Rechtsdogmatisch ist die Regelung des § 9 Abs 1 RAO innerhalb der Fallgruppe „Handeln in Ausübung einer Rechtspflicht oder eines Rechtes“ als Rechtfertigungsgrund für das Prozessvorbringen durch einen Rechtsanwalt einzuordnen, sofern dieser innerhalb der Schranken dieser Bestimmung bleibt (vgl Hager/Meller/Eichenseder, Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung, 2. Auflage, 2004, S. 155). Wesentliche Voraussetzung der Rechtfertigung ist schließlich, dass die Ausübung des Rechts im Rahmen der Prozessführung nicht missbräuchlich erfolgt. Die Herabsetzung des Gegners darf so zB nicht wider besseres Wissen geschehen (OGH 13.07.00, 6 Ob 114/00h; veröffentlicht in SZ 73/117).
Darüber hinaus lässt sich feststellen, dass die Judikatur zu § 9 Abs 1 RAO überaus einzelfallbezogen ist. Grundsätzlich lässt sich aber festhalten, dass § 9 Abs 1 RAO alle sachlichen, durch eine entsprechende Information des Mandanten gedeckten Äußerungen des Rechtsanwaltes rechtfertigt, die er für die Durchsetzung der Ansprüche seiner Partei für dienlich erachtet, mögen damit auch schwere Vorwürfe gegen den Gegner oder Dritte verbunden sein. Darüber hinausgehende, der Anspruchsdurchsetzung nicht dienliche beleidigende, polemische oder sonst unsachliche Äußerungen und Ausfälle widerstreiten jedoch den Gesetzen (OGH vom 05.11.90, Bkd 127/89).
Der Rechtfertigungsgrund steht aber nicht mehr zur Verfügung, wenn der Anzeiger die in die Ehre des anderen eingreifenden Behauptungen öffentlich in Presseaussendungen oder Zeitungsinterviews wiederholt, weil er dies nicht mehr im öffentlichen Interesse am Funktionieren der Strafrechtspflege tut (OGH 19.02.04, 6 Ob 265/03v). Ehrenrührige unrichtige Tatsachenbehauptungen, die ein Rechtsanwalt über einen Prozessgegner seines Mandanten in einer Pressekonferenz aufstellt, unterliegen dem Rechtfertigungsgrund des § 9 RAO jedenfalls nicht mehr (OGH 13.07.00, 6 Ob 114/00h, veröffentlich in SZ 73/117).
Es ist somit ein Vorrecht des Rechtsanwaltes, dem auch entsprechende Verpflichtungen gegenüberstehen, unter Benützung aller Angriffs- und Verteidigungsmittel, und zwar in jeder Weise, für seine Partei einzutreten. Das bedeutet, dass die Grenze, die der Rechtsanwalt in seiner Tätigkeit nicht überschreiten darf, sehr hoch liegt. Sie ist definiert durch den dem Rechtsanwalt erteilten Auftrag, durch sein Gewissen und den zu vermeidenden Widerstreit mit dem Gesetz. Wenn der Gesetzgeber von „seinem Gewissen" spricht, dann meint er nicht irgendein allenfalls durchschnittliches Gewissen, sondern das durch den Gesetzgeber selbst beschriebene anwaltliche Gewissen, ein Gewissen, das hohen berufsethischen Grundsätzen verpflichtet ist (OGH 24.10.05, 16 Bkd 5/05).
Unsachliche und (durch Herabsetzung des Adressierten) auch beleidigende Äußerungen gehen über die Befugnis des § 9 Abs 1 RAO zu unumwundenem Vorbringen jedenfalls hinaus, wenn sie mit einer energischen und zielbewussten Vertretung des Mandanten kaum in Zusammenhang zu bringen und lediglich Ausdruck einer mit persönlicher Animosität geführten Kontroverse sind. (OGH 13.01.03, 6 Bkd 2/02)