TE Vfgh Erkenntnis 1983/3/11 B381/79

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Veröffentlicht am 11.03.1983
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Index

L1 Gemeinderecht
L1000 Gemeindeordnung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
B-VG Art18 Abs1
B-VG Art119a Abs7
Krnt Allgemeine GemeindeO §85 Abs3
Krnt Allgemeine GemeindeO §88 Abs1

Leitsatz

Allgemeine Gemeindeordnung Ktn.; keine Bedenken gegen §88 im Hinblick auf Art18 B-VG; Unterlassen der gebotenen Interessenabwägung (Art119a Abs7 B-VG, §85 Abs3 AGO) bei Ausübung des Aufsichtsrechtes - Willkür

Spruch

Der Bescheid wird aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer ist Bediensteter der Stadtgemeinde St. Veit/Glan. Mit Bescheid vom 21. Dezember 1977 wurde der Beschwerdeführer auf Grund des Beschlusses des Gemeinderates vom 20. Dezember 1977 mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 1978 zum "Stadtamtsrat" auf einem Dienstposten der Dienstklasse VI ernannt.

Mit Bescheid vom 24. Juli 1979 hat die Ktn. Landesregierung diesen Ernennungsbescheid gemäß §88 der Allgemeinen Gemeindeordnung von Amts wegen aufgehoben. Die Landesregierung hat ihre Entscheidung damit begründet, daß die Ernennung des Beschwerdeführers auf folgenden Rechtswidrigkeiten beruhe:

a) Der Gemeinderat habe entgegen den Bestimmungen der §§12 Abs4 und 16 Abs1 des Gemeindebedienstetengesetzes 1958, wonach eine Beförderung nur nach Vorliegen einer Dienstbeurteilung für das vorangegangene Kalenderjahr durchgeführt werden könne, beschlossen, den Beschwerdeführer ab 1. Jänner 1978 in die Dienstklasse VI zu befördern;

b) Der Gemeinderat habe bei der Beförderung auch die Bestimmungen des §4 der Durchführungsverordnung zum Gemeindebedienstetengesetz 1958 mißachtet, wonach für eine solche Maßnahme bestimmte zeitliche Voraussetzungen zu erfüllen seien, die im vorliegenden Fall nicht in vollem Umfang gegeben gewesen seien.

2. Gegen den Bescheid der Landesregierung richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher sich der Beschwerdeführer wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes sowie wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt erachtet und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den VwGH beantragt.

3. Die Ktn. Landesregierung hat in einer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Der angefochtene Bescheid stützt sich auf §88 Abs1 des Gesetzes vom 14. Dezember 1965, mit dem für die Gemeinden mit Ausnahme der Städte mit eigenem Statut eine Gemeindeordnung erlassen wird (Allgemeine Gemeindeordnung - AGO), LGBl. 1/1966 idF der Nov. LGBl. 24/1976, wiederverlautbart durch Kundmachung der Landesregierung vom 20. Oktober 1981, LGBl. 8/1982, (wodurch die für den vorliegenden Fall maßgeblichen Paragraphen nunmehr andere Nummern aufweisen). Danach können von der Aufsichtsbehörde außer den Fällen der §§84 und 87 rechtskräftige Bescheide sowie Beschlüsse oder sonstige Maßnahmen der Gemeindeorgane, die den Wirkungsbereich der Gemeinde überschreiten oder Gesetze oder Verordnungen verletzen, von Amts wegen oder über Antrag aufgehoben werden.

Der Begründung des angefochtenen Bescheides ist die Auffassung der belangten Behörde zu entnehmen, daß durch den aufgehobenen Ernennungsbescheid die Vorschriften der §§12 Abs4 und 16 der Nov. LGBl. 83/1979, sowie §4 der Durchführungsverordnung vom 9. Dezember 1958, LGBl. 46, verletzt worden seien.

Der die Beförderungen betreffende §12 des Gemeindebedienstetengesetzes 1958 ordnet in seinem Abs4 an, daß die Beförderung unter Bedachtnahme auf die Dienstbeschreibung (nunmehr: Leistungsfeststellung) und die Dienstverwendung zu erfolgen hat.

Der §16 des Gemeindebedienstetengesetzes 1958 war in der Stammfassung des Gesetzes mit "Dienstbeschreibung" überschrieben. In seinem Abs1 war - bis zur Änderung durch die oben erwähnte Nov. - angeordnet, daß die Dienstleistung eines jeden öffentlich-rechtlich Bediensteten während der provisorischen Dienstzeit alljährlich, im übrigen vor jeder Vorrückung in höhere Bezüge und vor jeder Ernennung, mindestens aber jedes dritte Jahr in einer Dienstbeschreibung vom leitenden Gemeindebeamten, die Dienstleistung des leitenden Gemeindebeamten vom Bürgermeister zu beurteilen ist.

Schließlich war im §4 der (am 31. Oktober 1978 außer Kraft getretenen) Durchführungsverordnung LGBl. 46/1958 idF LGBl. 82/1976 unter anderem bestimmt, daß in der Verwendungsgruppe B die Beförderung in die Dienstklasse VI nach 25 Dienstjahren erfolgen konnte. Von dieser zeitlichen Voraussetzung konnte nach Abs3 der bezeichneten Verordnungsstelle ein Abstrich von 4 Jahren, wenn die dem Beförderungstermin vorausgegangene Dienstbeurteilung auf "sehr gut" gelautet hatte, vorgenommen werden.

2. In der Beschwerde wird die Verfassungsmäßigkeit des §88 AGO mit der Begründung angezweifelt, diese Bestimmung beseitige zur Gänze die materielle Rechtskraft ohne jede Beschränkung. Sie überlasse es dem freien Ermessen der Aufsichtsbehörde, ob sie von ihrem Aufsichtsrecht Gebrauch mache oder nicht. Der VfGH habe sich offenbar noch nicht mit der Frage befaßt, ob eine Regelung als dem rechtsstaatlichen Prinzip widersprechend verfassungswidrig wäre, welche die materielle Rechtskraft zur Gänze aufhebt (Hinweis auf VfSlg. 4986/1965). Gegen eine solche Bestimmung müßten schwere verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet werden.

Zum einen werde damit der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung iS des Art18 Abs1 B-VG mißachtet (Hinweis auf Hundegger in ÖJZ 1978, S 600 ff.). Zum zweiten werde dadurch der verfassungsmäßig garantierten Selbstverwaltung der Gemeinden widersprochen.

Überdies wird in der Beschwerde ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz behauptet, weil die Behörde ihr Ermessen "mißbräuchlich" ausgeübt habe. Denn unter der Annahme der verfassungsgesetzlichen Unbedenklichkeit des §88 AGO müßte bei einer gesetzmäßigen Ermessensausübung wohl auf die näheren Umstände dieses Einzelfalles eingegangen werden. Insbesondere wäre zu überprüfen gewesen, inwieweit dem Beschwerdeführer ein Verschulden bezüglich eines rechtswidrigen Bescheides anzulasten ist, wenn dies aber nicht der Fall sei, ob es dann iS des Gesetzes sein könne, daß rechtskräftig erworbene Rechte als nicht wohlerworben nach Treu und Glauben und dem Grundsatz der Billigkeit angesehen werden könnten.

3. Der VfGH hat in seinem - auch in der Beschwerde erwähnten - Erk. VfSlg. 4273/1962 festgestellt, daß Bestimmungen, die es ermöglichen, auch rechtskräftige Entscheidungen aufzuheben, sei es im Wege von Aufsichtsbefugnissen, sei es im Wege von Wiederaufnahmen, an und für sich verfassungsrechtlich unbedenklich sind, sofern sie das öffentliche Interesse an der Gesetzmäßigkeit der Vollziehung zum Ausdruck bringen (vgl. auch VfSlg. 7978/1977).

Ob eine Regelung als dem Rechtsstaatsprinzip widersprechend verfassungswidrig wäre, welche die materielle Rechtskraft zur Gänze aufhöbe, braucht hier ebenso wenig wie im Erk. VfSlg. 4986/1965 untersucht zu werden, weil auch hier ein solcher Fall nicht vorliegt. Es ist wohl richtig, daß nach §88 AGO Bescheide sowie Beschlüsse oder sonstige Maßnahmen von Gemeindeorganen wegen Rechtswidrigkeit aufgehoben werden können, und nicht nur wegen ausdrücklich bezeichneter Nichtigkeiten, wie es §68 AVG vorsieht. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß diese Befugnis bereits durch den Abs2 des §88 AGO beschränkt wird, weil nach Ablauf von drei Jahren Bescheide aus den Gründen der Erlassung durch eine unzuständige Behörde oder durch eine nicht richtig zusammengesetzte Kollegialbehörde nicht mehr aufgehoben werden können. Dadurch, daß die Partei die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes anrufen kann, ist auch möglichst Gewähr dafür geboten, daß die Aufsichtsbefugnisse tatsächlich nur zur Herstellung des gesetzlichen Zustandes benützt werden (vgl. VfSlg. 4986/1965).

Wie sich aus dem Wort "kann" in §88 AGO ergibt, ist der Aufsichtsbehörde bei Wahrnehmung des Aufsichtsrechtes tatsächlich ein gewisses Ermessen eingeräumt worden, das sie iS einer ordnungsgemäßen Führung der Verwaltung auszuüben hat. Sie wird also in jedem Einzelfall abzuwägen haben, ob sich der Fall zur Setzung einer aufsichtsbehördlichen Maßnahme eignet, oder ob ein Fall vorliegt, in welchem die Rechtssicherheit vor der Rechtmäßigkeit des Bescheides zu stehen hat. Die Behörde wird dabei zu berücksichtigen haben, daß im Wesen der Aufsicht die Befugnis der Aufsichtsbehörde liegt, Akte der beaufsichtigten Gemeinde - unter Beachtung gesetzlicher Schranken - soweit aufzuheben, als sie rechtswidrig sind. Ist die Rechtswidrigkeit und deren Feststellung im öffentlichen Interesse relevant, dann muß die Aufsichtsbehörde diese Aufhebung anordnen.

Vor allem aber wird die Aufsichtsbehörde bei Anwendung des §88 AGO zu berücksichtigen haben, daß die Aufsichtsmittel unter möglichster Schonung erworbener Rechte Dritter zu handhaben sind. Diese sich aus Art119a Abs7 letzter Satz B-VG und §85 Abs3 AGO ergebende Verpflichtung gilt, wie der VfGH im Erk. VfSlg. 7978/1977 hervorgehoben hat, auch für die amtswegige Aufhebung rechtskräftiger gemeindebehördlicher Bescheide, die in Ausübung des Aufsichtsrechtes erfolgt. Aus diesem Grundsatz ergibt sich eine ganz wesentliche Schranke bei der Ausübung des Ermessens durch die Aufsichtsbehörde.

Nach Ansicht des VfGH ist somit Sinn und Grenze des eingeräumten Ermessens hinreichend klar. Aus allen diesen Erwägungen folgt, daß die Bestimmung des §88 Abs1 AGO dem Art18 B-VG nicht widerspricht.

Der Beschwerdeführer behauptet auch, daß §88 Abs1 AGO gegen die Vorschriften des B-VG über die Gemeindeautonomie verstoße. Dies wäre jedoch nur dann der Fall, wenn die genannte Gesetzesbestimmung schlechthin einen Eingriff in jene Angelegenheiten ermöglicht, die von Verfassungs wegen der Gemeinde überlassen sind (vgl. hiezu die ähnlichen Erwägungen des VfGH in seiner ständigen Rechtsprechung zum verfassungsgesetzlich gewährleisteten Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden, zB VfSlg. 8150/1977). Auf Grund der obigen Ausführungen kann jedoch keine Rede davon sein, daß §88 Abs1 AGO die Aufsichtsbehörde zu einem derartigen Eingriff ermächtigt.

Die verfassungsrechtlichen Bedenken des Beschwerdeführers treffen somit insgesamt nicht zu.

4. Wie bereits erwähnt sind gemäß Art119a Abs7 letzter Satz B-VG und §85 Abs3 AGO die Aufsichtsmittel unter möglichster Schonung erworbener Rechte Dritter zu handhaben.

Im vorliegenden Fall wurde ein rechtskräftiger Bescheid aufgehoben, aus welchem dem Beschwerdeführer Rechte erwachsen sind. Wie die dem VfGH vorgelegten Verwaltungsakten, insbesondere der angefochtene Bescheid zeigen, hat die Aufsichtsbehörde hier die gebotene Interessenabwägung hinsichtlich des Eingriffes in die Rechte des Beschwerdeführers überhaupt nicht vorgenommen. Die belangte Behörde hat es somit unterlassen, in einem entscheidenden Punkt (vgl. die Ausführungen oben zu Punkt 3.) Gründe und Gegengründe einander gegenüberzustellen und gegeneinander abzuwägen. Das bedeutet, daß die Behörde nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH (vgl. zB VfSlg. 8674/1979) willkürlich gehandelt hat.

5. Der Beschwerdeführer ist somit durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleicheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid ist somit aufzuheben.

Schlagworte

Gemeinderecht, Aufsichtsrecht (Gemeinde)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1983:B381.1979

Dokumentnummer

JFT_10169689_79B00381_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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