TE Vfgh Erkenntnis 1986/11/28 B297/86

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.11.1986
beobachten
merken

Index

44 Zivildienst
44/01 Zivildienst

Norm

ZivildienstG §2 Abs1
ZivildienstG §6 Abs2

Leitsatz

ZDG; auf die Beschaffenheit des der Ablehnung von Waffengewalt vorausgegangenen Bewußtseinsbildungsprozesses, der zu den Gewissensgründen iS des §2 Abs1 führt, kommt es nicht an; hier entscheidungswichtiger Rechtsirrtum dadurch, daß den Gewissensgründen - weil angeblich in einem ungenügenden und unzulänglichen Entscheidungsprozeß entstanden - rechtliche Relevanz, zumindest jeglicher Bescheinigungswert abgesprochen wird; Verletzung des in §2 Abs1 verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechtes auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung

Spruch

Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Mit Bescheid der Zivildienstkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDK), Senat 2, vom 25. Juli 1985, Z 139.641/1-ZDK/2/85, wurde der von C P D - unter Bezugnahme auf §2 Abs1 Zivildienstgesetz, BGBl. 187/1974 (ZDG) - gestellte Antrag auf Befreiung von der Wehrpflicht - nach mündlicher Verhandlung - gemäß §2 Abs1 iVm. §6 Abs1 ZDG abgewiesen.

1.1.2. Der dagegen von C P D erhobenen Berufung wurde mit Bescheid der Zivildienstoberkommission beim Bundesministerium für Inneres (ZDOK), Senat 2, vom 20. Dezember 1985, Z 139.641/2-ZDOK/2/85, gleichfalls nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß §66 Abs4 AVG 1950 nicht Folge gegeben.

1.2.1. Gegen diesen Bescheid der ZDOK richtet sich die vorliegende, auf Art144 (Abs1) B-VG gestützte Beschwerde des C P D an den VfGH; der Bf. beruft sich darin ua. auf die Verfassungsbestimmung des §2 Abs1 ZDG und begehrt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.

1.2.2. Die ZDOK als bel. Beh. legte die Verwaltungsakten vor und verzichtete auf die Erstattung einer Gegenschrift.

2. Über die - zulässige - Beschwerde wurde erwogen:

2.1.1. Die Verfassungsbestimmung des §2 Abs1 ZDG besagt, daß Wehrpflichtige iS des Wehrgesetzes 1978, BGBl. 150, auf ihren Antrag (und zwar nach Maßgabe des §5 Abs1 und 3 ZDG, der das Antragsrecht - in hier allerdings unerheblicher Weise - beschränkt) von der Wehrpflicht zu befreien sind, wenn sie es - von Fällen der persönlichen Notwehr oder Nothilfe abgesehen - aus schwerwiegenden, glaubhaften Gewissensgründen ablehnen, Waffengewalt gegen andere Menschen anzuwenden und daher bei Leistung des Wehrdienstes in schwere Gewissensnot geraten würden; sie sind zivildienstpflichtig. Der VfGH vertritt in seiner mit VfSlg. 8033/1977 eingeleiteten ständigen Rechtsprechung die Auffassung, daß diese Vorschrift das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung beinhaltet (s. auch VfSlg. 9391/1982, 9785/1983, 9839/1983, 9840/1983, 9842/1983, 9971/1984, 9985/1984, 10021/1984).

2.1.2. Dieses Grundrecht wird nach der ständigen Judikatur des VfGH nicht bloß dadurch verletzt, daß die Behörde die im §2 Abs1 ZDG umschriebenen materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Wehrpflichtbefreiung unrichtig beurteilt; eine solche Verletzung ist - da sich der Schutzumfang des Grundrechtes auf die für den Nachweis der Voraussetzungen maßgebende Vorgangsweise der Glaubhaftmachung (Bescheinigung) miterstreckt - auch dann gegeben, wenn der Behörde wesentliche Verstöße in diesem verfahrensrechtlichen Bereich unterlaufen oder wenn sie dem Antragsteller überhaupt die Möglichkeit nimmt, das Zutreffen der materiellen (Befreiungs-)Bedingungen glaubhaft zu machen (vgl. zB VfSlg. 8787/1980, 9362/1982, 9785/1983, 9946/1984, 9970/1984, 9989/1984, 9990/1984, 10021/1984, 10053/1984, 10056/1984), woran sich auch durch die ZDG-Nov. BGBl. 496/1980 nichts änderte (vgl. zB VfSlg. 9549/1982, 9573/1982, 9785/1983, 9839/1983, 9840/1983, 9842/1983, 9985/1984).

2.2.1. In der Begründung des angefochtenen Bescheides heißt es ua.:

"... Gegen ein echtes Interesse an der Sache sprach auch, daß sich der Antragsteller mit den Argumenten der österreichischen Bischöfe und des Papstes zum Verteidigungskrieg nicht befaßte. Gewiß vermögen amtskirchliche Aussagen das Gewissen des einzelnen Gläubigen nicht zu binden; einer Gewissensbildung vorgelagert ist aber eine gründliche Befassung mit den jeweiligen Sachfragen, weil nur dann das Für und Wider gewertet und gewogen werden kann. Kennt man aber die Argumente der 'Gegenseite' nicht, dann können diese in die Überlegungen und Abwägungen nicht einbezogen werden, welche Unvollständigkeit die Möglichkeit offen läßt, die betreffende Gewissensentscheidung wäre vielleicht anders ausgefallen, hätten sämtliche wesentliche Prämissen gebührende Beachtung gefunden. Daß es sich aber bei lehramtlichen Äußerungen der Amtskirche um für den gläubigen Katholiken wichtige Argumente handelt, die bedacht und geprüft sein wollen, bedarf keiner weiteren Einlassung. ..."

2.2.2. Wortlaut und Sinngehalt des §2 Abs1 ZDG lassen nun nicht im geringsten zweifeln, daß die erste Befreiungsvoraussetzung dieser Verfassungsnorm nur darauf abstellt, ob der auf Befreiung von der Wehrpflicht antragende Wehrpflichtige die Anwendung von Waffengewalt (gegen andere Menschen) tatsächlich aus "schwerwiegenden, glaubhaften Gewissensgründen" ablehnt. Entscheidend ist hier also einzig und allein die Frage, ob die in Rede stehende Ablehnung auf derartigen Gewissensgründen beruht; auf die Beschaffenheit des (vorausgegangenen) Bewußtseinsbildungsprozesses, der letztlich zu diesen Gewissensgründen führte, kommt es nicht an. Die belangte ZDOK verfiel daher einem - entscheidungswichtigen - Rechtsirrtum, wenn sie dem Bf. im angefochtenen Bescheid entgegenhielt, die Gewissensentscheidung wäre bei gebührender Beachtung aller Prämissen - gemeint namentlich: die Argumente der "Gegenseite" - "vielleicht anders ausgefallen". Denn die Berufungsbehörde läßt damit durchaus offen, daß der Bf. aus schwerwiegenden, glaubhaften Gewissensgründen handelte; sie spricht aber solchen Gründen - weil ihrer Überzeugung nach in einem ungenügenden und unzulänglichen Entscheidungsprozeß entstanden - jede rechtliche Relevanz, zumindest aber jeglichen Bescheinigungswert ab, eine - den bekämpften Bescheid in wesentlichen Punkten (mit-)tragende - Auffassung, die nach dem eingangs Gesagten verfassungswidrig ist.

2.3. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die bel. Beh. den Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Befreiung von der Wehrpflicht zwecks Zivildienstleistung verletzte, sodaß der angefochtene Bescheid aufzuheben war.

Bei diesem Ergebnis erübrigte es sich, auf das Beschwerdevorbringen selbst noch weiter einzugehen.

Schlagworte

Zivildienst, Bescheidbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1986:B297.1986

Dokumentnummer

JFT_10138872_86B00297_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten