Nur Bescheinigung der Zuwiderhandlung erforderlich
1) Für die Erlassung einer einstweiligen verfügung nach § 48 KartG ist nur die bescheinigung der Zuwiderhandlung, also etwa des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, erforderlich (16 Ok 1/12; 16 Ok 6/08 mwN).
Kein Untersuchungsgrundsatz
2) Im Verfahren über die Erlassung einer einstweiligen Verfügung gilt der Untersuchungsgrundsatz nach ständiger Rechtsprechung nicht (Okt 1/89, Okt 2/89). Selbst wenn man mit Solé (Das Verfahren vor dem Kartellgericht Rz 350) von der Geltung eines eingeschränkten Untersuchungsgrundsatzes ausginge, wären im Provisiorialverfahren jedenfalls nur parate Bescheinigungsmittel zu berücksichtigen (16 Ok 1/09).
Kein Vorgriff auf die endgültige Entscheidung
3) Grundsätzlich darf eine einstweilige Verfügung der Endentscheidung nicht vorgreifen; durch sie darf nicht das bewilligt werden, was die gefährdete Partei erst im Wege der Exekution erzwingen könnte (16 Ok 1/09; E. Kodek in Angst, EO² § 378 Rz 7).
4) Dieser Grundsatz gilt im Provisorialverfahren allerdings nicht generell, sondern nur für einstweilige Verfügungen nach § 379 und nach § 381 Z 1 EO, nicht aber für solche nach § 381 Z 2 EO (E. Kodek in Angst, EO² § 378 Rz 7; Sailer in Burgstaller/Deixler-Hübner, EO § 381 Rz 4; 4 Ob 14/94 = ÖBl 1995, 21 – Werbesekunden). Dient die einstweilige Verfügung zur Verhütung drohender Gewalt oder zur Abwendung eines drohenden und unwiederbringlichen Schadens iSd § 381 Z 2 EO, dann kann sie auch bewilligt werden, wenn sie sich mit dem im Hauptverfahren angestrebten Ziel deckt (16 Ok 1/09; E. Kodek in Angst, EO² § 378 Rz 7; Sailer in Burgstaller/Deixler-Hübner, EO § 381 Rz 4 mwN).
5) Auch einstweilige Verfügungen nach § 48 KartG sind an diesen Maßstäben zu messen. Unter den genannten Voraussetzungen darf daher auch im Kartellverfahren eine einstweilige Verfügung ausnahmsweise der endgültigen Entscheidung vorgreifen (Solé in Petsche/Urlesberger/Vartian, KartG 2005 § 48 Rz 12). Auch bei einstweiligen Verfügungen nach § 381 Z 2 EO darf aber nach herrschender Auffassung keine Sachlage geschaffen werden, die im Fall eines die einstweilige Verfügungn nict rechtfertigenden Urteils nicht rückgängig gemacht werden kann (E. Kodek in Angst, EO² § 378 Rz 7; Sailer in Burgstaller/Deixler-Hübner, EO § 381 Rz 4; 4 Ob 180/99w – Format; 4 Ob 134/06v uva).
6) In diesem Sinne kann daher beispielsweise nicht verboten werden, im Geschäftsverkehr eine registrierte Firma zu verwenden oder gar geboten werden, eine Firma im Firmenbuch löschen zu lassen (E. Kodek in Angst, EO² § 378 Rz 7; 3 Ob 727/54 = SZ 27/317 = ÖBl 1955, 13; 4 Ob 321/73 = ÖBl 1974, 35; 4 Ob 339/98a); ebenso wenig kann der Vergabestelle für Domains die Löschung der Domain aufgetragen werden (4 Ob 166/00s = ecolex 2001/54 [Schanda] = MR 2000, 328 [Pilz] = ÖBl 2001, 30 [Schramböck] =WBl 2001/69 [Thiele] – fpo.at). Ebenso kommt ein einstweiliges Verbot an den ORF nicht in Frage, die Buchung von Werbespots über ein bestimmtes Limit hinaus abzulehnen, würde doch bei späterer Aberkennung dieses Unterlassungsanspruchs der von der gefährdeten Partei erzielte Erfolg nicht mehr aus der Welt zu schaffen sein (4 Ob 14/94 = EvBl 1994/115 = MR 1994, 78 = ÖBl 1995, 21 – Werbesekunden). Auch würde die Erlassung eines Beschäftigungsverbots einen unumkehrbaren Zustand schaffen, wenn es dazu führt, dass das Beschäftigungsverhältnis gelöst wird (16 Ok 1/09; 4 Ob 90/95 = ÖBl 1996, 127 – Feuerlöschgeräte).
7) Grundsätzlich hat freilich jede einstweilige Verfügung Auswirkungen, die nachträglich nicht völlig aus der Welt geschafft erden können. So konnte der Gegner der gerichtlich verwahrten Sache diese für einige Zeit nicht verwenden; bei Sperre eines Kontos kann der Antragsgegner kein Geld beheben etc (Zackl, Einstweilige Verfügung und [Un-]Zulässigkeit unwiederbringlicher Eilmaßnahmen, ÖJZ 2005/2 [15]). Unzulässig sind allerdings nur solche Provisorialmaßnahmen, die unwiederbringliche Eingriffe in die Rechtssphäre des Gegners nach sich ziehen (Zackl aaO 16). Es geht also nicht um zeitweilige Beeinträchtigungen, wie sie bei einstweiligen Verfügungen unvermeidbar sind, sondern um irreparable Konsequenzen bestimmter Anordnungen (16 Ok 1/09; Zackl aaO 16).
Art 6 EMRK
8) In seiner Entscheidung Micallef, BSw 17056/06, vom 15.10.2009 hat der EGMR ausgesprochen, dass Art 6 EMRK auch auf Verfahren über vorläufige Maßnahmen anwendbar ist, wenn davon auszugehen ist, dass diese – ungeachtet der Dauer ihrer Geltung – effektiv über einen zivilrechtlichen Anspruch oder eine Verpflichtung entscheiden. In Ausnahmefällen kann eine sofortige Erfüllung aller Anforderungen des Art 6 EMRK unmöglich sein. Während auch in diesen Fällen die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des betroffenen Tribunals oder Richters unentbehrlich ist, können in solchen besonderen Fällen andere Verfahrensgarantien nur in jenem Ausmaß anwendbar sein, das mit der Art und dem Zweck des jeweiligen Provisorialverfahrens vereinbar ist (16 Ok 12/13; RIS-Justiz RS0127445).
9) In der Lehre vertritt König, Einstweilige Verfügungen im Zivilverfahren, Rz 6/42c, dass der gefährdeten Partei auf die Äußerung des Gegners hin – schon wegen des fehlenden Widerspruchrechts – Gehör zu gewähren sein (Recht auf Replik); dies jedenfalls dann, wenn in der Äußerung neue erhebliche Tatsachen bescheinigt worden seien. G. Kodek, Die Anwendbarkeit von Art 6 EMRK im Provisorialverfahren, Zak 2010/7, 8, verweist darauf, dass die Rechte nach Art 6 EMRK auch dem Antragsteller zukommen. Bei Gehörgewährung im Wege einer mündlichen Verhandlung und damit Eröffnung des Fragerechts als Ausfluss des rechtlichen Gehörs im weiteren Sinne könnten Folgeprobleme (insbesondere die Möglichkeit der gefährdeten Partei, auf eine allfällige Gegenäußerung zu reagieren, sowie die Frage der Zulässigkeit der Einbringung eines neuerlichen Sicherungsantrags, wenn die Abweisung aufgrund von Einwänden des Gegners erfolgte, zu denen sich die gefährdete Partei nicht äußern konnte), zumindest im Fall der Aufnahme von Personalbeweisen vermieden werden (16 Ok 12/13).
10) Unter Berücksichtigung der Folgejudikatur des EGMR hat G. Kodek in FS Delle Karth, Einstweilige Verfügungen nach Micallef v Malta – eine Nachlese 521 ff, dargelegt, dass das rechtliche Gehör nicht nur dann verletzt ist, wenn einer Partei die Möglichkeit genommen wird, sich im Verfahren überhaupt zu äußern, sondern auch dann, wenn einer gerichtlichen Entscheidung Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten. Das Gericht hat daher Parteien Verfahrensvorgänge, die erkennbar für sie wesentliche Tatsachen betreffen, bekannt zu geben und ihnen die Möglichkeit zur Stellungnahme zu eröffnen. Insgesamt sei davon auszugehen, dass sich durch die Entscheidung Micallef das Regel-Ausnahme-Verhältnis verschoben habe. Sei früher die Einseitigkeit der Regelfall gewesen, stelle nunmehr die Unterlassung der Gewährung vorgängigen Gehörs die Ausnahme dar und müsse daher besonders begründet werden. Strittig sei, ob der gefährdeten Partei bei Anwendbarkeit des Art 6 EMRK ein Recht auf Replik zustehe. Dies sei wegen des Neuerungsverbots im Rekursverfahren und mangels Widerspruchsmöglichkeit der gefährdeten Partei wohl insbesondere dann zu bejahen, wenn in der Äußerung neue erhebliche Tatsachen bescheinigt worden seien. Hinsichtlich einer neuerlichen Duplik des Gegners gelte wohl die allgemeine Dringlichkeitsregel: Liefe diese in Ansehung des Zwecks des Provisorialverfahrens der Effektivität des einstweiligen Rechtschutzes zuwider, reiche die nachträgliche Widerspruchsmöglichkeit zur Wahrung des rechtlichen Gehörs aus (16 Ok 12/13).
11) In der Judikatur wurde im Gefolge der Entscheidung Micallef ausgesprochen, dass dann, wenn ein Rekursgericht in einem zweiseitig geführten Sicherungsverfahren beabsichtige, seine Entscheidung auf Beweismittel zu stützen, zu denen die gegnerische Partei in erster Instanz nicht Stellung nehmen konnte, dieser vor der Entscheidung Gelegenheit zur Äußerung zu geben ist (RIS-Justiz RS0126204). In der Entscheidung 9 ObA 44/11b hat der Oberste Gerichtshof die Zurückweisung von Schriftsätzen durch das Erstgericht gebilligt. Auch nach der Entscheidung Micallef hänge die Effektivität der Provisorialmaßnahme von einer raschen Entscheidung ab. Das Erstgericht habe gerade aus der Überlegung der effizienten Verfahrensgestaltung weitere Anträge der Parteien zurückgewiesen (16 Ok 12/13).
12) Räumt das Kartellgericht der Gegnerin der gefährdeten Partei eine vierwöchige Äußerungsfrist ein, deutet dies darauf hin, dass die Entscheidung im Provisorialverfahren nicht von vornherein als besonders dringlich eingestuft wird. Wird dann eine rund zwei Wochen nach der letzten Äußerung bzw Urkundenvorlage der Gegnerin der gefährdeten Partei eingelangte weitere Äußerung der Antragstellerin zu den Argumenten der Gegnerin der gefährdeten Partei nicht berücksichtigt, obwohl das Kartellgericht seine Feststellungen auch auf die Gegenäußerung und die damit vorgelegten Urkunden stützt, liegt eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens vor (16 Ok 12/13).