Index
10 VerfassungsrechtNorm
MRK Art5Leitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; StGG Art8; MRK Art5; zwar nicht individuell ausgesprochene, sondern an eine Gruppe und damit erkennbar auch an die Bf. gerichtete Abmahnung iS des §35 litc VStG 1950; jedoch kein Nachweis für das Begehen einer strafbaren Handlung und deren Fortsetzung nach der Abmahnung; Festnahme in §35 litc VStG 1950 nicht gedeckt; Verletzung im Recht auf persönliche FreiheitSpruch
Die Bf. ist am 26. Oktober 1985 in Wien durch ihre von Organen der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in (Verwaltungs-)Haft im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. E I Z behauptet in ihrer mit Berufung auf Art144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde, am 26. Oktober 1985 in Wien von Organen der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und angehalten worden zu sein, obgleich hiefür keine gesetzliche Grundlage bestanden habe; sie sei zu Unrecht verdächtigt worden, ordnungsstörend an einer Demonstration teilgenommen zu haben. Die Bf. macht geltend, durch diese Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm. Art5 MRK) verletzt worden zu sein und begehrt, diese Rechtsverletzung kostenpflichtig festzustellen.
2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Antrag stellt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen und die Bf. zum Ersatz der Verfahrenskosten zu verpflichten.
II. Über die Beschwerde wurde erwogen:
1. Der VfGH stellt, gestützt auf den Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der Bundespolizeidirektion Wien, Pst 24.954/S/85, und das damit übereinstimmende Parteienvorbringen, folgenden Sachverhalt als erwiesen fest:
Am 26. Oktober 1985 fand zwischen etwa 11.30 Uhr und 12.00 Uhr in Wien 1., eine vom Bundespräsidenten abgenommene Parade des Bundesheeres statt. Die Verbände marschierten von der Universitätsstraße über den Rathausplatz zum Schmerlingplatz.
Um etwa 11.40 Uhr drängten sich etwa 25 Personen durch den aus den Zuschauern gebildeten Kordon, warfen Flugblätter und riefen Parolen; einige von ihnen setzten sich auf die Fahrbahn und brachten so das Defilee kurzfristig zum Stehen. Das Anliegen der Manifestanten war es, für das Volksbegehren gegen den Ankauf von Abfangjägern und gegen die Aufrüstung zu werben.
Über diese Vorfälle äußerten Zuschauer zT erregten Unmut. Einschreitende Sicherheitswachebeamte versuchten, die auf der Fahrbahn sitzenden Personen auf den Gehsteig zu heben; die Beamten umringten schließlich die Manifestanten und forderten sie durch allgemeine Zurufe auf, ihr ordnungsstörendes Verhalten einzustellen. Als diese Abmahnungen wirkungslos blieben, sprach um 11.47 Uhr der leitende Sicherheitswachebeamte die Festnahme von 13 Personen aus, die sich in dem von Sicherheitswachebeamten gebildeten Kreis befanden; darunter war auch die Bf. Die Festnahmen erfolgten erkennbar in erster Linie wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 gemäß §35 litc VStG 1950. Die Bf. wurde in der Folge bis 16.25 Uhr dieses Tages in (Polizei-)Haft gehalten.
Das gegen die Bf. ua. wegen Verdachtes der Ordnungsstörung eingeleitete Verwaltungsstrafverfahren wurde am 28. Jänner 1986 gemäß §45 Abs1 lita VStG 1950 von der Bundespolizeidirektion Wien eingestellt, da im Zweifel zugunsten des Beschuldigten zu entscheiden sei.
2. Gemäß Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Unter diese Verwaltungsakte fallen die Festnehmung und anschließende Verwahrung von Personen (s. zB VfSlg. 10848/1986 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur).
Folglich ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, zulässig.
3. a) Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. auch hiezu die soeben zitierte Rechtsprechung).
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.
§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz, doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten (Anwendungs-)Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung zu Schulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. die oben zitierte Judikatur).
Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.
b) Zu einer solchen, in §35 litc VStG 1950 vorausgesetzten "Abmahnung" kam es hier: Zwar wurde nicht jeder Störer individuell - für sich allein - abgemahnt. Die einschreitenden Sicherheitswachebeamten richteten ihre nach Lage des Falls unmißverständlichen Abmahnungen vielmehr an die gesamte Gruppe der an Ort und Stelle anwesenden Manifestanten. Sie brachten dabei - zieht man namentlich ihre vorausgegangenen langwierigen Bemühungen, die Menge durch Zureden und Ermahnungen zu beruhigen, sowie die vorangegangene Einkreisung dieser Leute durch Sicherheitswachebeamte in Betracht - deutlich genug zum Ausdruck, daß alle diese Personen angesprochen wurden; es besteht unter den obwaltenden Verhältnissen auch kein vernünftiger Zweifel daran, daß die Manifestanten diese Abmahnung verstanden und (auch) auf sich bezogen.
Dennoch ist die anschließende Festnehmung der Bf. allein schon aus folgenden Überlegungen gesetzlich nicht gedeckt: Zwar schließt es §35 litc VStG 1950 nicht aus, daß die Abmahnung und die Festnahme (wegen ein- und derselben Tat) von verschiedenen Organwaltern ausgesprochen werden, wenn diese behördlichen Maßnahmen - wie hier - zeitlich und örtlich engstens zusammenhängen (s. zB VfSlg. 10848/1986 und die dort angeführte weitere Vorjudikatur).
Die Bundespolizeidirektion Wien führt in ihrer Gegenschrift aber - gedeckt durch den Inhalt des vorgelegten Administrativaktes - aus, es stehe fest, daß damals Personen auf der Fahrbahn gesessen seien und die Parade des Bundesheeres unterbrochen hätten. Sodann heißt es in der Gegenschrift:
"Allerdings bestreitet E I Z, unter diesen Störern gewesen zu sein. Dem kann als Beweismittel nichts anderes entgegengehalten werden, als die Gewißheit, die Beschwerdeführerin habe sich unter jenen Personen befunden, die nach der stattgefundenen Ortsveränderung in dem Kreis der Beamten standen."
Unter diesen Umständen bleibt offen, ob die Bf. überhaupt eine strafbare Handlung begangen hat und ob sie diese nach der Abmahnung fortsetzte. Das wäre jedoch unabdingbare Voraussetzung einer rechtmäßigen Festnahme nach §35 litc VStG 1950, auf welche Vorschrift sich die bel. Beh. zur Rechtfertigung ihrer freiheitsbeschränkenden Maßnahme gestützt und berufen hatte.
c) Da die polizeiliche Festnahme und Anhaltung der Bf. im Gesetz nicht gedeckt ist, wurde sie durch diese Maßnahmen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nach Art8 StGG iVm. Art5 MRK verletzt.
Schlagworte
Verwaltungsstrafrecht, FestnehmungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1986:B891.1985Dokumentnummer
JFT_10138872_85B00891_00