RS Vfgh 1997/6/26 G270/96, G271/96, G272/96, G273/96, G288/96, G299/96, G300/96, G318/97

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 26.06.1997
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Index

L7 Wirtschaftsrecht
L7200 Beschaffung, Vergabe

Norm

B-VG Art89
B-VG Art129
B-VG Art129a
B-VG Art140 Abs1 / Allg
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
Richtlinie des Rates vom 18.06.92. 92/50/EWG, über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentl Dienstleistungsaufträge
Richtlinie des Rates vom 21.12.89. 89/665/EWG, zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentl Liefer- u Bauaufträge
Nö VergabeG §18 ff
EG-Vertrag Art177

Leitsatz

Zulässigkeit der Anträge des UVS Niederösterreich auf Aufhebung von Bestimmungen des Nö VergabeG betreffend die dem UVS eingeräumte Kompetenz zur Durchführung von Nachprüfungsverfahren in Vergabesachen; denkmögliche Annahme der Zuständigkeit des UVS zur Überprüfung der Vergabe von Dienstleistungsaufträgen aufgrund unmittelbarer Anwendbarkeit von EU-Richtlinien; UVS in Vergabesachen angesichts der Zulässigkeit einer Verwaltungsgerichtshofbeschwerde kein vorlagepflichtiges Tribunal; Abweisung der Anträge; Übertragung der Zuständigkeit zur Kontrolle über Akte der Privatwirtschaftsverwaltung an die Unabhängigen Verwaltungssenate ohne Vorschaltung eines erstinstanzlichen behördlichen Verfahrens vom B-VG nicht ausgeschlossen

Rechtssatz

Nach Art129a Abs3 B-VG gilt für unabhängige Verwaltungssenate Art89 B-VG sinngemäß. Kraft der Verweisung ist daher der UVS dann, wenn er gegen eine von ihm anzuwendende Gesetzesvorschrift aus dem Titel ihrer Verfassungswidrigkeit Bedenken hegt, verpflichtet, beim Verfassungsgerichtshof einen Antrag auf Aufhebung der von ihm anzuwendenden Gesetzesbestimmung zu stellen. Nicht aber kann die Verweisung so gedeutet werden, daß der UVS zu einem derartigen Antrag nur dann berechtigt und verpflichtet ist, wenn er in zweiter Instanz tätig wird. Eine solche Auffassung gelangte nämlich in Widerspruch zu der zitierten Aufzählung in Art140 Abs1 erster Satz B-VG, der die unabhängigen Verwaltungssenate schlechthin als antragsberechtigt den zur Entscheidung in zweiter Instanz berufenen Gerichten an die Seite stellt.

Zulässigkeit der Anträge des UVS Niederösterreich auf Aufhebung von Bestimmungen des Nö VergabeG auch hinsichtlich G270-273/96.

Bei diesen Verfahren geht es um die Nachprüfung von Entscheidungen in Vergabeverfahren, für die das Nö VergabeG nicht anzuwenden ist, da sich der sachliche Wirkungsbereich des Gesetzes nicht auf Dienstleistungsaufträge erstreckt. Da diese Vergabeverfahren aber von der Richtlinie des Rates vom 18.06.92, 92/50/EWG, über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge erfaßt sind und der zur Umsetzung dieser Richtlinie zuständige niederösterreichische Landesgesetzgeber die entsprechenden Richtlinienbestimmungen nicht zeitgerecht in innerstaatliches Recht transformiert hat, sind jene Bestimmungen der Richtlinie, die unbedingt und hinreichend genau sind und Rechte einzelner gegenüber den vergebenden öffentlichen Stellen begründen, unmittelbar anwendbar.

Der antragstellende UVS geht davon aus, daß es ihm nach der sog Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG idF der Richtlinie 92/50/EWG als dem sachlich nächsten Kontrollorgan zukommt, die Einhaltung der unmittelbar anwendbaren Regelungen der Richtlinie zu überprüfen.

Für die Zulässigkeit des vom UVS gestellten Antrages ist es nicht von Bedeutung, ob seine Einschätzung der Rechtslage zutrifft, da der Verfassungsgerichtshof die Antragslegitimation nur dann als nicht gegeben ansieht, wenn es denkunmöglich ist, daß der unabhängige Verwaltungssenat die angefochtene Bestimmung anzuwenden hat. (Daß der UVS die Frage der Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen der Rechtsmittelrichtlinie nicht an den EuGH herangetragen hat, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht schon deshalb nicht zu beanstanden, weil der UVS in Vergabesachen angesichts der Zulässigkeit einer Verwaltungsgerichtshofsbeschwerde jedenfalls kein vorlagepflichtiges Tribunal iSd Art177 Abs3 EG-Vertrag und daher zur Vorlage einer Auslegungsfrage an den EuGH zwar berechtigt, nicht aber verpflichtet ist).

Angesichts der spezifischen Funktion der "Nö Schlichtungsstelle für öffentliche Aufträge" und der mangelnden Bescheidqualität ihrer Erledigungen kann das Verfahren vor ihr nicht als erstinstanzliches Verfahren qualifiziert werden, das das Kontrollverfahren vor dem UVS zum Berufungsverfahren macht.

Offensichtlich auf Art129a Abs1 Z3 B-VG gestützt hat der niederösterreichische Landesgesetzgeber dem UVS mit der Einräumung der Kompetenz zur Durchführung von Nachprüfungsverfahren in Vergabesachen eine weitere Kontrollaufgabe eingeräumt, und zwar die Kompetenz zur Kontrolle von Entscheidungen, die die dem Regime des Nö VergabeG unterliegenden vergebenden Stellen getroffen haben, also von Akten, die im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung gesetzt wurden.

Weder der Wortlaut noch die erkennbare Zielsetzung, den UVS als Kontrollorgan der Verwaltung zu berufen, noch das System des Art129a B-VG stehen einer unmittelbaren, dh ohne Vorschaltung eines erstinstanzlichen behördlichen Verfahrens erfolgten Übertragung von Aufgaben der Kontrolle über Entscheidungen, die im Rahmen der Privatwirtschaftsverwaltung getroffen werden, an den UVS entgegen. Auch hindert die programmatische Formulierung des Art129 B-VG eine solche Überlegung nicht, denn diese Bestimmung wird durch die ihr nachfolgenden Bestimmungen der Art129a und Art129b sowie Art130 ff B-VG näher konkretisiert und gewinnt ihren normativen Gehalt erst durch diese Konkretisierung.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Unabhängiger Verwaltungssenat, VfGH / Präjudizialität, EU-Recht Richtlinie, Vergabewesen, Privatwirtschaftsverwaltung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1997:G270.1996

Dokumentnummer

JFR_10029374_96G00270_01
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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