TE Vwgh Erkenntnis 2006/9/21 2006/19/0967

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Veröffentlicht am 21.09.2006
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §7;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höß sowie die Hofräte Dr. Nowakowski und Mag. Nedwed, die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Dr. N. Bachler als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. B. Trefil, über die Beschwerde des I, geboren 1963, vertreten durch Dr. Klaus Kocher und Mag. Wilfried Bucher, Rechtsanwälte in 8010 Graz, Sackstraße 36/II, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 4. April 2006, Zl. 222.633/4-VI/17/06, betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein aus Tschetschenien stammender Angehöriger der russischen Volksgruppe und orthodoxen Glaubens, gelangte am 10. Februar 2001 nach Österreich und stellte am 14. Februar 2001 einen Asylantrag.

In seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 15. Februar 2001 gab der Beschwerdeführer an, staatenlos zu sein. Im Jahre 1995 habe er seinen Heimatort Gudermes in Tschetschenien verlassen, weil "die Einwohner von den dort tätigen Banditen bedroht" worden seien. Seit 1996 habe er sich in Moskau aufgehalten. Er habe dort auf dem Bau gearbeitet, sei jedoch bei keiner Firma beschäftigt gewesen. Bis zum Jahre 1999 habe er noch über einen Reisepass verfügt, diesen danach jedoch verloren. Er habe "um keine Staatsbürgerschaft angesucht". In Russland hätte er finanzielle Probleme gehabt. In Moskau sei er nicht gemeldet gewesen und hätte sich daher um keine reguläre Arbeitsstelle bewerben können. Er habe "nur vom Heimatort flüchten" wollen und in Moskau keine Dokumente gehabt.

Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 21. Februar 2001 gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte gemäß § 8 AsylG die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation für zulässig. Diese Entscheidung stützte sich im Wesentlichen darauf, der Beschwerdeführer sei in Moskau keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt gewesen. Die Tatsache allein, dass der Beschwerdeführer über keine Dokumente verfügt und sich daher in Moskau illegal aufgehalten habe, könne nicht als asylrelevanter Sachverhalt gewertet werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hätte der Beschwerdeführer um die Staatsbürgerschaft eines der Nachfolgestaaten wie etwa der Russischen Förderation ansuchen können. Dies wäre seine staatsbürgerliche Pflicht gewesen. Deren Versäumnis könne nicht als asylrelevanter Sachverhalt angesehen werden. Die wirtschaftlichen Probleme des Beschwerdeführers würden schließlich auch andere Menschen in seinem Land betreffen.

In seiner Berufung gegen diese Entscheidung führte der Beschwerdeführer aus, dass er seine Heimat wegen des Krieges verlassen habe und nach Moskau gegangen sei, um dort Arbeit zu finden. Da er keine Dokumente bei sich hatte und sich dort illegal aufhielt, habe er Probleme bekommen. Bei einer Rückkehr nach Russland würde er Gefahr laufen, Opfer unmenschlicher Behandlung zu werden.

Mit dem angefochtenen, ohne weitere Ermittlungen und ohne Berufungsverhandlung erlassenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß §§ 7 und 8 AsylG ab.

In der Begründung dieser Entscheidung verwies die belangte Behörde auf die ihrer Ansicht nach schlüssigen Ausführungen des Bundesasylamtes und erhob diese zum Inhalt ihres Bescheides. Sie ging davon aus, dass der Beschwerdeführer im gesamten Verfahren nicht einmal ansatzweise eine ihn persönlich betreffende, individuelle Bedrohung geltend gemacht habe. So habe er als Angehöriger der russischen Ethnie nie behauptet, in Moskau, wo er sich über fünf Jahre aufgehalten habe, einer Verfolgung ausgesetzt gewesen zu sein. Auch habe er nicht eine individuelle Bedrohung durch die erwähnten "Banditen" in Gudermes vorgebracht. In der Versäumnis der staatsbürgerlichen Pflicht des Beschwerdeführers, nach dem Zerfall der Sowjetunion um die Staatsbürgerschaft eines der Nachfolgestaaten anzusuchen, könne kein asylrelevanter Sachverhalt erblickt werden. Dass es in der Russischen Föderation nach Verlust von Urkunden völlig unmöglich sei, Ersatzurkunden ausgestellt zu bekommen, habe der Beschwerdeführer nicht ausdrücklich behauptet. Dies sei für einen Staat, in dem die Bürokratie funktioniere, auch auszuschließen. Da der Beschwerdeführer Russland nicht aus einem asylrelevanten Grund verlassen habe, könne die Stellung eines Asylantrages im Ausland bei der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Russland keine Relevanz für die dortigen Regierungsstellen haben. Eine mündliche Verhandlung habe unterbleiben können, da der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärt wäre und "sich insbesondere in der Berufung kein zusätzlicher Hinweis auf die Notwendigkeit ergab, den maßgeblichen Sachverhalt mit dem Berufungswerber zu erörtern".

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

In der Beschwerde wird u.a. geltend gemacht, dass wesentliche asylrelevante Umstände, insbesondere die Aufklärung der Frage der vom Beschwerdeführer geschilderten Bedrohung durch "Banditen", völlig übergangen worden seien. Die belangte Behörde habe sich lediglich den Ausführungen der Erstinstanz angeschlossen, wobei das Bundesasylamt in seiner Einvernahme des Beschwerdeführers seiner Ermittlungspflicht nur unzureichend nachgekommen sei. Vielmehr stünde fest, dass dem Beschwerdeführer von "Banditen (tschetschenischen Rebellen)", die de facto in Tschetschenien die Macht ausüben würden, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung drohe. Außerdem sei es für ethnische Russen - wie den Beschwerdeführer - unmöglich, bei den tschetschenischen Behörden Identitätspapiere, insbesondere einen Reisepass oder einen Personalausweis zu erhalten.

Diesem Beschwerdevorbringen kommt im Ergebnis Berechtigung zu.

Der Beschwerdeführer begründete seine Flucht aus Gudermes ("Ich wollte nur vom Heimatort flüchten") nach Moskau primär mit der Bedrohung der Bewohner durch die "dort tätigen Banditen". In der Berufung bezog sich der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit seiner Flucht nach Moskau auf den Krieg in Tschetschenien.

Die belangte Behörde hat dieses Vorbringen dahingehend gedeutet, dass der Beschwerdeführer nicht einmal ansatzweise eine ihn persönlich betreffende, individuelle Bedrohung durch diese "Banditen" vorgebracht hätte. Solche Deutungen und Würdigungen dieses Vorbringens können indessen angesichts der lediglich kursorischen und oberflächlichen Einvernahme des Beschwerdeführers durch das Bundesasylamt nur nach einer mündlichen Verhandlung mit entsprechenden Erörterungen allenfalls in Betracht kommen (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 28. Juni 2005, Zl. 2002/01/0414). Dazu kommt, dass die belangte Behörde Feststellungen über die damalige und - für den Fall einer Rückkehr - nunmehr zu erwartende individuelle Situation des Beschwerdeführers als Angehöriger der russischen Volksgruppe in Tschetschenien unterlassen hat und nicht auf die Berichtslage zu den für die Entscheidung maßgeblichen Verhältnissen in Tschetschenien eingegangen ist.

Infolge der von der belangten Behörde gewählten "Verweistechnik" in Bezug auf den Erstbescheid stützte diese ihre Entscheidung vielmehr maßgeblich auf die Frage, ob dem Beschwerdeführer asylrelevante Verfolgung in Moskau drohe. Damit ist die belangte Behörde im vorliegenden Fall jedoch von einer unzutreffenden Rechtsansicht ausgegangen.

Auf der Grundlage des näher zu hinterfragenden Vorbringens des Beschwerdeführers über die Gründe seiner Flucht aus Tschetschenien (Gudermes) wäre von der belangten Behörde nämlich zu prüfen gewesen, ob es sich beim Aufenthalt des Beschwerdeführers in Moskau um einen Zustand interner Vertreibung gehandelt hat. Kommt es in einem solchen Fall schließlich zur Ausreise aus dem Herkunftsstaat, weil die Lebensbedingungen am Zufluchtsort innerhalb desselben (hier: Moskau) als unerträglich empfunden werden, so sind für die Beurteilung der Flüchtlingseigenschaft - bei weiterhin aufrechter Verfolgungsgefahr im Heimatort (hier: Gudermes) - die Kriterien für die Zumutbarkeit des bisherigen oder eines anderen konkret in Betracht kommenden Zufluchtsortes innerhalb des Herkunftsstaates ausschlaggebend. Dass am Zufluchtsort keine asylrelevante Verfolgungsgefahr droht, reicht für die Verneinung der Flüchtlingseigenschaft nicht aus (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom 28. Juni 2005, Zl. 2002/01/0414, vom 24. November 2005, Zl. 2003/20/0109, und vom 26. Jänner 2006, Zl. 2005/01/0057).

Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Versäumnisse hinsichtlich der Bemühungen um die Staatsbürgerschaft eines der Nachfolgestaaten der Sowjetunion erweisen sich in diesem Zusammenhang als irrelevant.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 21. September 2006

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2006:2006190967.X00

Im RIS seit

12.10.2006
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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