Kommentar zum § 4 StVG

Dr. Marlon POSSARD am 02.08.2024

Absehen vom Strafvollzug wegen Auslieferung unter Bezugnahme auf den Sonderfall „Gefangenenaustausch“

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Prinzipiell liegt der Zweck des Strafvollzuges darin begründet, den/die Verurteilte:n mittels der auferlegten Strafe (Haft), die durch einen unabhängigen Spruch des/der Richters:in bzw. eines Richter:innensenats erging, zu einem rechtschaffenden Leben zu verhelfen. Im Mittelpunkt steht dabei der Gedanke der Resozialisierung des/der Betroffene:n. Ebenso wird mit erzieherischen Maßnahmen und der Beschränkung der individuellen Freiheit des/der Verurteilten versucht, die schädlichen Neigungen, die zur Haft geführt haben, zu minimieren. Die Zwecke des Strafvollzugs beruhen in Österreich auf § 20 Abs 1 und 2 StVG. Eine spezielle Ausnahme im Kontext des Strafvollzugs bildet die Möglichkeit des Absehens vom Strafvollzug aufgrund einer Auslieferung des/der Verurteilten nach § 4 StVG.

§ 4 StVG bezieht sich primär auf die rechtliche Möglichkeit der Auslieferung von Strafgefangenen an ausländische Behörden, um den/die Strafgefangene:n ebendort, d. h. auf ausländischem Hoheitsgebiet, dem Strafvollzug zuzuführen. Ob an dem/der Strafgefangenen im Ausland tatsächlich eine Haft vollzogen wird, spielt für die Beurteilung, ob von § 4 StVG Gebrauch gemacht wird, zunächst keine Rolle, da eine solche in der Praxis letztendlich relativ schwer nachzuweisen ist. Es muss lediglich überprüft werden, ob die Voraussetzungen für eine Abschiebung gegeben sind. Wird eine Auslieferung zwischen den Strafvollzugsbehörden vereinbart, so ist von der Haft des/der Verurteilte:n im Inland (Österreich) gem § 4 1. Fall StVG vorläufig abzusehen, sofern keine besonderen Gründe iSd § 4 1. Fall 2. Satz StVG vorliegen. Die Entscheidung einer Vollzugsabsehung wegen Auslieferung gem § 4 StVG obliegt iSd § 7 Abs 1 StVG der Zuständigkeit des/der Einzelrichters:in bzw. des/der Vorsitzenden des jeweiligen Gerichts. Hinsichtlich der gerichtlichen Zuständigkeit verweist bspw. Ainedter darauf, dass jenes Gericht zuständig ist, das für den Strafausspruch oÄ verantwortlich war. Nach Ainedter bezieht sich die Strafe iSd § 4 StVG auf die im jeweiligen Verfahren ausgesprochene Freiheitsstrafe (umfasst sind auch Teile der Strafe, insb bei Widerruf einer bedingten Nachsicht bzw. Entlassung).[1]

Im Rahmen des Auslieferungsverfahrens betreffend die Absehung vom Strafvollzug nach § 4 StVG, genießt der/die Verurteilte gem § 7 Abs 2 StVG die Rechte eines:r Beschuldigten. Demgemäß sind auch die rechtlichen Bestimmungen der StPO zu berücksichtigen. Für den Fall, dass die ausgelieferte Person wieder in das Bundesgebiet der Republik Österreich zurückkehren sollte, kommt die Bestimmung des § 4 2. Fall StVG zur Anwendung und die Strafe ist in Österreich zu vollziehen. Eine bedingte oder gänzliche Nachsicht des Strafvollzuges bei Rückkehr in das Bundesgebiet durch die ausgelieferte Person ist gem § 4 3. Fall StVG nur dann möglich, wenn über die Person bereits im Ausland eine Strafe vollzogen wurde. Mit § 4 3. Fall StVG konkretisiert der Gesetzgeber ua den prozessualen „Ne-bis-in-idem“-Grundsatz, dh das Doppelbestrafungsverbot (siehe hierzu: § 17 StPO, Art. 4 ZP 7 EMRK). Bei Vorliegen eines Europäischen Haftbefehls weist insb Murschetz darauf hin, dass § 4 StVG bei einer bereits durchgeführten bedingten Übergabe iRv § 26 EU-JZG nicht unzulässig ist. Erst mit Rechtskraft wird der Grund des Aufschubs iSd § 26 Abs 1 Z 6 EU-JZG bei richterlichem Beschluss nach § 4 StVG aufgelöst. Murschetz hält außerdem fest, dass der rechtskräftige Beschluss als Anordnung iSd § 26 Abs 3 Z 4 EU-JZG zu verstehen ist und dem Staat der Ausstellung für die weitere Erledigung unmittelbar zu übermitteln ist.[2] Drexler/Weger heben hervor, dass Inländer:innen grundsätzlich nicht von einer Auslieferung umfasst sind, sondern Inländer:innen nur in jenen Fällen, wo die Auslieferung auf einem EU-Haftbefehl nach § 5 Abs 5 EU-JZG basiert. Die Überstellung an den IStG stellt eine weitere Ausnahme betreffend die Auslieferung von Inländer:innen dar, alle weiteren Fälle betreffen staatenlose Personen und Ausländer:innen.[3]

Spezialfall „Gefangenenaustausch“:

Ein Phänomen, das in den vergangenen Jahren immer wieder in Erscheinung tritt, ist die Auslieferung von Gefangenen aufgrund politischer Vereinbarungen zwischen einzelnen Ländern, obgleich in Österreich ieS keine spezifischen Regulierungen zu solchen Austauschen existieren, sondern auf internationales Recht zurückgegriffen wird. In diesem Sinne werden häufig sog. Gefangenenaustausche durchgeführt, die auch gegenwärtig an zahlreichen Beispielen[4] skizziert werden können. Unter einem Gefangenenaustausch wird ein Vorgang bezeichnet, bei dem verschiedene Länder in Haft befindliche Personen untereinander austauschen. Die betroffenen Personen sind meist politische Gefangene oder Kriegsgefangene. Mit einem völkerrechtlich garantierten Gefangenenaustausch wird das vordergründige Ziel verfolgt, politische Verhandlungen (wieder) aufzunehmen bzw. die humanitäre Situation der Inhaftierten zu verbessern. Dabei wird auf die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe im jeweiligen Land verzichtet. In Österreich basieren solche Austausche auf bilateralen Vereinbarungen. Als ein Beispiel kann hier etwa das Abkommen zwischen der Republik Österreich und den USA angeführt werden (siehe hierzu: BGBl. Nr. III 216/1999 mit Inkrafttreten v. 01.01.2000[5]). Häufig werden die Austausche unter Zuhilfenahme unabhängiger Dritter (z. B. durch Zwischenschaltung eines anderen Staates) vorgenommen. Auch die Fälle solcher politischer Austausche unterliegen grundsätzlich, neben der Beachtung der individuellen Abkommen zwischen der Republik Österreich und dem jeweiligen Staat, den Bestimmungen des § 4 StVG, wobei für jeden Fall eine Ermessensprüfung notwendig ist.

Summa summarum kann aus juristischer Sicht angemerkt werden, dass es nicht die Intention des Gesetzgebers war und ist, die Normierung des § 4 StVG für Fälle politischer Gefangenenaustausche anzuwenden, da es sich bei solchen Angelegenheiten in erster Linie nicht um typische Rechtsfälle handelt, sondern erstens um hochpolitische Sachverhalte, zweitens um diplomatische Überwägungen, die meist gegensätzlich zur üblichen Rechtspraxis stehen und drittens um nicht unproblematische Weisungen.

 


[1] Ainedter, OGH v. 28.02.2023, 14 Os 4/23d, AnwBl 2023/317

[2] Murschetz, Absehen vom Strafvollzug wegen Auslieferung und Europäischer Haftbefehl. JuBl 132, 397–401 (2010). https://doi.org/10.1007/s00503-010-1888-y [zuletzt abgerufen am: 02.08.2024]

[3] Drexler/Weger, StVG5 § 4 (Stand 01.01.2022, rdb.at)

[4] Im August 2024 erfolgten 26 Gefangenenaustausche aus sieben Staaten (z. B. zwischen Deutschland und Russland), wenn auch ohne Österreich-Bezug. Siehe hierzu: vgl. Österreichischer Rundfunk (2024); Gefangenenaustausch: Freigelassene in Heimat empfangen. Online: https://orf.at/stories/3365429/ [zuletzt abgerufen am: 02.08.2024]

 


§ 4 StVG | 1. Version | 160 Aufrufe | 02.08.24
Informationen zum Autor/zur Autorin dieses Fachkommentars: Dr. Marlon POSSARD
Zitiervorschlag: Dr. Marlon POSSARD in jusline.at, StVG, § 4, 02.08.2024
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