Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelbLeitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; StGG Art8; MRK; Festnahme und Anwendung der "Armwinkelsperre" hiebei - Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt; vertretbare Annahme einer Ordnungsstörung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950; Festnahme in §35 litc VStG 1950 gedeckt; Bf. widersetzte sich der Festnahme - Anwendung angemessener Gewalt (Armwinkelsperre) gerechtfertigt; kein Verstoß gegen Art3 MRK; keine Verletzung im Recht auf persönliche FreiheitSpruch
Die Beschwerde wird abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. In der auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerde des L K, Taxiunternehmer in Innsbruck wird vorgebracht, ein ihm gehöriges Taxifahrzeug sei am 30. November 1985 um etwa 23.50 Uhr in einen Verkehrsunfall in Innsbruck auf der Kreuzung der M-Straße mit der S-Gasse und der M-Straße verwickelt worden, wobei am Fahrzeug des Bf. großer Sachschaden entstanden sei. Der Bf. habe, zur Unfallstelle gerufen, von der schon anwesenden Funkstreife sofort die Beiziehung des Verkehrsunfallkommandos verlangt, weil die Lenkerin des Fahrzeuges infolge des Unfalls unter Schockwirkung gestanden sei. Obwohl die Organe der Bundespolizeidirektion Innsbruck behauptet hätten, der Bf. habe der Lenkerin den Schock nur eingeredet, sei das Unfallkommando herbeigerufen worden. Die Beamten des Verkehrsunfallkommandos hätten den Bf. aufgefordert, von der Unfallstelle zu verschwinden. Wegen des erheblichen Wertes des Unfallwagens und seines Inhaltes habe der Bf. dieser Aufforderung nicht Folge geleistet, worauf seine Festnahme ausgesprochen worden sei. Die Festnahme sei mit unnötiger Zwangsgewalt erfolgt. Der Bf. sei mit einer sog. Armwinkelsperre zum Funkwagen transportiert worden. Von der Anlegung von Handschellen sei Abstand genommen worden. L K sei jedoch mit Gewalt in das Fahrzeug befördert und hiebei verletzt worden.
Der Bf. stellte den Antrag, der VfGH möge - allenfalls nach Durchführung von Erhebungen - feststellen, der Bf. sei durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch Organe der Bundespolizeidirektion Innsbruck in der Nacht vom 30. November zum 1. Dezember 1985 in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden.
2. Die mit der Vertretung der vom Bf. belangten Bundespolizeidirektion Innsbruck betraute Finanzprokuratur erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragte.
Sie führte hiebei aus, der Bf. habe am Unfallort den anwesenden Inspektor S in einem unbeherrschten und lautstarken Ton gefragt, wo das Unfallkommando bliebe. Als ihm erklärt worden sei, es gäbe keine Verletzten, hätte der Bf. geschrien: "Sie sind kein Arzt, Sie können keine Verletzungen feststellen. Verständigen Sie sofort das Unfallkommando." Da er vor dem Gesicht des Inspektors auch gestikuliert habe, sei er mit den Worten abgemahnt worden: "Stellen Sie Ihr ungestümes Benehmen ein." Der Bf. aber habe sein strafbares Verhalten fortgesetzt, wobei er zu verstehen gegeben habe, daß er als Steuerzahler seine Meinung in jeder Lautstärke äußern dürfe. Die Finanzprokuratur führte in der Folge eine Reihe anderer Äußerungen an, die der Bf. lautstark und mit heftigen Handbewegungen von sich gegeben habe. Trotz weiterer Abmahnungen habe der Bf. sein Verhalten fortgesetzt. Infolge des Verhaltens des Bf. hätten sich zahlreiche Passanten am Unfallort gesammelt und die weitere Amtshandlung verfolgt. Sie hätten ärgerliche Bemerkungen über das Verhalten des Bf. von sich gegeben. Da der Bf. sein strafbares Verhalten fortgesetzt habe, sei von Inspektor R die Verhaftung des Bf. ausgesprochen worden. Da er sich von dem einfachen Haltegriff mehrmals losgerissen habe, sei er zum Taxifahrzeug gedrängt worden. Dort sei die Armwinkelsperre angewendet worden. Von der Anwendung von Handfesseln habe abgesehen werden können, da der Bf. sich bereit erklärt habe, "der Festnahme Folge zu leisten". Hiebei habe er allerdings die Beamten weiter auf das Gröblichste beschimpft. Die Beamten hätten den Bf. nicht mit Gewalt in das Fahrzeug befördert. Sie hätten ihn auch keinesfalls verletzt. Im Wachzimmer Innsbruck Innere Stadt habe sich der Bf. beruhigt, worauf er vom rechtskundigen Journalbeamten um 0.35 Uhr entlassen worden sei. Das "Strafverfahren" (richtig: die Anzeige) gegen die Sicherheitswachebeamten J S und E F wegen des Verdachtes der Körperverletzung zum Nachteil des Bf. sei nach Prüfung des Sachverhaltes am 6. März 1986 von der Staatsanwaltschaft (7 St 3241/86) gemäß §90 StPO zurückgelegt worden.
3. Aus den von der bel. Beh. vorgelegten Verwaltungsakten, P-0140/86, ergibt sich, daß aufgrund der Anzeige von Sicherheitswachebeamten vom 3. Jänner 1986 von der Bundespolizeidirektion Innsbruck unter der Z St-2182/85, eine Strafverfügung erlassen wurde, in der festgestellt wurde, daß der Bf. am 1. Dezember 1985 um 0.10 Uhr in Innsbruck in der M-Straße 1. durch lautstarkes Schreien die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört und 2. sich nach der ausgesprochenen Festnahme den Wachebeamten gegenüber trotz Abmahnung durch heftiges Schreien und Schimpfen und Losreißen aus dem Haltegriff ungestüm verhalten habe. Er habe dadurch zu 1. eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 und zu 2. eine solche nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 begangen, weswegen gegen ihn zu 1. und 2. je eine Geldstrafe (Ersatzarreststrafe) verhängt wurde. Gegen diese Strafverfügung hat der Bf. einen bis jetzt unerledigten Einspruch erhoben. In diesem Einspruch bestreitet der Bf. nachdrücklich, daß er lautstark geschrien oder sich ungestüm benommen habe, räumt aber ein, daß eine "erregte Diskussion" stattgefunden habe.
II. 1. Der VfGH hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in die vorgelegten Verwaltungsakten, P-0140/86, betreffend L K, und die Einvernahme der Zeugen J S, E F und H R, Sicherheitswachebeamte in Innsbruck, der Taxilenkerin M K und des Bf. L K als Partei.
2. Der VfGH nimmt aufgrund des Parteienvorbringens und der durchgeführten Beweisaufnahme folgenden entscheidungswesentlichen Sachverhalt als erwiesen an:
Kurz vor Mitternacht des 30. November (nach 23.50 Uhr) traf der Bf. auf der Kreuzung M-Straße - S-Gasse - M-Straße ein und schrie die anwesenden Sicherheitswachebeamten sofort an. Auch als - von ihm angefordert - das Unfallkommando eintraf, setzte der Bf. seine lautstarke Auseinandersetzung mit den Sicherheitswachebeamten (der Funkstreife und des Unfallkommandos) trotz mehrmaliger Abmahnung fort. Da der Bf. trotz mehrmaliger Mahnungen sein Verhalten nicht änderte, wurde er etwa um 0.10 Uhr des 1. Dezember 1985 festgenommen und in das Wachzimmer Innsbruck Innere Stadt verbracht. Da der Bf. seiner Festnehmung Widerstand entgegensetzte, wurde von den Sicherheitswachebeamten die Armwinkelsperre angewendet, nachdem der Bf. vorher zum Unfallwagen gedrängt worden war. Nachdem der Bf. der Handschellen ansichtig wurde, gab er seinen Widerstand gegen die Festnehmung auf. Für eine Verletzung des Bf. anläßlich der Festnehmung ergibt sich kein Anhaltspunkt.
Im Wachzimmer wurde der Bf. bis 0.35 Uhr festgehalten und nach endgültiger Identifizierung zu diesem Zeitpunkt entlassen.
3. Diese Feststellungen stützen sich vorwiegend auf die übereinstimmenden Aussagen der Sicherheitswachebeamten. Diesen konnten hinsichtlich der lauten Auseinandersetzung des Bf. mit den Sicherheitswachebeamten vor der Festnehmung umsomehr gefolgt werden, als der Bf. im Verwaltungsstrafverfahren selbst einräumte, in eine "erregte Diskussion" mit den Sicherheitswachebeamten verwickelt worden zu sein. Ebenso sind die Aussagen der Sicherheitswachebeamten glaubwürdig, daß Passanten ihren Unwillen über die Störung der Ordnung in der Zeit um Mitternacht äußerten und daß der Bf. ohne Anwendung der Armwinkelsperre seinen Widerstand gegen die Festnehmung nicht aufgegeben hätte.
Weitere Feststellungen sind, wie sich zeigen wird, aus rechtlichen Erwägungen entbehrlich.
III. Der VfGH hat über die Beschwerde erwogen:
1. Die Festnehmung des Bf. durch Organe der Bundespolizeidirektion Innsbruck, die Anwendung der "Armwinkelsperre" hiebei, die Verbringung in das Wachzimmer Innsbruck Innere Stadt und seine kurzfristige Verwahrung dort sind in Ausübung verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergangene Verwaltungsakte, die nach Art144 B-VG unmittelbar beim VfGH bekämpft werden können.
Die Beschwerde ist zulässig.
2. Der festgestellte Sachverhalt ist unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit wie folgt zu beurteilen:
Nach §4 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen. Hiezu zählt auch die Bestimmung des §35 VStG 1950, auf die sich die bel. Beh. beruft. Der Bf. wäre sohin durch die Festnehmung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nur verletzt worden, wenn die Festnehmung nicht in dieser Gesetzesvorschrift begründet wäre (vgl. zB VfSlg. 9368/1982, 10229/1984). Nach der litc des §35 VStG 1950 dürfen auf frischer Tat betretene Personen zum Zwecke ihrer Vorführung vor die Behörde festgenommen werden, wenn sie trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharren oder sie zu wiederholen versuchen.
Die Festnehmung einer Person nach dieser Bestimmung setzt demnach voraus, daß die Person "auf frischer Tat betreten wird". Das Sicherheitsorgan muß also selbst ein Verhalten unmittelbar wahrnehmen, das es zumindest vertretbarerweise als eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung qualifizieren kann (vgl. hiezu VfSlg. 9208/1981, 9368/1982).
Nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG in geltender Fassung begeht eine Verwaltungsübertretung, wer durch ein Verhalten, das Ärgernis zu erregen geeignet ist, die Ordnung an öffentlichen Orten stört.
Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8580/1979, 9860/1983) und des VwGH (VwSlg. 2263 A/1951, 6581 A/1965, 7815 A/1970) durch zwei Elemente gekennzeichnet: Der Täter muß ein Verhalten zeigen, das geeignet ist, bei einem normal empfindenden Menschen Ärgernis zu erregen; zum zweiten muß durch dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört, also ein Zustand hergestellt worden sein, welcher der Ordnung widerspricht, wie sie an einem öffentlichen Ort gefordert werden muß.
Die Sicherheitswachebeamten wurden vom Bf. anläßlich einer Amtshandlung in Innsbruck auf der Kreuzung der M-Straße mit der S-Gasse und der M-Straße, die knapp nach 23.50 Uhr des 30. November 1985 stattgefunden hat, in eine lautstarke Auseinandersetzung verwickelt. Das Verhalten des Bf. bewirkte, daß Passanten stehenblieben und den Vorfall beobachteten.
Bei dieser Sachlage konnten die anwesenden Sicherheitswachebeamten zumindest vertretbarerweise annehmen, der Bf. habe eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 begangen. Da der Bf. trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrte, war der Festnahmegrund der litc des §35 VStG 1950 gegeben. Die Festnahme erfolgte sohin aus den angeführten Gründen gesetzmäßig. Bei diesem Ergebnis braucht nicht darauf eingegangen zu werden, ob sie auch noch aus anderen Gründen gerechtfertigt werden könnte (VfSlg. 8045/1977).
Der Bf. widersetzte sich der Festnehmung. Die Anwendung angemessener Gewalt (Armwinkelsperre) durch die Sicherheitswachebeamten war daher gerechtfertigt.
Da das Verfahren auch keine Anhaltspunkte ergeben hat, daß die im Anschluß an die Festnahme des Bf. (0.10 Uhr) erfolgte Anhaltung bis 0.35 Uhr desselben 1. Dezember 1985 rechtswidrig gewesen wäre (vgl. dazu VfSlg. 9368/1981), wurde der Bf. durch die erfolgte Festnahme und die darauf folgende Anhaltung in Verwaltungshaft nicht in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.
2. Im Beschwerdefall steht nicht eindeutig fest, daß der Bf. auch seine erniedrigende Behandlung im Zuge der Festnahme behauptet hat. Eine Verletzung des in Art3 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes liegt jedoch auch nicht vor:
Die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (MRK) BGBl. 210/1958, die gemäß Bundesverfassungsgesetz BGBl. 59/1964 im Verfassungsrang steht, bestimmt in ihrem Art3, daß niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
Die Festnahme oder Anhaltung, mag sie auch unter Einsatz der nötigen Körperkraft erfolgen, verletzt nicht schon allein die Verfassungsbestimmung des Art3 MRK; vielmehr verstoßen derartige physische Zwangsakte gegen das im Art3 MRK statuierte Verbot "erniedrigender und unmenschlicher Behandlung" nur dann, wenn qualifizierend hinzutritt, daß ihnen eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person eigen ist (VfSlg. 10378/1985, VfSlg. 9983/1984 und die dort angeführte weitere Rechtsprechung).
Eine Verletzung des Bf. in seinen nach Art3 MRK gewährleisteten Rechten hat nicht stattgefunden. Im Verfahren ist nicht hervorgekommen, daß er über die Festnahme und Anhaltung hinaus einer Behandlung unterzogen worden wäre, die zu einer Verletzung dieser Rechte geführt hätte.
Der Bf. wurde in seinen durch Art3 MRK gewährleisteten Rechten somit nicht verletzt.
3. Da eine Verletzung des Bf. in einem anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht im Verfahren nicht hervorgekommen ist, aber auch kein Anhaltspunkt dafür besteht, daß der Bf. infolge Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt wurde, war die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Ordnungsstörung, Festnehmung, MißhandlungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1986:B37.1986Dokumentnummer
JFT_10138873_86B00037_00