Index
10 VerfassungsrechtNorm
MRK Art3Leitsatz
StGG Art8; MRK Art5; Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; ungestümes Benehmen iS des ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 - sowohl in der Sprache als auch in der Gestik der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten; vertretbare Annahme ungestümen Benehmens iS des ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950; Verhaftung in §35 lita VStG gedeckt; anschließende Anhaltung von 20 Minuten (bis zur Identitätsfeststellung) in §36 Abs1 VStG gedeckt; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit Art144 Abs1 B-VG; MRK Art3; kein Nachweis für (behauptete) Mißhandlungen; kein tauglicher Beschwerdegegenstand - Zurückweisung der Beschwerde in diesem UmfangSpruch
I. Der Bf. wurde durch seine am 29. März 1985 in Wien von Organen der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in Haft weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.
Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.
II. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. E F begehrte in seiner mit Berufung auf Art144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung am 29. März 1985 in Wien dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien ihn a) festnahmen und anhielten sowie b) an die Wand drückten und würgten, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, nämlich (zu a)) auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK) und (zu b)) auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 MRK), verletzt worden zu sein.
1.1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Antrag stellte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen und den Bf. zum Ersatz der Verfahrenskosten zu verpflichten.
1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß E F am 29. März 1985 um 11.05 Uhr im Gebäude Wien, L-Gasse Nr. ... (Wachzimmer), von dem dort Dienst versehenden Revierinspektor A K ua. wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretungen nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 ("Lärmerregung") und ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 ("ungestümes Benehmen") gemäß §35 lita VStG 1950 festgenommen wurde; seine Haftanhaltung endete um 11.25 Uhr desselben Tages.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1. Zur Festnahme und Haftanhaltung
2.1.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sog. faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977 ua.).
2.1.1.2. Demgemäß ist festzuhalten, daß die Beschwerde - soweit sie die Festnahme und Anhaltung des Bf. betrifft (s. Abschnitt 1.2.) - Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art144 Abs1 B-VG bekämpft.
2.1.1.3. Da hier ein Instanzenzug nicht besteht und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde im dargelegten Umfang zulässig.
2.1.2.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person "in den vom Gesetze bestimmten Fällen" in Verwahrung nehmen dürfen.
§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Anwendungsfällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat verüben und bei Begehung des Delikts betreten werden, wobei die erste dieser beiden Bedingungen schon dann erfüllt ist, wenn das Behördenorgan die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund (= vertretbarerweise) annehmen konnte (s. zB VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).
Die Vorschrift des §35 lita VStG 1950 läßt eine Festnehmung unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann zu, wenn der Betretene "dem anhaltenden Organ unbekannt ist, sich nicht ausweist und seine Identität auch sonst nicht sofort feststellbar ist".
2.1.2.2. Auf dem Boden dieser Rechtslage ist also zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan A K mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß der Bf. sich die (den Umständen nach in erster Linie in Betracht zu ziehende) Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 zuschulden kommen ließ (s. Abschnitt 1.2.):
Einer Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 in geltender Fassung macht sich schuldig, wer "sich ungeachtet vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht oder gegenüber einer Militärwache, während sich diese Personen in rechtmäßiger Ausübung des Amtes oder Dienstes befinden, ungestüm benimmt". Der VfGH vertritt dazu in ständiger Judikatur (zB VfSlg. 9229/1981, ferner VfSlg. 9730/1983, 9921/1984) - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des VwGH (zB VwSlg. 2263 A/1951; VwGH 14. Mai 1968 Z 1759/67 und 1. März 1979 Z 873/78) - die Auffassung, daß unter "ungestümem Benehmen" ein sowohl in der Sprache als auch in der Gestik der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten zu verstehen ist (s. auch VfSlg. 7464/1974).
2.1.2.3. In tatsächlicher Hinsicht gelangte nun der VfGH, gestützt auf die Ergebnisse des durchgeführten Beweisverfahrens, zu folgenden Feststellungen:
Am 29. März 1985 vormittags erschien der Bf., der eine an seinem PKW angebrachte polizeiliche Mitteilung über eine Anzeigeerstattung und Verständigung des Abschleppdienstes vorgefunden hatte, im Polizeiwachzimmer Wien, L-Gasse Nr. ..., um Aufklärung über diese Maßnahme zu erlangen. Die folgenden Ereignisse im Wachlokal sind nach den in - teilweise - wesentlichen Punkten deutlich divergierenden Schilderungen, wie sie die dort Dienst versehenden Sicherheitswachebeamten Bezirksinspektor G R, Revierinspektor A K, Inspektor B W und Inspektor K F, ferner der iZm. einer gegen ihn gerichteten Amtshandlung anwesende K H und der Bf. selbst geben, nur mehr unvollkommen rekonstruierbar. Immerhin gestatten aber alle diese Aussagen iVm. dem Inhalt der Administrativakten die hier relevante Feststellung, daß sich der damals sehr aufgebrachte und aufgeregte Bf. in einer Art und Weise verhielt, die ihn in den dringenden Verdacht zumindest der Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 brachte: Da er heftig und andrängend gestikulierte, umherschrie und die Polizisten gröblich beleidigte ("Trotteln", "Schoitl"), dieses Verhalten auch nach Abmahnung fortsetzte und - obwohl den Beamten unbekannt - die Ausweisleistung verweigerte, wurde er schließlich von A K (s. Vernehmungsprotokoll vom 15. Juni 1985) festgenommen (s. Abschnitt 1.2.). Zwanzig Minuten später wurde der Festgenommene nach Identitätsfeststellung aus der Haft wieder entlassen.
Diese Sachverhaltsannahmen zum Hergang der Festnahme beruhen in der Hauptsache auf den insoweit plausiblen und glaubhaften Aussagen der Zeugen K und W (Niederschriften vom 15. Juni 1985 und Zeugenaussagen vom 24. Feber 1986), und zwar in Berücksichtigung der - weitgehend als Schutzbehauptungen zu wertenden - Einlassungen des Bf., der einräumte, er sei erregt gewesen und habe wohl lauter gesprochen "als normal". Auch die Aussage des Zeugen H, der die Sicherheitswachebeamten zwar belastete, die Amtshandlung aber lediglich phasenweise beobachten konnte (: Zeuge W, S 23 des Protokolls vom 24. Feber 1986, 15a Hc 3018/85), vermochte die Beweislage nach Überzeugung des VfGH nicht zu Gunsten des Bf. zu ändern.
2.1.2.4.1. Angesichts der gegebenen Sachlage und Beweissituation (Abschnitt 2.1.2.3.) durfte der Zeuge A K mit gutem Grund der Meinung sein, daß der (abgemahnte) Bf. eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 in geltender Fassung verübt habe. War aber die (Tat-)Beurteilung als Verwaltungsdelikt vertretbar und lag - wie hier - infolge Betretung auf frischer Tat und Verweigerung der Ausweisleistung (unter den näheren Voraussetzungen des §35 lita VStG 1950) - der Verdächtige war dem Polizeibeamten unbekannt, seine Identität auch sonst nicht sofort feststellbar - der von der Behörde geltend gemachte Festnehmungsgrund vor, entsprach die bekämpfte Amtshandlung dem Gesetz.
2.1.2.4.2. Unter den obwaltenden Verhältnissen gibt es auch keine zureichenden Anhaltspunkte dafür, daß die verwaltungsbehördliche Haft des Bf. gesetzwidrig verlängert worden sei: Nach §36 Abs1 VStG 1950 ist jeder Festgenommene "unverzüglich der nächsten sachlich zuständigen Behörde zu übergeben, oder aber, wenn der Grund der Festnehmung schon vorher entfällt, freizulassen."
Diesem Gebot entsprach die bel. Beh., weil der Bf. nach der mit der gebotenen Beschleunigung vor sich gehenden Ermittlung und Feststellung seiner Identität - gesamte Haftzeit: 20 Minuten - ohne überflüssige Verzögerung auf freien Fuß gesetzt wurde.
2.1.3. Demgemäß wurde der Bf. - durch seine polizeiliche Festnahme und Anhaltung - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nach Art8 StGG iVm. Art5 MRK nicht verletzt.
2.1.4. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde im bisher erörterten Umfang - da die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder ausdrücklich behauptet wurde noch im Verfahren hervorkam und verfassungsrechtliche Bedenken gegen die den bekämpften Verwaltungsakten zugrundeliegenden Rechtsvorschriften nicht entstanden - als unbegründet abzuweisen (Punkt I. des Spruchs).
2.2. Zu den übrigen Beschwerdepunkten
2.2.1. Was das weitere Beschwerdevorbringen zum Grundrecht nach Art3 MRK (Behauptung von "An-die-Wand-Drücken" und "Würgen") anlangt, so sieht sich der VfGH in Prüfung und Würdigung aller Ergebnisse des abgeführten Beweisverfahrens außerstande, den entsprechenden Behauptungen des Bf. uneingeschränkt beizutreten und die in der Beschwerdeschrift angegebenen (versuchten) vorsätzlichen Mißhandlungen als zweifelsfrei erwiesen anzusehen. Es stehen hier Aussagen gegen Aussagen: Auf der einen Seite die Parteiaussage des Bf. und insbesondere die seine Darstellung - teilweise - stützende Aussage des Zeugen K H, auf der anderen Seite die Angaben der Sicherheitswachebeamten, die jede (auch nur versuchte) Mißhandlung teils ausdrücklich, teils der Sache nach in Abrede stellen. (Gegen den Bf. und die betroffenen Wachebeamten B W und K F bei der Staatsanwaltschaft Wien (zu 33 St 36.261/85) erstattete Anzeigen wurden allesamt mangels Täterschaft bzw. strafbaren Tatbestandes gemäß §90 StPO zurückgelegt).
2.2.2. Abschließend bleibt also festzuhalten, daß - angesichts der konkreten Sachlage, so auch im Blick auf das bereits geschilderte Schicksal der Strafanzeige gegen die verdächtigten Sicherheitswachebeamten - (auch) im verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren eine hinreichende Klärung der maßgebenden Vorfälle und damit ein Nachweis der behaupteten Mißhandlungen nicht möglich war. Die Beschwerde war daher - in diesem Umfang - mangels eines tauglichen Beschwerdegegenstandes als unzulässig zurückzuweisen (Punkt II. des Spruchs).
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Verwaltungsstrafrecht, Benehmen ungestümes, FestnehmungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1986:B316.1985Dokumentnummer
JFT_10138872_85B00316_00