Besteht in einem Verfahren Anwaltszwang, darf ein Rechtsanwaltsanwärter (RAA) mit kleiner LU (Legitimationsurkunde) nicht einschreiten. Nach § 61 Abs 1 Z 1 StPO herrscht so ein Anwaltszwang im gesamten Verfahren, wenn und solange der Beschuldigte in Untersuchungshaft (U-Haft) oder gem § 173 Abs 4 StPO in Strafhaft gehalten wird. Das bedeutet, dass Haftverhandlungen, auch wenn sie einen "niedrigen juristischen Schwierigkeitsgrad" haben mögen, nicht von RAA mit kleiner LU verrichtet werden dürfen!
Dies sollte aber nicht gelten, wenn der Angeklagte nun von der U-Haft in die Hauptverhandlung (HV) vorgeführt wird, bei der HV aber sonst alle Voraussetzungen für das Einschreiten des RAA mit kleiner LU vorliegen. Durch § 61 Abs 1 Z 1 StPO soll - nach systematischer Interpretation - vorwiegend die Verrichtung von Haftverhandlungen durch einen RAA mit kleiner LU untersagt werden. Für die HV hingegen ist grundsätzlich das angedrohte Strafausmaß gemäß Strafantrag für die Beurteilung der Verteidigerpflicht ausschlaggebend. § 38 StGB als Begründung für die These heranzuziehen, dass sich der Angeklagte auch während der HV in U-Haft befindet und eines Anwaltes bedarf, scheint überzogen formalistisch. § 61 Abs 1 Z 1 StPO auch noch auf die HV anzuwenden, widerspräche also uE dem telos dieser Norm.
Da zu dieser Problematik jedoch noch keine einhellige Standesansicht und/oder Rechtsprechung vorliegt, ist für die Praxis dringend anzuraten, sich sicherheitshalber vorab mit dem HV-Richter abzusprechen, wenn zwar U-Haft bis zur HV verhängt wurde, aber alle anderen Bedingungen einer Verteidigernotwendigkeit nicht vorliegen.
Obernberger, Vertretungsbefugnis eines Konzipienten mit kleiner LU im gerichtlichen Strafverfahren, AnwBl 1/2013, 19.