RS Vfgh 1991/3/5 G77/90, G156/90, G184/90, G191/90, G193/90, G215/90, G225/90, G317/90, G318/90, G84

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Veröffentlicht am 05.03.1991
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Index

62 Arbeitsmarktverwaltung
62/01 Arbeitsmarktverwaltung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
AlVG §68

Leitsatz

Aufhebung der Unpfändbarkeit des Arbeitslosengeldes mangels sachlicher Rechtfertigung

Rechtssatz

In §68 AlVG 1977, BGBl. Nr. 609, in der Fassung des Bundesgesetzes vom 25.11.87, BGBl. Nr. 615, werden die Worte "oder gepfändet" als verfassungswidrig aufgehoben.

Eine unterschiedliche Behandlung von Pfändungsobjekten muß in deren Qualität begründet sein, wobei sich die Beurteilung nicht in einer bloßen Gegenüberstellung der charakteristischen Merkmale der Pfändungsobjekte erschöpfen darf, sondern auch auf typische Konstellationen erstrecken muß, die sich etwa auch aus dem Zusammentreffen mit anderen Einkommen ergeben kann. Aus der Vorjudikatur folgt, daß die grundsätzliche Aufgabe einer Versicherungsleistung, Ersatz für fehlendes oder ausfallendes Arbeitseinkommen zu sein, noch nicht unbedingt zur pfändungsrechtlichen Gleichbehandlung dieser Leistung mit den Arbeitseinkommen zwingt.

Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung sind Ersatz für fehlendes oder entfallendes Arbeitseinkommen. Den in der Literatur hervorgehobenen Zweck, "den Lebensunterhalt des Leistungsbeziehers und seiner Angehörigen zu sichern" (Dirschmied, Arbeitslosenversicherungsrecht2 Anm. 1 zu §68 AlVG), teilen die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung mit dem Arbeitseinkommen. Auch der Lohn ist für den Arbeitnehmer und seine Angehörigen regelmäßig das einzige Unterhaltsmittel. Der Zweck der Unterhaltssicherung allein kann eine unterschiedliche Behandlung der Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitseinkommen offenkundig nicht rechtfertigen. Diesem Zweck dienen schon die auf einen angemessenen Ausgleich zwischen Gläubiger- und Schuldnerinteressen bedachten Beschränkungen des LohnpfändungsG; ebenso ist die Herkunft der Leistungen aus dem öffentlichen Recht für die Frage der Pfändbarkeit irrelevant.

Die Arbeitslosenversicherung sichert gegen den Entfall jenes Einkommens ab, mit dem der Versicherte wirtschaften muß. Es widerspricht daher dem Sinn der Einrichtung nicht, wenn die Ersatzleistung den Gläubigern ebenso haftet wie das Arbeitseinkommen. Eine Rechtfertigung für die Differenzierung ergibt sich auch nicht aus der geringeren Höhe der Versicherungsleistung, denn es gibt auch Arbeitseinkommen, die nicht höher sind als durchschnittliche Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Auf die Höhe des Einkommens nimmt das Lohnpfändungsrecht Bedacht. Ebenso keine zureichenden Gründe für die Differenzierung ergeben sich aus der bloßen Überbrückungs- und Hilfsfunktion. Die Funktion vergleichsweise plötzliche Einkommensveränderungen abzufangen ist kein Spezifikum des Arbeitslosengeldes und der Notstandshilfe. Schwankungen in der Einkommenshöhe sind auch bei Wechsel des Arbeitsplatzes möglich und können auch dort von bloß vorübergehender Art sein. Ob sich nach Beendigung einer Beschäftigung eine neue - schlechter bezahlte, aber dennoch zumutbare - Beschäftigung findet oder der Versicherte Arbeitslosengeld beziehen muß, kann nicht entscheidend sein. Dem beschriebenen rechtspolitischen Anliegen müßte für Arbeitseinkommen und Arbeitslosengeld in gleicher Weise Rechnung getragen werden. Auch wenn die in §8 LohnpfändungsG vorgesehene Möglichkeit, dem Verpflichteten ausnahmsweise einen Teil des pfändbaren Teiles mit Rücksicht auf besondere Bedürfnisse aus persönlichen und beruflichen Gründen zu belassen, zur Bewältigung solcher Übergangsschwierigkeiten nicht geeignet sein sollte - was hier nicht zu prüfen ist -, könnten Härten des Lohnpfändungsrechts nicht durch Unpfändbarkeit gerade des Arbeitslosengeldes ausgeglichen werden.

Die Anträge, die die Aufhebung des §68 AlVG begehren, sind nur zulässig, soweit sie die Worte "oder gepfändet" betreffen. Im übrigen sind sie als unzulässig zurückzuweisen.

Alle antragstellenden Gerichte haben aber §68 AlVG nur insoweit anzuwenden, als er sich mit der Pfändung der dort genannten Ansprüche beschäftigt. Auch ihre Bedenken richten sich ausschließlich gegen die Beschränkung der Pfändbarkeit. Es können daher auch nur die Worte "oder gepfändet" präjudiziell sein. Der nach einer Entfernung dieser Worte verbleibende Text regelt die nicht präjudiziellen Fallgruppen dann in sprachlich unvollkommener aber verständlicher Weise. Soweit die Anträge daher über die genannten Worte hinausreichen, sind sie unzulässig (vgl. VfSlg. 9936/1984 S. 105f).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Arbeitslosenversicherung, VfGH / Präjudizialität, Exekutionsrecht, Pfändbarkeit (Arbeitslosengeld)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:G77.1990

Dokumentnummer

JFR_10089695_90G00077_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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