TE Vwgh Erkenntnis 2006/1/26 2005/20/0304

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Veröffentlicht am 26.01.2006
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
10/07 Verwaltungsgerichtshof;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §23;
AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;
AVG §67d idF 2001/I/137;
B-VG Art130 Abs2;
EGVG 1991 Anlage Art2 Abs2 Z43a;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Giendl sowie die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Berger und die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Trefil, über die Beschwerde der P in W, geboren 1980, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 16. Juni 2004, Zl. 238.554/0-V/13/03, betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine aus Warri im Delta State stammende Staatsangehörige von Nigeria, reiste am 27. Mai 2003 in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag Asyl. Bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 5. Juni 2003 gab sie als Fluchtgrund an, sie gehöre der Volksgruppe "Urohobo" an und sei römisch-katholisch. Nach dem Tod ihrer Eltern sei sie von einer benachbarten Familie unterstützt worden, bei der sie auch gewohnt und als Haushälterin gearbeitet habe. Diese Familie habe der Volksgruppe der "Ishakiris" angehört. Zwischen den "Urohobo" und den "Ishakiris" gebe es Kämpfe und es sei die erwähnte Familie am 1. Mai 2003 von "Urohobo" umgebracht worden. Die Beschwerdeführerin sei damals zu Hause gewesen und habe die "Urohobo" in ihrer Stammessprache gebeten, ihr nichts zu tun, worauf sie von diesen aus dem Haus gejagt worden und weggelaufen sei. Sie habe keinen Platz, wo sie leben könne. Sie würde keine anderen Orte kennen. Im Falle ihrer Rückkehr befürchte sie, von den "Ishakiris umgebracht (zu werden), weil ich Urohobo bin"; "überall wo Urohobo Ishakiri finden und umgekehrt", komme es zu Kämpfen.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 5. Juni 2003 gemäß § 7 Asylgesetz 1997(AsylG) ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Nigeria zulässig sei. Nach der Begründung dieser Entscheidung wurden die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihrem Fluchtgrund "für wahr erachtet". Das Bundesasylamt traf Feststellungen zur allgemeinen Situation in Nigeria und führte in rechtlicher Hinsicht aus, die Beschwerdeführerin habe angegeben, sie fühle sich in ihrer Heimatstadt Warri durch den "Urohobo-Ishakiris-Konflikt" bedroht. Diese Übergriffe könnten keine Flüchtlingseigenschaft begründen, da Verfolgung im Sinne des AsylG entweder von staatlichen Stellen ausgehen oder der betreffende Staat nicht in der Lage oder nicht gewillt sein müsse, die von anderen Stellen ausgehenden Verfolgungen hintan zu halten. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass die nigerianischen Behörden nicht in der Lage und nicht gewillt gewesen wären, der Beschwerdeführerin Schutz vor Verfolgung zu gewähren. "Wie aus den Feststellungen des Bundesasylamtes hervorgeht", habe die Beschwerdeführerin im Falle einer Verfolgung bzw. Bedrohung durch nichtstaatliche Individuen die reale Möglichkeit, sich durch einen Ortswechsel innerhalb Nigerias in Sicherheit zu bringen bzw. einer solchen Gefahr zu entgehen; es wäre ihr ein unproblematischer Aufenthalt in einer großen Stadt Nigerias, etwa in Lagos, möglich gewesen; es hätte für sie somit eine inländische Fluchtalternative bestanden. Schließlich ergebe sich aus der allgemeinen Lage in Nigeria keine Gefährdung im Sinne des § 57 Abs. 1 FrG.

In der gegen diese Entscheidung erhobenen Berufung brachte die Beschwerdeführerin u.a. vor, sie würde von ihrer eigenen Volksgruppe als Verräterin verfolgt und sicher "durch Folter und Tod" dafür bestraft werden, da sie bei den "Ishakiri" gelebt habe. Sie würde aber auch von den "Ishakiri" verfolgt werden, weil sie "Urohobo" sei; der Familienclan der ermordeten "Ishakiri"-Familie würde glauben, dass sie hinter der Ermordung der Familie gestanden sei bzw. diese sogar arrangiert habe. Eine inländische Fluchtalternative sei ausgeschlossen, da "Urohobo" und "Ishakiri" in ganz Nigeria - und zwar auch in Lagos und anderen großen Städten - lebten. Der Staat Nigeria sei weder gewillt noch fähig, die Beschwerdeführerin zu schützen.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung ohne Durchführung einer Berufungsverhandlung gemäß §§ 7, 8 AsylG ab. Sie erklärte die wörtliche Wiedergabe des Vorbringens der Beschwerdeführerin im erstinstanzlichen Bescheid zum Inhalt des angefochtenen Bescheides und führte dazu aus, die Beschwerdeführerin habe sich im Rahmen ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesasylamt zentral darauf bezogen, dass jene Familie, bei der sie gewohnt bzw. gewöhnlich gelebt habe, im Mai 2003 im Gefolge von Stammesunruhen getötet worden sei. Diese Familie habe zuvor keine direkten individuellen Probleme mit Angehörigen eines rivalisierenden Stammes gehabt, sondern sei aufgrund der allgemeinen bürgerkriegsähnlichen Situation behelligt worden. Die belangte Behörde trete der Entscheidung des Bundesasylamtes "vollinhaltlich" bei und erkläre die "begründenden Passagen" des erstinstanzlichen Bescheides zum Inhalt des angefochtenen Bescheides. Betont sei, dass die Beschwerdeführerin einerseits keinerlei staatliche Verfolgung behauptet und sie sich andererseits auf subjektiv empfundene Furcht vor Verfolgung von Seiten Angehöriger zweier Volksstämme ihrer engeren Heimatregion bezogen habe. Wie im Bescheid des Bundesasylamtes "fundiert dargelegt", stehe ihr jedenfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative dergestalt offen, dass sie sich durch einen Ortswechsel ihrer allenfalls drohenden Verfolgung von Seiten privater Personen endgültig entziehen könne. Dass ihr ein solcher Domizilwechsel unzumutbar wäre, sei im Verfahren nicht hervorgekommen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Die belangte Behörde hat im Wesentlichen die Begründung des erstinstanzlichen Bescheides durch Verweisung auf diesen übernommen und zum Vorliegen einer innerstaatlichen Schutzalternative ausgeführt, im Bescheid des Bundesasylamtes sei "fundiert dargelegt" worden, dass sich die Beschwerdeführerin durch einen Ortswechsel einer drohenden Verfolgung durch private Personen "endgültig entziehen" könne.

Wie die Beschwerde richtig rügt, ist diese Annahme schon deshalb nicht nachvollziehbar, weil das Bundesasylamt ausreichend konkrete Feststellungen zum Konflikt zwischen den Itsekiri und Urhobo - in der Einvernahme vor dem Bundesasylamt und im erstinstanzlichen Bescheid als "Urohobo" und "Ishakiri" bezeichnet -, insbesondere zu dessen regionaler Ausbreitung im nigerianischen Staatsgebiet, unterlassen hat. Die Beschwerdeführerin hat schon bei der erstinstanzlichen Einvernahme vorgebracht, "überall wo Urohobo Ishakiri finden und umgekehrt, kommt es zu Kämpfen", und auch in der Berufung das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative konkret bestritten. Dem erstinstanzlichen Bescheid ist auch sonst nicht zu entnehmen, woraus sich die - nicht näher begründete - Annahme, die Beschwerdeführerin habe "die reale Möglichkeit, sich durch einen Ortswechsel innerhalb des Staates Nigeria in Sicherheit zu bringen", ergeben soll. Die von der belangten Behörde übernommene diesbezügliche Einschätzung der Erstbehörde stützt sich somit nicht auf nachvollziehbare Grundlagen (vgl. in diesem Zusammenhang die Erkenntnisse vom 1. September 2005, Zl. 2005/20/0357, vom 15. Mai 2003, Zl. 2002/01/0560, vom 17. September 2003, Zl. 2001/20/0292, und vom 30. Juni 2005, Zl. 2005/20/0108, mwN).

Auf die Frage der Zumutbarkeit eines Ortswechsels für die Beschwerdeführerin - sie hat in diesem Zusammenhang in der erstinstanzlichen Einvernahme vorgebracht, sie habe keinen Platz, wo sie leben könne, und würde "keine anderen Orte kennen" - ist die belangte Behörde auch nicht konkret eingegangen. Vor dem Hintergrund der vom Bundesasylamt zur allgemeinen Situation in Nigeria getroffenen Feststellungen - ein Umzug in einen anderen Teil Nigerias könne zu wirtschaftlichen und sozialen Problemen führen, wenn sich Einzelpersonen an einen Ort begeben müssen, in dem keine Mitglieder ihrer Familie oder der erweiterten Verwandtschaft oder der Dorfgemeinschaft leben würden; angesichts der anhaltend schlechten Wirtschaftslage und der Bedeutung derartiger Bindungen in der nigerianischen Gesellschaft sei es schwierig, an Orten, in denen keine solchen Bindungen bestünden, Fuß zu fassen; für alleinstehende Frauen bestehe zusätzlich die Schwierigkeit, dass sie oft gerade von der Familie oder Bekannten der Familie unter Druck gesetzt würden, sodass sie nicht auf diese zurückgreifen könnten und so wirtschaftlich ohne Unterstützung bleiben würden - ist die Annahme der Zumutbarkeit eines Ortswechsels in Bezug auf die Beschwerdeführerin zum Einen nicht nachvollziehbar, zum Anderen hätte die belangte Behörde im Hinblick auf das einer innerstaatlichen Schutzalternative u. a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül - im vorliegenden Fall insbesondere unter Berücksichtigung der besonderen Situation einer alleinstehenden Frau - nähere Feststellungen über die im Falle eines solchen Ortswechsels zu erwartende konkrete Lage der Beschwerdeführerin treffen müssen (vgl. dazu das bereits zitierte Erkenntnis vom 1. September 2005, und auch das Erkenntnis vom 11. Juni 2002, Zl. 2000/01/0305).

Aufgrund des Gesagten hätte die belangte Behörde - ungeachtet des Fehlens eines darauf abzielenden Antrages in der Berufung - auch eine mündliche Berufungsverhandlung durchzuführen gehabt, zumal ein Absehen von einer solchen gemäß Art. II Abs. 2 Z 43a EGVG nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur dann zulässig ist, wenn der Sachverhalt nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und schlüssiger Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz festgestellt wurde und in der Berufung kein dem Ergebnis des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt - erstmalig und mangels Neuerungsverbotes zulässigerweise - neu und in konkreter Weise behauptet wird (vgl. dazu - zur Rechtslage nach der Verwaltungsverfahrens-Novelle 2001 und vor der Asylgesetznovelle 2003 - das Erkenntnis vom 12. Juni 2003, Zl. 2002/20/0336).

Der angefochtene Bescheid war somit wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Von der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen werden.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003, BGBl. II Nr. 333.

Wien, am 26. Jänner 2006

Schlagworte

Ermessen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2005200304.X00

Im RIS seit

28.03.2006
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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