppen gelagert, in dem sich auch das Klosett ("Plumpsklo") befindet. Haus und Schuppen sind durch einen etwa 8 x 2,5 m kleinen, engen Hof getrennt, dessen unebener Boden nicht befestigt ist. Wegen der Enge des Hofes kann der geräumte Schnee auch bei geringer Schneelage nicht im Hof aufgehäuft, sondern muß vor das Haus geräumt werden. In diesem Teil des Waldviertels ergibt sich von Anfang Dezember bis Ende März die Notwendigkeit der Schneeräumung. Die Heizperiode dauert von September bis April.
Der 190 cm große Kläger, dessen Körperbau athletisch und dessen Knochengerüst und Muskulatur kräftig sind und dessen körperlicher und geistiger Zustand vom Erstgericht genau beschrieben wurde, ist vor allem durch die Amputation des linken Oberschenkels (seit 1969) und sein Körpergewicht von 140 kg behindert. Wegen massiver Fettschichten im Bereich des an sich prothesenfähigen Beinstumpfes kann er keine Prothese anlegen, ist aber mit zwei Unterarmstützkrücken, die er flink und behend handhabt, gut mobil. Er kann auch ohne Hilfe in seinen Pkw einsteigen und aus ihm aussteigen. Eine Periarthritis humero-scapularis rechts (schmerzhafte Schultersteife) führt zu einer geringen Vor- und Seithebeeinschränkung, ohne den sicheren Gebrauch der rechten Stützkrücke zu beeinträchtigen.
Der Kläger kann sich allein an- und auskleiden, seinen Körper reinigen und pflegen, sein Essen zubereiten und einnehmen, die Notdurft verrichten und die im Haus befindliche Feuerstelle betreuen. Er kann die Gegenstände des täglichen Bedarfes einholen. Dabei kann er in einer Umhängtasche oder in einem Rucksack Lasten bis 15 kg tragen.
Wegen der Einbeinigkeit benötigt er zur Wohnungsreinigung, zur Schneeräumung, nicht aber zum Bestreuen im Hof, und zum Transport des Brennmaterials vom Lagerplatz in den Wohnraum Hilfe. Nach § 273 ZPO nahm das Erstgericht den für die Wohnungsreinigung erforderlichen Zeitaufwand mit rund 3 Stunden pro Woche, den Zeitaufwand für alle während der Heizperiode notwendigen Hilfstätigkeiten mit 1,5 Stunden pro Tag, die Kosten einer Helferstunde mit 50 S an, woraus es einen monatlichen Durchschnittsmehraufwand von 1.700 S errechnete. Deshalb gebühre dem Kläger der Hilflosenzuschuß.
Das Berufungsgericht gab der wegen Aktenwidrigkeit und unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobenen Berufung der beklagten Partei nicht Folge. Es meinte, bei Berücksichtigung der Abgeschiedenheit, des desolaten Zustandes und der mangelnden sanitären Ausstattung des Wohnhauses des Klägers, der schlechten winterlichen Witterungsbedingungen, der schwierigen Schneeräumung und der mühseligen Herbeischaffung des Brennmaterials sei auszuschließen, daß eine Hilfskraft um das vom Erstgericht angenommene monatliche Entgelt von 1.700 S für den Kläger arbeiten würde. Er werde daher bei Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse für die notwendigen Dienstleistungen im Monatsdurchschnitt mindestens die Höhe des begehrten Hilflosenzuschusses erreichende Kosten aufwenden müssen. Daran würde sich nichts wesentliches ändern, wenn der Kläger nach einer möglichen und zumutbaren Gewichtsreduktion seine Beinprothese tragen könnte, weil dann nur die Unmöglichkeit der Wohnungsreinigung wegfiele.
Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung der Sache mit den Anträgen, die Urteile der Vorinstanzen im klageabweisenden Sinne abzuändern oder sie allenfalls aufzuheben.
Der Kläger beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die nach § 46 Abs 4 ASGG ohne die Beschränkungen des Abs 2 dieser Gesetzesstelle zulässige Revision ist berechtigt. Nach der stRsp des erkennenden Senates (SSV-NF 1/46; 2/44, 94, 132 uva) kann ein Bedürfnis nach ständiger Wartung und Hilfe nur dann angenommen werden, wenn die für die notwendigen Dienstleistungen nach dem Lebenskreis des Rentners oder Pensionisten üblicherweise aufzuwendenden und daher nicht bis ins einzelne, sondern nur überschlagsmäßig (vgl § 273 ZPO) festzustellenden Kosten im Monatsdurchschnitt mindestens so hoch sind wie der begehrte Hilflosenzuschuß. Bei der Frage, ob es sich um notwendige Dienstleistungen handelt, müssen die dem Hilfsbedürftigen tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel berücksichtigt werden, bei der Schätzung des notwendigen Dienstleistungsaufwandes aber auch mindestens der unter nicht hilfsbedürftigen Beziehern vergleichbarer Einkommen übliche Standard zugrunde gelegt werden. Nur so können lebensfremde Ergebnisse vermieden werden, etwa die Zuerkennung eines Hilflosenzuschusses an einen in einer mit einer Öl- oder Gaszentralheizung beheizten Wohnung lebenden Pensionisten mit der Begründung, er könne keinen Kohleofen mehr bedienen. Anderseits verhindert die Berücksichtigung des Lebenskreises, daß Hilflosigkeit durch Nichtausnützen zur Verfügung stehender oder im Lebenskreis üblicher Hilfsmittel künstlich geschaffen wird. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat der erkennende Senat Hilflosigkeit in dem den Anspruch auf Hilflosenzuschuß begründenden besonderen Maß an Hilflosigkeit, das im § 105a Abs 1 S 1 ASVG durch die Wortfolge "derart hilflos sind, daß sie ständig der Wartung und Hilfe bedürfen" ausgedrückt wird (SSV-NF 1/46 uva), zB dann verneint, wenn ein Pensionist nur zur nicht täglich erforderlichen Besorgung der Nahrungsmittel, zur ebenfalls nicht täglich erforderlichen Bereitstellung des Brennmaterials und die nur in größeren Abständen anfallenden schweren Hausarbeiten (SSV-NF 1/46; 2/44, 132), oder nur zum Einkaufen der Lebensmittel, zum Herbeischaffen des Brennmaterials aus der Vorratskammer, zum Waschen der Großwäsche und Baden oder Duschen (SSV-NF 2/12), oder nur zum Ausräumen des Ofens und zum Feuermachen, für die nicht täglich erforderliche Bereitstellung des kleinen Brennstoffvorrates und für die gründliche Reinigung von Wäsche und Wohnung (SSV-NF 2/21) Hilfe braucht.
Die Situation des Klägers unterscheidet sich von der Lage der Kläger der mit den angeführten veröffentlichten Entscheidungen des erkennenden Senates erledigten Verfahren vor allem dadurch, daß der Kläger einerseits die Nahrungsmittel selbst besorgen kann, anderseits aber auch zur Schneeräumung und während der in diesem Teil des Waldviertels besonders langen Heizperiode länger Hilfe beim Bereitstellen des Brennmaterials braucht.
Der durch die Behinderungen des Klägers notwendige Dienstleistungsaufwand wurde jedoch vom Berufungsgericht in Anwendung des § 273 ZPO weit überschätzt, worin eine unrichtige rechtliche Beurteilung der Sache zu erblicken ist (Fasching, ZPR Rz 871).
Die erstgerichtliche Feststellung, daß sich im Raum Groß Gerungs die Notwendigkeit der Schneeräumung von Anfang Dezember bis Ende März ergibt, ist dahin zu verstehen, daß sich während dieser Monate die Notwendigkeit der Schneeräumung ergeben wird. Damit ist aber noch nichts über die Häufigkeit dieser Maßnahme ausgesagt. Der kleine Hof zwischen dem Wohnhaus und dem Schuppen des Klägers wird nur dann vom Schnee gereinigt werden müssen, wenn diese wegen Neuschnees oder allenfalls wegen Anwehungen oder Abrutschens größerer Schneemengen von den Dächern erforderlich wird. Daß solche Bedingungen auch in schneereichen Wintern an vielen Tagen nicht gegeben sind, ist ebenso offenkundig wie die Tatsache, daß die Räumung des nur 20 m2 großen Hofes von Schnee einschließlich der Ablagerung vor dem Haus jeweils nur einen geringen Zeitaufwand erfordert.
Selbst wenn in der Nähe des Ofens aus Platzmangel nur das für einen Tag erforderliche Brennmaterial gelagert werden könnte und der Kläger den Transport nicht in einer Umhängtasche bewerkstelligen könnte - warum ihm dies nicht zumutbar ist, obwohl er in der Lage ist, auf diese Weise Lasten bis 15 kg zu tragen, ist nicht nachvollziehbar wäre für den während der Heizperiode dann einmal täglich notwendigen Transport des kleinen Tagesvorrates von dem neben dem Haus liegenden Schuppen zum Ofen nur ein geringer Zeitaufwand erforderlich.
Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen erscheint der vom Erstgericht für alle während der Heizperiode notwendigen Hilfeleistungen geschätzte tägliche Zeitaufwand von 1,5 Stunden etwas überhöht, zumal während der üblicherweise schneefreien Monate September, Oktober, November und April sowie in den Monaten Dezember bis März an Tagen ohne Schneeräumung nur wenige Wohnungsreinigungsarbeiten vorzunehmen sind und das für einen Tag benötigte Brennmaterial vom Schuppen zum Ofen gebracht werden muß. In diesen acht Monaten wird daher nur ein durchschnittlicher täglicher Zeitaufwand von einer Stunde angenommen werden können. Der vom Erstgericht für die während der vier Monate außerhalb der Heizperiode, in denen der Kläger nur Hilfe bei der Wohnungsreinigung braucht, diesbezüglich angenommene wöchentliche Zeitaufwand von 3 Stunden erscheint durchaus realistisch.
Daraus folgt, daß für die vom Kläger benötigten Hilfeleistungen ein durchschnittlicher Zeitaufwand von etwa 300 Stunden jährlich, 25 Stunden monatlich oder 6 Stunden wöchentlich erforderlich ist. Selbst wenn man für jede Arbeitsstunde ein wesentlich höheres Entgelt veranschlagen würde als das Erstgericht, läge der durch die notwendigen Hilfeleistungen verursachte Mehraufwand noch erheblich unter dem begehrten Hilflosenzuschuß. Nach der dargelegten stRsp des erkennenden Senates ist der Kläger schon deshalb nicht hilflos iS des § 105a ASVG.
In Stattgebung der Revision waren daher die Urteile der Vorinstanzen im klageabweisenden Sinne abzuändern.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG.
Anmerkung
E19635European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1989:010OBS00420.89.1219.000Dokumentnummer
JJT_19891219_OGH0002_010OBS00420_8900000_000